Teasergrafik Altpapier vom 22. Februar 2021: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 22. Februar 2021 Ein FDP-Mann sieht grün

22. Februar 2021, 13:04 Uhr

Werden die Lottozahlen mit mehr Emotionen verkündet als die Zahl der tagesaktuell gemeldeten Pandemie-Toten? Warum schreiben deutsche Journalisten so eifrig über Personalentscheidungen bei der New York Times? Warum springen die Kritiker der Öffentlich-Rechtlichen so gern auf deren Instagram-Accounts an? Ein Altpapier von René Martens.

Vom Umgang mit den Pandemie-Toten

Covid-19 hat mittlerweile mehr US-Amerikaner das Leben gekostet als der Erste und der Zweite Weltkrieg und der Vietnamkrieg zusammen genommen, und aus diesem Anlass hat die New York Times am Sonntag die Hälfte ihrer Titelseite für eine grafische Darstellung dieser Zahl genutzt. Die Times erklärt dazu:

"In the graphic, each of the nearly 500,000 individual dots represents a life lost in the United States to the coronavirus."

Und:

"The final product is the latest of several graphics-heavy front pages over the past year that have chronicled not just the pandemic but also the economic, social and political crises that have burdened the country."

Eine der früheren Visualisierungen ist hier zu sehen. Nun gibt es zwar auch in Deutschland entsprechende gute Beispiele (beim Tagesspiegel, siehe Altpapier). Generell gilt für den medialen Umgang mit den Zahlen der Pandemie-Toten hier zu Lande aber, was Mira Landwehr im ND schreibt:

"(D)ie Toten kommen in den Medien bisher überwiegend abstrakt als Zahlen in einer Statistik vor. In knappen Worten werden 'die Zahlen' mit weniger Emotion verlesen als die Lottoergebnisse. Und je mehr es werden, desto stiller wird es in den Medien - die Gesamtzahl der Gestorbenen muss man inzwischen immer öfter selbst recherchieren, sofern nicht gerade eine berichtenswerte traurige neue Anzahl erreicht ist."

Wie zur Bestätigung letzterer Passage, fehlte in der gestrigen 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" sogar die Zahl der aktuell gemeldeten neuen Todesfälle.

Der Begriff "Studie" ist nicht geschützt

Das große Thema im Freitag-Altpapier war die sogenannte Studie eines Wissenschaftlers der Uni Hamburg, zu dessen Fachgebieten nicht die Virologie gehört, der aber dennoch zum Thema Ursprung des Coronavirus auf dicke Backen bzw. auf dicke Hose machte - und von einigen Pressemitteilungsabschreibern in den hiesigen Redaktionen profitierte.  

Zeit Online hat mit Juliane Lischka gesprochen, Professorin für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an eben jener Uni, bei der auch der Pseudoexperte in Lohn und Brot steht:

"Schon in den ersten Sitzungen eines solchen Seminars lernen Studierende, was eine Desinformation ist. Zum Beispiel, eine Meinung und eine wissenschaftliche Studie – beziehungsweise Fakten generell – nicht zu trennen. In dem Fall, den wir hier haben, wird eine Meinung als wissenschaftliche Studie deklariert und für die Verbreitung dieser Meinung die Legitimität der Universität und des Professors ausgenutzt."

Stefan Niggemeier (Übermedien) schreibt:

"Die 'Studie' folgt zwar keiner wissenschaftlichen Methode, aber das Wort ‚Studie‘ ist so wenig geschützt ist wie das Wort 'Journalismus'.

Und Hanno Charisius kommentiert in der SZ unter der Überschrift "Das Märchen aus Hamburg", die "Auseinandersetzung" mit diesem "Machwerk" sei "reine Energieverschwendung". Weitere Einschätzungen zu dem Märchenerzähler von der Uni Hamburg gibt es beim Spiegel und beim Faktenfinder.

Die New York Times als Projektionsfläche

Was die eingangs schon erwähnte New York Times angeht, beschäftigen sich deutsche Journalisten ja vergleichsweise selten mit deren Visualisierungsleistungen, dafür aber reichlich mit Personalgedöns, vor allem Cancel-Culture-Gläubige sind da eifrig bei der Sache (siehe dazu bereits ein Altpapier aus dem Juli). Anne Fromm in der taz dazu:

"'Können wir endlich aufhören, wie besessen jede Personalentscheidung der New York Times zu diskutieren?', fragte das US-Magazin New Republic gerade. Wenn sich US-Journalisten das fragen, kann man diese Frage hierzulande erst recht stellen."

Eine indirekte Antwort liefert unter der Headline "Wie die berühmteste Zeitung der Welt zu einem Haus der Angst wurde" eine aktuelle Spiegel-Geschichte über die New York Times (€):

"Seit einigen Jahren (…) drängt (dort) eine neue Generation in den Newsroom, die (…) geprägt ist von der Erregungsbereitschaft in den sozialen Medien."

Wenn von "Angst" bei der New York Times die Rede ist, ist nämlich eher die eigene Angst gemeint - die Angst der René Pfisters dieser Welt vor der "neuen Generation", die es anders machen will als sie. Die Angst, Pfründe zu verlieren, die Angst, eigene journalistische Herangehensweisen in Frage stellen zu müssen. Die Times als Projektionsfläche.

Anne Fromm kommt - wie Pfister, aber mit einer anderen Tendenz - auch auf den Fall des kürzlich ausgeschiedenen Wissenschaftsredakteurs Don Mc Neil (siehe Altpapier) zu sprechen:

"Was der Fall von McNeil auch zeigt, ist, wie reflexartig (die) Debatten verlaufen. Das größte Vergehen, das McNeil vorgeworfen wird, ist, dass er "the N-Word" ausgesprochen habe. Es war so wichtig, dass McNeils Entschuldigung sich auch fast ausschließlich um die Verwendung dieses Wortes drehte."

Aber:

"Ein anderer Satz, den McNeil während der Studienreise gesagt haben soll, geht in der Berichterstattung über den Fall völlig unter. Dabei ist er viel problematischer. Ben Smith, der Medienkolumnist der Times, zitiert ihn aus der Erinnerung einer Teilnehmerin der Reise. McNeil soll gesagt haben: "Es ist frustrierend, dass Schwarze Amerikaner weiter das System beschuldigen. Aber Rassismus ist vorbei. Niemand hält Schwarze mehr zurück, sie können aus ihren Ghettos herauskommen, wenn sie es nur wollen." McNeil selbst hat sich zu diesen Aussagen bisher nicht öffentlich geäußert."

Fromms Fazit: Wenn McNeil diese "Rassismus ist vorbei"-Äußerung tatsächlich gemacht hat, "ignoriert er damit nicht nur das Nachrichtengeschehen, das seine Zeitung täglich abbildet. Er zieht auch sämtliche wissenschaftliche Erkenntnisse in Zweifel." Und das "als Wissenschaftsredakteur".

Bizarre Kritik am WDR

Ob es Ziel führend ist, in kritischer Absicht hanebüchene Äußerungen aufzugreifen, weil jede Art der Verbreitung immer auch eine Aufwertung bedeutet - diese Frage muss man sich beim Schreiben dieser Kolumne sehr, sehr oft stellen. Was eine aktuelle Wortmeldung des keineswegs niederrangigen FDP-Politikers Alexander Lambsdorff betrifft, habe ich mich heute fürs Verbreiten entschieden.

Lambsdorff twittert, er finde es "unglaublich", dass der WDR "7 Monate vor (der) #Bundestagswahl einen Kanal als Wahlkampfhilfe für @Die_Gruenen" starte. Auch Florian Hahn (CSU) - ebenfalls kein Troll von der letzten Bank, sondern stellvertretender Generalsekretär - hat diese Platte aufgelegt. Die ARD finanziere "Wahlkampfunterstützung für die Grünen", sagt er.

Es geht wohlgemerkt um einen neuen Instagram-Account des WDR: klima.neutral. Schauen wir uns doch mal an, was dort auf textlicher Ebene passiert: Samira (die beteiligten Journalisten werden hier ohne Nachnamen vorgestellt) fragt zum Beispiel:

"Wusstet ihr, dass Milliarden von Menschen aktuell keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben?"

Klar, das klingt für FDP- und CSU-Leute wahrscheinlich nach einem Aufruf zur Weltrevolution.

Samira sagt auch:

"Mir ist es wichtig, Geschichten aus allen Lebensrealitäten zu erzählen. Wie geht es Menschen, die durch die Klimakrise ihr Zuhause oder ihren Job verlieren? Was sagen Leute, die ihr Auto brauchen und niemals darauf verzichten würden? Solche Perspektiven möchte ich verstehen und mit euch teilen. Denn genau aus dem Grund bin ich Journalistin geworden!"

Offenbar springen Kritiker der Öffentlich-Rechtlichen gern auf Instagram an. In ihrer Bizarrheit erinnert die Äußerungen Lambsdorff und Hahns jedenfalls an einen Tweet eines CDU-Mannes aus Sachsen-Anhalt, der im vergangenen Sommer ein bei Instagram veröffentlichtes Comedy-Video des ZDF als "gebührenfinanzierten Hass auf Polizisten" einstufte (Altpapier).

Die Tweets der FDP- und CSU-Politiker führen nun auch unter anderem  dazu, dass der WDR-Redakteur Jürgen Döschner (Altpapier), den die Hierarchen des Senders nicht sehr schätzen, weil seine (Döschners) klima- und energiepolitikkritischen Positionen den Burgfrieden mit der nordrhein-westfälischen Landesregierung stören, den Klima-Journalismus des WDR verteidigt.

Einen Welt-Gastbeitrag dürften sich Lambsdorff und Hahn mit ihren Tweets jedenfalls redlich verdient haben.

Der NDR gibt Rätsel auf

In Strukturreformstimmung ist gerade die Führungsspitze des NDR. Die bisherigen Programmdirektoren Frank Beckmann (Fernsehen) und Katja Marx (Hörfunk), so die Planungen, sollen künftig nicht mehr für ihre angestammten Bereiche zuständig sein. Vielmehr werden die Zuständigkeiten nach Themen und Sendungen aufgeteilt. Dass diese Aufteilung erratisch wirkt und in der Belegschaft "Sorgen und Ängste, aber auch Verärgerung" hervorruft, habe ich für die taz grob skizziert

So soll die renommierte Abteilung Innenpolitik auseinander gerissen werden. In Katja Marx’ Zuständigkeitsbereich fallen nach den bisherigen Planung künftig "Panorama" und "Panorama 3" und das Investigativressort des NDR, in Frank Beckmanns dagegen "Panorama - die Reporter" und der "Panorama"-Ableger "STRG_F" (funk) sowie das Medienmagazin "Zapp". Vier Sendungen einer "Familie" ("Panorama" in diesem Fall) bei zwei verschiedenen Programmdirektoren - man hat in der wundersamen Welt der ARD ja schon allerlei gesehen, aber diese Idee toppt vieles.

In Sachen crossmediale Programmdirektion ist der NDR innerhalb der ARD ein Nachzügler, andere Anstalten haben längst eine – mit unterschiedlichen Zuschnitten. Dass der NDR diesen Schritt noch machen würde, war schon sehr lange klar.

Vor diesem Hintergrund fragt man sich, warum Anfang 2020 als Nachfolgerin für den auf den Intendantensessel gehobenen Radiomann Joachim Knuth mit Katja Marx überhaupt noch eine Hörfunkdirektorin eingestellt werden musste - wenn doch allen an dieser Entscheidung Beteiligten klar war, dass es in absehbarer Zeit den Posten eines Programmdirektors für Hörfunk gar nicht mehr geben wird. Der weise NDR-Verwaltungsrat wird’s wissen.


Altpapierkorb (Marie Ressa über Facebook, Werder-Bremen-Berichterstattung, SR-Intendantenwahl)

+++ Facebook hat 2016 nicht nur die Wahl Donald Trumps und den Brexit möglich gemacht, sondern davor bereits dazu beigetragen, dass auf den Philippinen der Autokrat Rodrigo Duterte an die Macht kommen konnte. Darauf hat die philippinische Journalistin Maria Ressa (Altpapier) bereits vielerorts hingewiesen, ich habe das etwa Mitte vergangenen Jahres in einem Medienkorrespondenz-Text erwähnt. Dieser Aspekt ist auch ein Thema in einem in der Wochenend-SZ erschienenen Interview mit Ressa. Auf eine Bemerkung der Interviewer Frederik Obermaier und Bastian Obermayer ("Sie sagten einmal, dass Sie ein Abrutschen in den Faschismus fürchten, sollten Häuser wie Facebook nicht bald reagieren"), sagt Ressa: "Daten zeigen, dass sich die Regierung Facebook zunutze gemacht hat. Und Facebook ist sich dessen bewusst. Nur durch Facebook war diese Machtkonsolidierung, der Wandel, ja: der Tod der Demokratie hierzulande erst möglich. Ich kämpfe, weil die sozialen Medienplattformen, die mit idealistischen Ansichten über die Stärkung der Bürger begonnen haben, jetzt genau die Werkzeuge sind, die für den Aufbau faschistischer Regierungen eingesetzt werden."

+++ Bei der Berichterstattung über Werder Bremen gibt es in Bremen und im Umland herum eine Art Oligopol. Das sagt auch grundsätzlich etwas aus über die Entwicklung im Regionalzeitungsmarkt. Ich habe für die Wochenend-taz darüber geschrieben.

+++ Heute wählt der Rundfunkrat des SR einen neuen Intendanten. Die FAZ stimmt uns darauf ein. Die Saarbrücker Zeitung referiert aus Anlass der Wahl eine Presseerklärung der saarländischen Grünen, die die mangelnde Staats- und Parteienferne der SR-Gremien (Altpapier, Altpapier) kritisieren. Demnach dürfe "für die Besetzung der Intendanz allein die fachliche und persönliche Eignung der Kandidat*in entscheidend sein, und nicht die Nähe zu einer politischen Partei".

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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