Teasergrafik Altpapier vom 16. März 2021: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 16. März 2021 Fortschritte können auch wieder verloren gehen

16. März 2021, 11:15 Uhr

Die "Cloud", aus der das meiste Internet kommt, ist ein wenig abgebrannt. Der Wahlkampf geht gerade erst los und schon hagelt es Begriffe von "Debakel", "Desaster" bis "Staatsversagen". Wird Facebook ab Mai nicht mehr "intermediär" oder "soziales", sondern ein ganz normales Medium sein? Ein Altpapier von Christian Bartels.

Die Cloud, das Spiel "Rust" und ein brennendes Rechenzentrum

Wir sind zwar keine Perlentaucher, aber zum Start heute mal klassisches Feuilleton, das Aktualität ums Internet mit humanistischem Mehrwert aus Jahrtausenden Menschheitsgeschichte verknüpft:

"Ist es möglich, dass die 'Cloud' in Flammen aufgeht wie einst Troja oder die Götterburg Walhall?"

Okay, das war eine recht rhetorische Frage, die Niklas Maak gleich anschließend verneint. Doch wie sein Artikel, der am Samstag im FAZ-Feuilleton stand und unter der Online-Überschrift "Am Rhein brennt Europas Datenschatz" ins Netz ging, eine sonst allenfalls unter ferner liefen vermeldete Begebenheit, den Großbrand in einem riesigen Rechenzentrum, mit onlinemedialen und ökologischen Aspekten verbindet, verdient Aufmerksamkeit:

"Die Rauchsäule im Herzen des Internet wirkt wie das Symbolbild eines Epochenbruchs – des schwierigen Übergangs von der Kultur des Verbrenners zum Elektrozeitalter, vom Fossilen um Immateriellen, vom rußigen Schmutz der Druckerschwärze und Auspuffrohre, von der dreckigen Wärme der Kamine und Zigaretten zum eisigen Leuchten der kalten, glatten Bildschirme. Das Bild vom brennenden Internet am Rhein könnte ikonisch werden, weil es die Physikalität und die tatsächliche Verletzlichkeit der rhetorisch in den Stand einer unangreifbaren, virtuellen Naturgewalt erhobenen Datenspeicher-Technologie, des Internets überhaupt, vor Augen führt."

Wobei dieses potenziell ikonische Bild nicht allein in schriftlichen Worten beschrieben wird (die u.a. auch thematisieren, dass der Begriff der "Cloud" auch ein schwieriger, von Konzernen mehr oder weniger in die Umgamgssprache gedrückter ist), sondern überm Artikel auch zu sehen ist. Außerdem spielen ökonomische Aspekte (dass der Brand "ausgerechnet zu einem Zeitpunkt kommt", an dem das französische Unternehnmen OVHcloud "seine Pläne für einen Börsengang bekanntgegeben" hatte) hinein. Und Entertainment! Am betroffensten unter mehreren, vor allem französischen Kunden des Dienstleisters waren Gamer, also Computerspieler, die das Survivalspiel "Rust" spielen, in dem man "sich durch eine dystopische Landschaft kämpfen" muss, wie die Aktualisierung des Artikels auf der heutigen FAZ-Medienseite (75 Cent bei Blendle) beziffert. Insgesamt seien "etwa 3,6 Millionen Websites ... zeitweilig vom Netz" gegangen. Wer "Rust" spielte, kann zwar inzwischen wieder weiter spielen, doch:

"'Aller Spielfortschritt ist verloren.' Für 'Rust'-Spieler, die online im Verbund mit anderen Spielern in einer offenen Spielwelt vermittels Jagd, Ressourcen-Abbau und Basis-Konstruktion ums Überleben kämpfen, kann das den Verlust vieler Spielstunden und hart erarbeiteter Erfolge bedeuten."

Was vielleicht das allerstärkste Bild ist. Sind womöglich, gerade jetzt oder ohnehin, allerhand Fortschritte, die die Menschheit sich erkämpfte (oder erspielte), wieder verloren gegangen? Wir sind ja auch keine philosophische Kolumne ...

Die "Staatsversagen"-Frage und der anlaufende Wahlkampf

Im letzten Satz geht der Maak-Artikel mit den eher schnöden Argumenten, dass "Daten das neue Gold sind und das Funktionieren des Staats vom Zugriff auf sie abhängt", in die schnöde Echtzeit über. Das ließe sich beinahe übertrieben finden: Der Staat funktioniert derzeit ja allenfalls mittelgut. Oder noch schlechter?

Unter der schönen Überschrift "Das Schimpfdesaster" befasst sich bei uebermedien.de Christian Meier – nicht der gleichnamige Welt-Redakteur, sondern der im Autorenkasten dann mit Binnen-J. vorgestellte "Riffreporter"  – mit den sich in den zahlreichen medialen Diskussionen häufenden "verbalen Bazookas" à la "Impfdesaster" und "Staatsversagen". Meier nennt und verlinkt viele Beispiele und führt auch gute Argumente auf. Besonders scharf kritisiert er Sascha Lobo für dessen spiegel.de-Kolumne "Staatsversagen in der Pandemie", die freilich auch viele gute Argumente enthielt.

Es gibt in der endlos erscheinenden Pandemie zunehmend unterschiedliche Perspektiven, während gemeinsame Nenner abnehmen und immer neue "Inzwischen"-Stände dazukommen. Meier konnte, zum Zeitpunkt des Schreibens und der Veröffentlichung selbstverständlich zurecht, noch argumentieren: "Inzwischen hat Deutschland laut RKI über eine Million Astrazeneca-Impfdosen geräuschlos verimpft". Was inzwischen, seit Montagnachmittag, ja wieder nicht mehr so gilt und gleich weitere "Desaster"/"Debakel"-Überschriften nach sich ziehen, die auch nur auffallen, wenn man drauf achtet.

Spätestens am Wochenende wurde die "Staatsversagen"-Frage ja auch zum Topthema im anlaufenden Wahlkampf ums zweitgrößte Parlament der Welt, den Deutschen Bundestag. Hier immerhin lässt sich aktuell auch mal was Positives vermelden: Lob – und zwar für die ARD. "Wahlberichterstattung, die Wegschalten unmöglich macht", schreibt die SZ heute zu den Sendungen am Sonntag und lobt besonders "die knallharte Moderation von Birgitta Weber".

Kleine These am Rande dazu: Vielleicht lief diese ARD-Wahlsendung tatsächlich vergleichweise gut, weil zwar gleich zwei Bindestrich-Bundesländer gewählt hatten, aber nur eine ARD-Anstalt berichtete, die nämlich für genau diese beiden Bundesländer schon fusioniert hat. Womöglich sollte sich der Saarländische Rundfunk das unter dem Aspekt noch mal anschauen ... Zurück zu den größeren Themen!

Macht "Facebook News" aus Facebook ein normales Medium?

Was ziemlich oft vorkommt, wenn es um Energieverbrauch digitaler Geräte und vermeintlich geräteloser Phänomene wie der "Cloud" geht, sind Ländervergleiche: "Wäre das Internet ein Land, käme es in den Disziplinen Stromverbrauch und Klimagasemission direkt nach den Vereinigten Staaten und China", steht im eingangs verlinkten FAZ-Artikel. Dabei handelt es sich beim Internet keineswegs um ein Land, sondern um mehrere rivalisierende Großmächte.

"Die monopolistischen US-Internetkonzerne sind inzwischen so groß und mächtig wie Staaten, und das Selbstbewusstsein ist noch größer. Verhandelt wird nicht mehr mit anderen Unternehmen oder Verlagen, sondern mit Staaten – und auch nicht auf Augenhöhe."

Das sagte der Chef des Burda-Verlags, Paul-Bernhard Kallen, im Interview mit dem SZ-Wirtschaftsressort (€). Vor allem geht es da um das im Mai anlaufende Projekt "Facebook News", bei dem ja "mehr als 100 Medienmarken" aus Deutschland bezahlt mitzumachen ankündigten (Altpapier). Burdas Marken à la Focus und Bunte machen allerdings nicht mit. Und Kallen interpretiert den wegweisenden Streit zwischen Facebook und Australien, der ja hier ebenfalls häufig vorkam, so, dass "Australien Facebook sehr entgegengekommen" sei.

Das sind natürlich erwartbare Manöver: Klassische Verlage, die in den klassischen Verlegerverbänden engagiert sind (Hubert Burda war ja lange Zeitschriftenverbands-Präsident) und an Einnahmen aus dem Leistungsschutzrecht glaubten oder weiterhin glauben, markieren ihre Positionen. Das setzt sich dann in der Welt, also dem Medium des Springer-Verlags (dessen Chef ja Zeitungsverbands-Präsident ist), in einem längeren Kommentar fort: Facebook wechsele nun

"unter Mitwirkung der Verlage offensiv und offiziell sein Geschäftsmodell von der Kommunikations- und Werbeplattform zum Nachrichtenanbieter. Der Datenpool aus Facebook, Instagram und den Metadaten von WhatsApp ist groß. Der Dienst ist horizontal breit verflochten, omnipräsent und fast allwissend und bietet Inhalte an. Er programmiert die Algorithmen der Meinungsvorschläge und beherrscht so die Architektur des Netzes. Zugleich entscheidet er über die Auswahl der Inhalte, die er bei Verlagen breit ankauft und nach seinen Interessen platziert. Er ist zum wesentlichen Faktor der Meinungsbildung im Volk geworden. Damit ist Facebook nicht mehr Medienintermediär ..."

Wer öfter das Altpapier liest, weiß: "Intermediär" ist ein Behelfsbegriff aus der deutschen Mediengesetzgebung, der in Worte zu fassen versucht, was Google und Facebook ungefähr sind.  Neu in der Arena ist nun also das Argument, dass Facebook durch "Facebook News" kein Intermediär mehr sein werde und damit dann "unmittelbar unter die Medienaufsicht der Länder" fällt, wie im selben Welt-Beitrag auch noch steht. Bemerkenswert ist, wer ihn verfasst hat: ein Autoren-Team ohne Springer-Journalisten. Es schrieben mit dem Kölner Professor Rolf Schwartmann ein renommierter Medienrechtler und mit "Professor Günter Krings (MdB)", ein Staatssekretär aus dem Bundesinnenministerium sowie CDU-Abgeordneter.

Mal abgesehen von der Frage, ob sich in die vermurkste Digitalpolitik der aktuellen Groko nun auch noch das Innenministerium einbringen will: Wenn genau solche Themen ebenfalls im kommenden Wahlkampf vorkämen, wäre das natürlich gut.

Ein Kulturradio-Abschied "on air"

Zum Abschluss des Hauptteils noch ein ikonisches Bild? Jetzt aber nur in Worten, schriftlichen, die gesprochene dokumentieren.

Diskussionen ums öffentlich-rechtliche Kulturradio sind ja relativ durchgehend Thema hier. Die Medienkorrespondenz wurde nun Ohrenzeuge des offenbar überraschend on air verkündeten Abschieds eines Moderators der Sendung "Klassik Forum" auf Radiowelle WDR 3  – und damit bereits des zweiten Moderators dieser Sendung innerhalb von zwei Wochen. Während Anfang März Kalle Burmester von einem anderen "Verständnis von Kultur und dem Kulturauftrag" bei ihm und beim WDR, der seine Radiowellen gerade weiter ummodelt, gesprochen hatte (vgl. ebenfalls medienkorrespondenz.de), fühlte sich nun Michael Stegemann wie "ein Eisbär auf einer schwankenden, dahinschmelzenden Eisscholle":

"Ich habe das Gefühl, dass auch meine Eisscholle, mein Habitat als Autor und Moderator, wenn sie so wollen, dahinschmilzt oder sich doch so sehr verändert, dass ich mit ihm nicht mehr Schritt halten kann. Das 'Klassik Forum' erlebt seit einiger Zeit eine Umstrukturierung will ich nicht sagen, aber eine notwendige und sicher naheliegende Weiterentwicklung. Es geht darum, neue Hörerschichten zu erreichen, gerne sollen es auch jüngere Hörer sein, das Ganze soll lebendiger, moderner und vor allem emotionaler moderiert werden, vielleicht auch kürzer, vielleicht verständlicher und weniger abgehoben. Das hat sich für mich durchaus als eine Möglichkeit herausgestellt, aber ich hab damit unglaubliche Schwierigkeiten, es ist vielleicht einfach zu lange, dass ich diese Sendung mache, und deswegen fällt es mir einfach schwer, mich diesen neuen Axiomen anzupassen und zu unterwerfen."

Anschließend erwähnte Stegemann, dass er in Kürze 65 wird, und brachte neben dem Eisbär noch einen weiteren Tier-Vergleich – was aus diesem Abschied vielleicht ein wenig die Schärfe hinausnimmt. "Wir bedauern sehr, dass Michael Stegemann seine Tätigkeit als Moderator beim Klassik Forum beendet, und wünschen ihm alles Gute. Die Sendung wird in gewohnter Weise mit unseren Stammmoderator*innen weitergeführt", informiert WDR3.

Wieauchimmer: Die Boulevardisierung als menschgemachte und voranschreitende, bestenfalls graduell zu begrenzende Entwicklung, das ist noch ein Bild, über das nachzudenken lohnt ...


Altpapierkorb (MDR sozusagen Oscar-nominiert, Kachelmann/Reichelt, Charlie Hebdo & Royals, neue Medienwächterin, Euronews & Dubai, 39 neue Newsletter)

+++ Wenn das kein glücklicher Programmzufall ist: Kaum wurde der hauptsächlich rumänische Dokumentarfilm "Kollektiv - Korruption tötet" doppelt für Oscars nominiert, als "bester fremdsprachiger Film" und "bester Dokumentarfilm", ist er heute abend im MDR-Dritten zu sehen (und noch "bis 21.03.2021, 23.55 Uhr" in der Mediathek). Grund: Der MDR koproduzierte das Werk.

+++ Gibt's Neues zum Thema Julian Reichelt? Zumindest starke Worte von Jörg Kachelmann (auf Twitter) ...

+++ "Man muss nicht auf Twitter unterwegs und auch kein engagierter Antirassismus-Aktivist sein, um die Anspielung auf diesen grausamen Tod geschmacklos zu finden. Ihr wohnt kein Witz inne", doch ließe die Karikatur immerhin "zweierlei Interpretation zu", die in den Kontroversen nicht genug wahrgenommen würden: Da kommentiert Michael Hanfeld in der FAZ das neueste  Charlie Hebdo-Titelbild (mit der Queen, Meghan Markle und George-Floyd-Bezug).

+++ Deutschland hat eine neue Medienwächterin, was allerdings den Frauenanteil in den Medienanstalten nicht erhöht, da sie eine Vorgängerin ablöst. Anja Zimmer (vor kurzem hier erwähnt) ist nicht mehr Chefin der Berlin-Brandenburger MABB. Nachfolgerin Eva Flecken arbeitete zuvor für Sky Deutschland, ist aber auch Mitglied der SPD (Medienkorrespondenz).

+++  Nach OHVs Rechenzentrum gleich noch ein französisches Großbauwerk mit Medienbezug, das im Dunkeln fotografiert wurde: Auf der SZ-Medienseite und hier ist das Hauptquartier von Euronews in Lyon zu sehen, nicht brennend, bloß abends angestrahlt. Allerding lautet die Überschrift dann "Grüße aus Dubai", denn der mehr oder weniger gesamteuropäische Nachrichtensender, der zu 88 Prozent dem ägyptischen Milliardär Naguib Sawiris gehört, lässt sich Sendungen sowohl von den Vereinigten Arabischen Emiraten als auch von der EU sponsorn.

+++ Womit Amazon unter vielem anderen auch Geschäfte macht: mit islamistischen Mordaufforderungen in Buchform in deutscher Sprache (Telepolis).

+++ Und was dann auch noch kommt: Neue Newsletter von "rund 40 Publishern" bzw. "39 namhaften Medienmacher:innen", die Philipp Schwörbels/Sebastian Essers Steady ankündigt.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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