Das Altpapier am 24. März 2021 Bärendienste
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24. März 2021, 09:11 Uhr
Das Drama um den Film "Lovemobil", zweiter Teil, und ein paar Gedanken zum Thema Vertrauen. Außerdem: Attacken auf Journalist:innen, "Klima vor acht" und ein Streit bei Markus Lanz. Ein Altpapier von Jenni Zylka.
Der Drops ist gelutscht
Es führt kein Weg dran vorbei: Wir müssen nochmal auf dem Skandal und dem dazugehörigen Altpapier-Thema von gestern herumkauen. Darin ging es quasi um das Stichwort "Truth is stranger than fiction" (stammt von Mark Twain, angeblich - aber was ist schon wahr...), heute soll es um die Auswirkungen gehen. Hier ist der aktualisierte Spiegel-Artikel zum Thema, und ich gehöre auch zu jener genannten Grimme-Jury, die sich in dieser Woche eigentlich Elke Margarethe Lehrenkrauss’ Film "Lovemobil" anschauen sollte, um ihn eventuell mit einem Preis zu ehren.
Der Drops ist jetzt gelutscht, denn die Nominierung wurde vom Grimme-Institut zurückgezogen. (Und ich bezweifle, dass der Film im nächsten Jahr nochmal in der Sektion "Fiktion" eingereicht wird, harhar...) Ob der Film den 2020 gewonnenen "Deutschen Dokumentarfilmpreis" behalten darf, ist fraglich. Der NDR distanzierte sich von der Produktion, nachdem eine hauseigene Redaktionsrecherche nachwies, dass "Lovemobil" keineswegs, wie postuliert, ein Dokumentarfilm ist, sondern ein der Wahrheit nachempfundenes "Hybrid" mit Reenactment, dessen Einsatz die Regisseurin nach den Vorwürfen mit Kunstfreiheit beziehungsweise "einem Versäumnis" (das gestrige NDR-Interview mit der Regisseurin hier nochmal) verteidigte. Aaargh! (Oder um mit Bill Bo zu fluchen: Bomben-Granaten-Element-Potzblitz-Donnerwetter-Sapperment-nochmal!)
Katastrophe für das Vertrauen
Tatsächlich mochte ich den Film sehr gern, hatte ihn vor der Fernsehausstrahlung im letzten Jahr in einer Radiokritik empfohlen (auch da ist alles mittlerweile entfernt worden, darum gibt es keinen Link) - und war damals zwar enorm beeindruckt und verwundert über die Nähe und Intimität, die jene in ihren Wohnwagen auf Freier wartende Sexarbeiterinnen anscheinend zugelassen hatten, und die dem Film seine cineastische Qualität gaben. Eine Szene, in der eine Protagonistin direkt auf eine Frage aus dem Off antwortet und damit die Anwesenheit des Filmteams eindeutig bestätigt, nahm ich jedoch als Beweis dafür, dass es tatsächlich so ist, wie die Regisseurin behauptete: Durch jahrelange Recherche und Vorarbeit sei ein starkes Vertrauensverhältnis zwischen Team und den Portraitierten entstanden, so dass die einen das andere kaum mehr wahrgenommen hätten.
Die taz kommentierte diese missliche Geschichte gestern so:
"Am Ende ist es eine Katastrophe für den Dokumentarfilm und das Vertrauen zwischen Filmemacher*innen und Redaktionen. Vor allem aber für Debatten über Sexarbeit. Die ist ohnehin verzerrt von klischierten fiktionalen Darstellungen. Wenigstens dem, was sich als Fakt verkauft, sollte man trauen können."
Und, zum Mäusemelken – Lehrenkrauss’ bestimmt hehre Intention, das Leben von Sex-Wanderarbeiterinnen realistisch abzubilden, so dass auch den stumpfesten Freiern klar wird, wie wenig Sexarbeit in vielen Fällen mit Lust oder selbstbestimmtem Leben, und wie viel mit materieller Not, Ausbeutung und misogynen sowie rassistischen Machtstrukturen zu tun hat, schießt sich selbst ins Knie.
Bärendienst am Kampf gegen Rassismus
Es geht aber noch weiter: Dass er von der Regisseurin dazu aufgefordert worden sei, in einer Lovemobil-Szene eine schwarze Protagonistin aufgrund ihrer Hautfarbe zu diffamieren, sagt der (wie wir jetzt wissen) Darsteller eines Bordellbesitzers in diesem diesbezüglichen Panorama 3-Beitrag vom 23.3. gegenüber den Journalist:innen. Ihm sei versichert worden, in einer Spielfilmproduktion mitzuwirken, behauptet der Mann, und einen improvisierten, thematisch vorgegebenen Text zu sprechen, sonst hätte er sich nie rassistisch geäußert. Das nennt man dann wohl das Erweisen eines Bärendienstes auf allen Ebenen: Am Feminismus, am Kampf gegen Rassismus, an der Chance auf gute Sendeplätze für kleine, gesellschaftlich relevante Dokumentarfilme, und gegenüber Dokumentarregisseur:innen per se.
Denn auch bei einem Dokumentarfilm gibt es einen Publikumsvertrag, und in dem ist die Klausel "Vertrauen" fett gedruckt: Als Dokumentarfilm-Konsument:in, egal, ob Zuschauer:in, Kurator:in oder Juror:in, ist man in vielen Fällen gezwungen zu glauben, was die Filmschaffenden behaupten – gerade wenn es um Produktionen geht, die in fremden Welten spielen, und aus fremden Sprachen übersetzt werden. (Das mit der Sprache war bei "Lovemobil" zwar nicht problematisch – aber mein Insiderwissen in Sachen niedersächsischer Wohnmobilstrich ist arg begrenzt.)
Der Anfangsverdacht
Und die Redaktionen? Sind sie nicht verpflichtet, auch auf den Wahrheitsgehalt hin ein Redigat zu leisten, eine Produktion zu begleiten? Ein mit dem Thema konfrontierter NDR-Redakteur, der sich müht, sein Verhalten (der NDR war Koproduzent) transparent zu machen, sagt in dem genannten Panorama-Beitrag einen wichtigen Satz:
"Es gab bei diesem Film keinen wirklichen Anfangsverdacht, der nahegelegt hätte, dass man jetzt anfängt, Figuren wirklich anzurufen und zu fragen: Gibt es dich, bist du echt?"
Tja. Kontrolle ist bekanntlich besser, hinterher ist man immer schlauer, und was es noch so an klugscheisserischen Sprüchen gibt. Dabei ist das Verhalten der Redaktion auch darum so absolut nachvollziehbar, weil schließlich tatsächlich Frauen in Wohnmobilen an einem Waldrand in Niedersachsen (und anderswo) Sexarbeit anbieten, weil tatsächlich viele Nicht-Deutsche darunter sind, und weil es tatsächlich möglich sein könnte, dass eine eifrige und sensible Regisseurin deren Vertrauen gewinnt und einen Dokumentarfilm über sie zu machen scheint.
In diese Richtung hat der unselige Film ebenfalls viel zerstört: Zwar behauptet eine der Protagonistinnen im oben genanntem Beitrag, es sei auf Darstellerinnen zurückgegriffen worden, weil die echten Sexarbeiterinnen nicht wollten, dass man sie filmt. Aber wenn sie das nicht wollen, und man sie darum fälscht, hätte man den Weg der Kennzeichnung gehen müssen. "Nachgestellte Szenen" beziehungsweise "scripted reality" ist oft nicht hübsch. Doch die Grenzen zwischen News und Fake News , so schreibt der Tagesspiegel, und hat Recht damit,
"dürfen nicht miteinander oszillieren, schon gar nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen."
Und schlägt vor:
"Wie wäre es, wenn sie sich ihren Film erneut vornimmt und die nachgestellten, inszenierten Szenen herausschneidet und gegebenenfalls mit unverbrauchtem Material auffüllt. Wenn "Lovemobil" dann nicht mehr funktioniert, dann steht eines fest: Er taugt nicht für das, was er sein will: die Beschreibung und Beobachtung von tristem Leben in Deutschland, das im Schlagschatten der Landstraße liegt."
Die vertrauensseligen Zeiten sind jedenfalls relotiusmäßig ein für allemal passé. Aber etwas Gutes hat die Sache doch: Wer Lust hat, die Recherche-Redaktion in öffentlich-rechtlichen Sendehäusern zu verstärken, der bewerbe sich am besten sofort. Da werden ab jetzt jede Menge Jobs generiert.
Altpapierkorb (... mit Attacken auf Journalist:innen, Klima vor acht und einem Streit bei Markus Lanz)
+++ Dass die Attacken auf Journalist:innen in Deutschland im letzten Jahr stark zunahmen (2019: 14, 2020: 69), wertet das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) als "Folge der Corona-Demos", wie der Spiegel hier schreibt. 71% der Attacken seien auf pandemiebezogenen Versammlungen passiert, heißt es.
+++ Übermedien hat sich hier einer (angeblich teils etwas "rudimentären") Datenanalyse der Initiative "Klima vor acht" angenommen, in der nachgezählt wurde, wie selten das Wort "Klima" in der Vorabend-Berichterstattung der ARD tatsächlich vorkommt. Und hat der Initiative netterweise sogar eine Grafik dazu geschenkt.
+++ Bei Markus Lanz fetzte sich (unter anderem) gestern die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hochinteressant mit dem Virologen Prof. Hendrik Streeck, es ging um die vermaledeite und oft kritisierte Heinsberg-Studie zur Dunkelziffer der Corona-Infektionen (hier eine kleine Erklärung), und der Streit ist noch lange nicht vorbei – hier kann man’s nachschauen – auch gern die ganze Sendung.
Neues Altpapier kommt am Donnerstag.