Teasergrafik Altpapier vom 29. April 2021: Porträt Autor Jenni Zylka
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Das Altpapier am 29. April 2021 Das Private wird politisch

29. April 2021, 09:45 Uhr

Kann der Sender ProSieben Politik, wenn er sich anstrengt? Ist die Oscarverleihung noch relevant, wenn keiner guckt? Kann Glenn Close twerken? Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Politik für junge Leute

Huch, jetzt machen die Privaten glatt ernst. Und servieren im Schwung ihres "Politik für junge Leute"-Angriffs, der ProSieben bereits ein vielbeachtetes (und viel, aber nicht nur, kritisiertes, hier ein Altpapier dazu) Annalena Baerbock-Interview bescherte, gleich noch eine weitere medienpolitische Neuigkeit: Nachrichtensprecherin Linda Zervakis, eben noch aus der ARD gehuscht, wird ab Herbst gemeinsam mit Matthias Opdenhövel ein neues wöchentliches Politmagazin auf ProSieben präsentieren. "Zervakis & Opdenhövel. Live" soll es heißen, weiß der Tagesspiegel und merkt vorsichtig an:

"Das Moderatoren-Duo wird nicht nur präsentieren, sondern eben auch als Reporter und Interviewer auftreten. Durchaus eine Herausforderung für den 50-jährigen Sportjournalisten mit Bundesliga-Expertise und die 45-jährige Journalistin, die bislang als Sprecherin Texte vorgelesen hat."

Tja, vor allem weil manche Menschen, ich zum Beispiel, Opdenhövel immer noch ganz zart mit der Musikratesendung "Hast Du Töne?" assoziieren, no harm intended: Ich fand diese deutsche Version von "Name that Tune" ja wunderbar, und es überhaupt nicht ehrenrührig, Menschen beim Summen zuzugucken. Aber ich kriege das Bild (beziehungsweise die Melodie…) eben nicht aus dem Kopf. Was nicht bedeutet, dass Opdenhövel keine politischen Interviews hinkriegen könnte – schließlich gibt es im Zweifelsfall auch bei ProSieben Redaktionen, die alles vorbereiten. Und Zervakis hat nicht nur Texte gelesen, sondern zuweilen als Redakteurin gearbeitet… wenn auch nicht unbedingt für Politmagazine, sondern im Unterhaltungsbereich. Dabei wird es ja immer erst dann interviewfragenskillstechnisch interessant, wenn der/ die Gesprächspartner:in nichts oder etwas anderes sagen will, als der/die Fragesteller:in möchte, was bei Kulturinterviews bekanntlich seltener der Fall ist, als bei politischen Gesprächen (vor allem wenn es um Wahlkampf geht).

Relevanz-Offensive

Der Spiegel hängt die Sache jedenfalls viel höher, siehe hier, und konstatiert eine "Relevanz-Offensive":

"Die beiden Prominentenabschiede bei der ARD stehen in einem größeren fernsehindustriellen Zusammenhang: Die deutsche TV-Landschaft steht vor ihrem größten Umbau seit Einführung des dualen Rundfunksystems im Jahr 1984. Die großen Privatsender versuchen gerade, an Seriosität zuzulegen, und wildern dafür kräftig beim Personal der öffentlich-rechtlichen Anstalten. So verkündete RTL vor Kurzem, dass man mit dem früheren »Tagesschau«-Chefsprecher Jan Hofer ein neues Nachrichtenformat plane."

Weiter heißt es lobend im Spiegel, die Öffentlich-Rechtlichen sollten sich ruhig eine Scheibe abschneiden:

"Beachtlich, wie es dem Sender, der vor wenigen Jahren noch durch das Runternudeln von »Big Bang Theory«-Serienpaketen Quote zu machen versuchte, inzwischen gelingt, mit klassischem, linearem Ereignisfernsehen Glaubwürdigkeit und Haltung zu demonstrieren. (… ) Wollen ARD und ZDF auch in Zukunft die Menschen mit ihren Informationsprogrammen erreichen, sollten sie sich ein bisschen von der privaten Konkurrenz inspirieren lassen."

Dabei gibt doch schon "junge" Ideen… das "heute journal up:date" mit dem nicen Anglizismus und dem modernem Doppelpunkt, der so hübsch ans Gendern erinnert… und Jan Böhmermann… und funky funk…und…  na gut. Inwiefern die neue "klassisch lineare Ereignis-" Sendung tatsächlich so viele Zuschauer:innen lockt wie Joko & Klaas, wird sich zeigen. 

Albtraumquoten

Apropos Traumquoten: Die Oscarverleihung haben in diesem Jahr so wenig Menschen wie nie zuvor angeschaut, berichten mehrere Medien, hier zum Beispiel der Tagesspiegel: Nur 9,85 Millionen hätten eingeschaltet, schreibt die Zeitung, und rechnet aus:

"Nach dem Negativ-Rekord von 23,6 Millionen Zuschauer im vergangenen Jahr ist das ein nochmaliges Minus von 58,3 Prozent."

Gruseligerweise hatten vorher noch in einer Umfrage fast die Hälfte der US-amerikanischen Erwachsenen zwischen 18 und 34 Jahren angegeben, die Oscar-Übertragung schauen zu wollen, bei den bis 50jährigen immer noch 30%. Das in die Tat umgesetzt haben offensichtlich weniger. Aber erstens sind dabei die Streams, über die viele Interessierte zuschauen, nicht mitgerechnet. Und zweitens stehen die Filme vor den gleichen Dilemmata wie hier: Wenn es überhaupt Kinostarts gab, dann waren die wackelig, wegen der unsicheren Situation wenig beworben und schwer anzukündigen, und abhängig von den Pandemiebewegungen.

Die Situation, die sich damit einstellte, ist absurd: Bekanntlich schauen auch die wahlberechtigten Academy-Mitglieder selten alle Filme, die sie offiziell zu schauen hätten – nachprüfen kann man das nicht. In diesem Jahr war die Expertise also sozusagen überall gleich schlecht – auch die Fernsehzuschauer:innen hatten die Filme nicht gesehen, und konnten sich darum nur schwerlich aufraffen, eine ferne Preisverleihung zu unbekannten Werken durchzustehen. Es fehlte, wie man sagen kann, die "general awareness". Schade.

Film braucht Kino

Natürlich wird ein Film durch einen Preis nicht besser, wie die Süddeutsche in ihrer Berichterstattung richtig und traurig hervorhebt:

""Nomadland" ist mit oder ohne Oscar derselbe wundervolle Film; was er wirklich braucht, ist eine Leinwand."

Und eben jene"general awareness". Seufz. Einig waren sich dennoch fast sämtliche Kolleg:innen, was die  Form betrifft: Das Ganze fand coronabedingt kleingekocht und mit viel hemds(bzw. abendroben)ärmeliger Gemütlichkeit in einem Bahnhofsgebäude statt, anstatt meterlangen Kameraschwenks und Trailerstürmen gab es süße persönliche Geschichten über die eigene Liebe zum Kino. Und dann gewann auch noch besagter Nomadland, ein weiser, authentischer Film über eine Arbeitsnomadin, die den Rand der Gesellschaft mit ihrem Wohnmobil abfährt, dazu waren fast die Hälfte der Nominierten nicht weiß, ein wichtiger Siebenmeilenschritt aus dem Club der alten weißen Männer.

"Die 93. Oscar-Verleihung wird als Meilenstein in die Hollywood-Historie eingehen"

schreibt der Spiegel über die Veranstaltung, und konstatiert:

"Die 93. Academy Awards waren eine Preisverleihung unter Ausnahmebedingungen. Aber vieles von dem, was aus der Not geboren war an diesem Abend in der Union Station in Downtown Los Angeles, darf gerne auch künftig zur Regel werden."

Wird es vermutlich nicht, denn daran hängen einfach zu viele Jobs, Strukturen und Wechselwirkungen.

Cultural Appreciation

Als letztes Schmankerl hier noch ein paar Kommentare zu Glenn Close, deren bei der Oscarverleihung zur Schau gestelltes Wissen um den aus einem alten Spike Lee-Film stammenden Song "Da Butt" (es ging um ein Musikquiz, hier der entsprechende Auszug aus der Show) viel Erstaunen, und ihr folgender kurzer Twerker noch mehr Bewunderung hervorrief – auch wenn der erfahrenen Schauspielhäsin die Situation vorher ein wenig gesteckt wurde, wie die Los Angeles Times leider weiß, und damit den Traum platzen lässt, Glenn Close schaue zuhause den ganzen Tag schwarze Independent-Filme aus den 80ern:

"But both Howery and a rep for Close have since clarified that the dance portion of the endearing encounter was not rehearsed, despite the 74-year-old actress being tipped off about "Da Butt” and clearly doing her research ahead of time.”

Jedenfalls war die versammelte internationale Zuschauerschaft von Closes 74jährigem Butt gleichermaßen verzaubert, darüber gibt es keine "ifs" und "ands" und "buts", harhar. Das letzte Mal, dass ein twerkender weiblicher Butt derartige Aufmerksamkeit hervorrief, war in der "Twerkin‘ Miley Cyrus"-Cultural-Appropiation-Debatte von 2013, hier nochmal zur Ansicht ein empörter Guardian-Artikel dazu. Es scheint sich also tatsächlich in die richtige Richtung entwickelt zu haben: Wenn ein schwarzer Moderator eine weiße betagte Frau fragt, ob sie sich mit schwarzer Kultur auskennt, und ob sie das auch beweisen kann, dann darf sie ihm und der ganzen Welt selbstredend einen vortwerken. Das nennt man dann nämlich "Cultural Appreciation". Und die ist mir ohnehin am liebsten.

Altpapierkorb (... mit #allesdichtmachen, Wolfgang Fellner und My name is Luca)

+++ Das T-Online-Portal hat zum #allesdichtmachen eine Umfrage mit 55493 Befragten durchführen lassen, und dabei folgende Ergebnisse bekommen: 57,2% finden die Aktion "negativ" oder "sehr negativ", 29,6% "positiv" oder "sehr positiv", knapp über 13% sind unentschieden, hier ist der Artikel. Bitte selbst auswerten, ich habe keine Lust mehr auf das Thema, das regt mich zu sehr auf.

+++ Die Zeit hat eine umfassende Hintergrundreportage über die Anschuldigungen gegen den österreichischen Medienmogul Wolfgang Fellner veröffentlicht, der der jahrelangen sexueller Belästigung einer Journalistin beziehungsweise, wie der Betriebsrat sagt, auch in vielen weiteren Fällen bezichtigt wird, samt sämtlicher typischer Begleiterscheinungen, "toxisches Betriebsklima", "alltäglicher Sexismus" und so weiter. Wie lange solche Systeme wohl noch ausgehebelt werden müssen?

+++ Und weiterhin wird kein gutes Haar an der neue Luca-App gelassen, hier in der taz zum Beispiel. (Obwohl Pixar doch einen neuen Film nach ihr benannt hat, "Luca".)

Neues Altpapier liefern wir am Freitag.

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