Teasergrafik Altpapier vom 25. Mai 2021: Porträt der Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 25. Mai 2021 Worte sind Pfeile

25. Mai 2021, 10:10 Uhr

Jens Spahn hat seine Worte zu "Auslandsreisen in die Türkei" nicht auf die Goldwaage gelegt. BBC-Journalist Martin Bashir hat mit falschen Worten getroffen. Bob Dylan dagegen wiegt jedes Wort. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Falsche Wortwahl?

Von wegen Worte und Goldwaage: Etwas, nun ja, dürftig durchdacht klang Jens Spahns Formulierung, mit der er am Sonntag bei einem Interview mit der BAMS (€) auf eine Gefahr hinwies, die angeblich im kommenden Sommer lauert:

"Wir haben aus dem vergangenen Sommer gelernt. Damals haben die Auslandsreisen, häufig Verwandtschaftsbesuche in der Türkei und auf dem Balkan, phasenweise rund 50 Prozent der Neuinfektionen bei uns ausgelöst. Das müssen wir in diesem Jahr verhindern."

Huch. Das bedeutet zwar gar nicht, dass laut Spahn Deutschtürk:innen oder Deutschkroat:innen, die ihre Familien besuchen, für 50% der Neuinfektionen zuständig sind. Aber es klingt ein bisschen so. Eigentlich, nehme ich gutwillig an, meinte Spahn jegliche Auslandsreisen – auch die von feierwütigen Deutschen, die (extra) ohne Familie und trotz gegenteiligen Ratschlags des Auswärtigen Amts versuchten, die Partymeile Barcelonas zu finden. Oder Henpartys nach Griechenland zu importieren. Und vermutlich ist Spahn genauso klar, dass die deutschen Inzidenzzahlen im Sommer 2020 vor allem in den Bundesländern hoch waren, in denen wenig Menschen mit zum Beispiel türkischen Wurzeln lebten. Eventuell ist das Problem also das Wort "phasenweise" – meinte er vielleicht eher "in manchen Gebieten"? Und statt "häufig" vielleicht "zum Beispiel"? Oder "unter anderem"? Nur ein Vorschlag.

Neben anderen Zeitungen stieß auch der Frankfurter Rundschau die Formulierung mit Blick auf eine dementsprechend kritische Twitterdebatte jedenfalls sauer auf, und sie hielt fest:

"Schürt Jens Spahn in der Corona-Pandemie Hass gegen Menschen mit Migrationshintergrund?

Publizist Krsto Lazarević schrieb, er wundere sich eigentlich nur, "dass es solange gedauert hat, bis er versucht, sein persönliches politisches Totalversagen auf ‚die Ausländer‘ zu schieben." Zahlreiche weitere Nutzer:innen des Dienstes, wiesen zudem darauf hin, dass sich Spahn eher auf touristische Reiseorte für Wohlhabende konzentrieren sollte. So war beispielsweise Ischgl im März 2020 Corona-Hotspot in Europa. Tausende Infektionen sollen auf den bekannten Tiroler Wintersportort zurückzuführen sein."

Richtige Wortwahl?

Und damals, beim Feierdebakel in Ischgl, wurden dann jawohl nicht nur Familien von Deutschkroat:innen umarmt... Bei einem autorisierten Interview muss man schließlich davon ausgehen, dass jede einzelne Aussage bewusst gewählt wurde, sonst wäre sie verändert oder gestrichen worden. (Wie sagte die weise Daliah Lavi: "Worte sind Pfeile!" Und die Sängerin stammte noch nicht mal aus dem Balkan oder der Türkei!)

Aber jetzt kommt‘s: Kurz vor Weihnachten letztes Jahres kam Spahn schon einmal mit einem ähnlichen Text um die Ecke, das hatte hier zum Beispiel ntv dokumentiert:

"Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat vor einer zusätzlichen Corona-Infektionswelle gewarnt, wenn viele Menschen zu Heimat- und Verwandtschaftsbesuchen unter anderem nach Osteuropa, auf den Balkan oder in die Türkei reisen und nach den Feiertagen nach Deutschland zurückkehren. 'Wir müssen sehr miteinander aufpassen, dass das, was wir schon im August gesehen haben, dass dann die Rückreise nicht dazu führt, dass dann gleich noch eine neue Welle, ein neuer Impuls entsteht', sagte der CDU-Politiker im Interview mit ntv."

Was lernen wir daraus: Damals, um Weihnachten herum, wurde tatsächlich die Formulierung "unter anderem nach Osteuropa" etc. benutzt. Das klingt doch gleich versöhnlicher – wenn osteuropäische oder türkische Familien einfach nur als Teil der Verwandtschaft der Deutschen wahrgenommen, und nicht "häufig" für gestiegene Fallzahlen verantwortlich gemacht werden. Keiner hat sich damals aufgeregt. Quod erat demonstrandum.

Das mit Di

Aber wir bleiben bei den Worten auf der Goldwaage. Weil währenddessen ja ein weit größerer Medienskandal Großbritannien erschüttert, bei dem es um weitaus mehr Worte geht: Das legendäre (und schon lange umstrittene) Interview mit Lady Diana Spencer, das der BBC-Journalist Martin Bashir im November 1995 führte, und in dem sie offen ihre Ängste und Zweifel darlegte, wurde mit Fälschungen erschlichen. Der Journalist hatte Kontoauszüge manipuliert, um ihr zu beweisen, dass bezahlte Spitzel sie aushorchten, und die Prinzessin fälschlicherweise von einem Komplott gegen sie überzeugt. Was ein Gericht herausgefunden beziehungsweise bestätigt hat, führte jetzt zum Rücktritt des damaligen BBC-Nachrichtenchefs Tony Hall von seinem momentanen Posten als Kuratoriumsvorsitzender der National Gallery in London. Für den Journalisten Bashir haben die Tatsachen allerdings keine Bedeutung: Die Fälschungen hätten nichts mit der Entscheidung Dianas für bestimmte Aussagen zu tun, sagte er in der Sunday Times.

"Bashir sounds like a broken man. Yet he cannot quite bring himself to admit that he wronged the princess. 'I never wanted to harm Diana in any way and I don’t believe we did,' he protests. 'Everything we did in terms of the interview was as she wanted, from when she wanted to alert the palace, to when it was broadcast, to its contents ... My family and I loved her.'"

Die SZ lässt in ihrem Text die Karriere Bashirs Revue passieren, und stellt noch weitere Klagen in Aussicht:

"Über Bashir hat einer seiner früheren Kollegen angeblich mal gesagt, er halte die Wahrheit für eine "lästige Sache". Die Sache mit Diana ist jedenfalls nicht die einzige, in der es Ungereimtheiten zu Bashirs Vorgehen gibt. Während seiner Zeit bei ITV wurde eine Dokumentation produziert, für die er acht Monate lang den US-Sänger Michael Jackson begleitet und interviewt hatte; nach Erscheinen des Films wurde Bashir vorgeworfen, er habe die Interviews mit Jackson nur aufgrund falscher Versprechungen bekommen. Jacksons Familie teilte nun mit, man werde prüfen, ob rechtliche Schritte möglich seien."

Und der Tagesspiegel konstatiert unter der Überschrift "Royal Desaster" düster:

"Jetzt liegt die Wahrheit auf dem Tisch, und das Role Model einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt steht nackt da: Die BBC als Hort eines unbestechlichen, aufklärerischen, unparteiischen Journalismus hat ordentlich, wenn nicht alle Reputation eingebüßt. Schon wetzen die Konservativen um Tory-Premier Boris Johnson die Messer. Alles steht auf dem Spiel: die Unabhängigkeit der BBC von politischen Einflüssen, die solide Finanzierung, die Integrität der Programmleistung. Aus dem beträchtlichen Schaden eines vermeintlichen Scoops kann ein Totalschaden für die BBC werden."

Toxische Medienkultur

Die Gefahr besteht jedenfalls. Denn wenn man sich überlegt, welche Kreise schon hiesige mediale Betrugs- und Fälschungsaffären in den letzten Jahren zogen, die nicht mal ein Königshaus und den tödlichen Unfall einer echten Prinzessin betrafen, dann help us god. Beziehungsweise help them god. So sauer wie Prince William sich in seinem Statement über die "toxische Medienkultur" der BBC äußerte, die am Tod seiner Mutter mitschuldig sei, nachzulesen und zu schauen hier, war jedenfalls lange niemand mehr in der ewig schwelenden Fehde zwischen den Royals und den Medien:

"The Duke of Sussex blamed a toxic media culture for his mother's death. In his separate statement, Prince Harry said that the 'ripple effect of a culture of exploitation and unethical practices' ultimately took his mother's life. He expressed concern such practices 'are still widespread today', adding that it was 'bigger than one outlet, one network or one publication'. 'Our mother lost her life because of this, and nothing has changed. By protecting her legacy, we protect everyone, and uphold the dignity with which she lived her life,' he said. The BBC has written to apologise to Princes William and Harry, as well as the Prince of Wales and Diana's brother Earl Spencer.”

Ach, damn it, help everyone everyone.

Woker als die Polizei erlaubt

Apropos help us god. Geburtstage lebender Götter (oder gottähnlicher Wesen) eignen sich gut, um anhand der in den Medien erschienenen Würdigungen Rückschlüsse unterschiedliche Verhältnisse der Verfasser:innen oder Nutzer:innen zum Gott zu ziehen. (Obwohl es sich von selbst versteht, dass die Meinung oder das "Feeling" eines einzelnen nicht die Ansicht der gesamten Redaktion wiedergibt.) Was ich meine: Bob Dylan, für viele (oft weiße, männliche) Menschen einer der gottähnlichsten Wortkünstler der letzten sechs Jahrzehnte, wurde am Montag 80. In der Süddeutschen (€) schreibt herzlich, umfassend und liebevoll Willi Winkler seinen Geburtstagsgruß auf, und schiebt den noch immer überwiegend schlechtgelaunten Dylan ein großes Stück in Richtung aktuelles Bewusstsein:

"Der 22-jährige Dylan war nämlich bereits woke, als die Großeltern der heutigen Wokisten noch an das Evangelium vom Wohlstand für alle bei maximalem Hubraum glaubten. Seine frühen Stücke waren oft gesungene Leid-Artikel, nur besser: gegen den Rassismus, für die Bürgerrechte, gegen die 'Masters of War' ('Und an euerm Grab werd ich stehn, um ganz sicher zu sein, dass ihr tot seid'). Es war eine Welt in Schwarz und Weiß: Im Hintergrund lohte die Kubakrise, die atomare Auslöschung drohte. In Tübingen sammelten Gudrun Ensslin und Bernward Vesper 'Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe'. Barry McGuire meinte den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang, als er 1965 vom 'Eve of Destruction' brüllte. In dieser Weltzeit wurde Dylan zum Chef-Apokalyptiker, der den Großen Regen kommen sah."

Alles eingetroffen, sollte man meinen, was der "Chef-Apokalyptiker" kommen sah, womit sich auch besagte anhaltende schlechte Laune erklären ließe. Dass man ihn noch immer liebt, könnte das für die SZ-Leserschaft bedeuten, und sich noch immer (und zurecht) mit ihm Sorgen um die Welt, die Zukunft, ach, überhaupt alles macht.

Viel Rauch um den ESC

Der Spiegel dagegen hat Dylan nur ein kleines, wenn auch reportagiges Plätzchen eingeräumt, vielleicht weil DAS Ereignis des vergangenen Wochenendes für die Kolleg:innen anscheinend der ESC war (diesbezüglich sind satte 23 Artikel erschienen – wäre das mit dem Drogentest des Sieger-Sängers, kicher, der sich anscheinend als unnötig erwies, kicher kicher, anders ausgegangen, wären es bestimmt bis jetzt mindestens 50. Der Tagesspiegel forderte übrigens hier gleich, dass Deutschland am besten gar nicht mehr antreten sollte, kicher kicher kicher). In der persönlichen Dylan-Erinnerung eines Fans aus der ehemaligen DDR geht es jedenfalls um die Geschichte des wohl bekanntesten Fotos, das beim Konzert Dylans 1987 im Treptower Park zu Berlin entstand (übrigens offenbart ein damals in der taz erschienener, angenehm respektloser Artikel, dass jenes Konzert angeblich nur stattfand, weil sich in West-Berlin nicht genug Kartenkäufer:innen fanden. Seufz, Dylan-Dissing wie dieses kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen). Jedenfalls hat der Spiegel, der vor ein paar Wochen auch schon die Umstände um den Tod von vier DDR-Bürgern bei jenem Konzert beleuchtet hatte, zum Geburtstag den Menschen besucht, der auf jenem Foto stolz einen eigens hergestelltes Dylan in Öl an einem Besenstiel vor sich hertrug.

"'Als wir endlich den Einlass passiert hatten, war die Bühne Hunderte Meter entfernt', erinnert sich Straach, 'Zehntausende standen dicht an dicht vor uns'. Vordrängeln schien sinnlos. Doch dann geschah das Wunder: Als die Menschen das Transparent mit Bob Dylans Antlitz sahen, klatschten viele Beifall, bildeten spontan eine Gasse. Straach und seine Freunde gingen durch ein Spalier begeisterter Besucher, arbeiteten sich bis 40 Meter an die Bühne heran. 'Es war ein Triumphzug', berichtet Straach stolz, 'niemand sonst hatte etwas Vergleichbares in den Händen.' In einer Zeitung stand später: 'Einer war sogar dabei mit Dylan in Öl, das Ganze goldumrahmt am Besenstiel.'"

Und das Meer teilte sich, siehe Gott-Assoziation vom Anfang. Weil dieses gutmütige Stimmungsstück allerdings als Solo-Geschenk auf dem Spiegel-Gabentisch für Dylan liegt, bekommt es – vor allem gegenüber besagter ESC-Häufung – eine leichte "Opa erzählt vom Konzert"-Konnotation. Die andererseits auch nicht unpassend ist: Schließlich erzählen tatsächlich eine Menge Opas (wir können uns auch gern "Best Ager" nennen) von Konzerten.

Romantikträume

Was mich Best Agerin und Alte-Welt-Bewohnerin zur "Jungen Welt" bringt. Auch hier findet sich ein gefühlvoller, persönlicher Text von Gerhard Henschel, der Verständnis für Dylans Hang zur Eigenbrötlerei aufbringt:

"Um die Werke eines Künstlers, den man verehrt, besser zu verstehen, muss man ihm nicht persönlich begegnen. Davon träumen nur Bravo-Leser. Es freute mich dann aber doch, als ich Günter Amendt kennenlernte und mir von ihm erzählen lassen konnte, wie es war, als er Bob Dylan 1978 bei dessen erster Deutschland-Tournee begleitete. Der Konzertveranstalter Fritz Rau hatte Amendt gebeten, Dylan auf dieser Tour zu erklären, was es beispielsweise mit dem Auftrittsort in Nürnberg auf sich habe, dem Zeppelinfeld, das in der Nazizeit für martialische Aufmärsche gedient hatte. Dylan, sagte Amendt, habe daraufhin beschlossen, dort auf einer Tribüne aufzutreten, die jener gegenüberlag, auf der Adolf Hitler seine Schnauze aufgerissen hatte. Als Amendt viele Jahre später noch einmal versuchte, zu Dylan durchzudringen, backstage, bei Konzerten in Deutschland, wurde er von Bodyguards abgewimmelt, und auch das ist begreiflich. Dylan muss sich schützen, weil es vielen Menschen nicht genügt, ihn singen zu hören: Sie wollen ihn verschlingen."

Man beachte das Wort "träumen" in Zusammenhang mit dem Über-Bande-Treffen eines Stars, den man "verehrt" – das klingt doch hübsch empfindsam. Wahrscheinlich ist es neben der politischen Haltung, der Unkorrumpierbarkeit und der lyrischen Qualität auch das, was Dylans Kunst und Relevanz bis heute überdauern ließ: Er evoziert in vielen seiner (männlichen) Fans eine Romantik, die sich mit der ausgedienten und altmodischen "Männer-haben-keinen-Zugang-zu-Gefühlen"-Ansicht der vergangenen Jahrzehnte vereinen lässt. Anders, von mir aus therapeutisch gesagt: Er öffnet einen Zugang. Und sowas ist immer gut.


Altpapierkorb (... mit der CNN und gendergerechter Sprache)

+++ Die FAZ stellt fest, dass auch die CNN gerade eine Krise erlebt: CNN-Moderator Chris Cuomo beriet seinen Bruder Andrew, den Gouverneur von New York, in Bezug auf Vorwürfe wegen sexueller Belästigung: Andrew solle einen geforderten Rücktritt ablehnen. Problematisch sei vor allem, dass Chris Cuomo "gern den Moralapostel spielt".

+++ Und die taz versucht zu verstehen, wieso laut einer Umfrage 65 Prozent der Deutschen das Gendern in der Sprache ablehnen, weil sie die Sprache in Gefahr sehen. Obwohl sich auch andere sprachliche Dinge ändern, und sich ohnehin nichts gegen mehr Inklusion einwenden lässt. Oder findet jemand "Brigitte Bardot ist ein Franzose", und meint sie mit dem generischen Maskulinum mit?!

Am Mittwoch gibt es das neue Altpapier.

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