Das Altpapier am 16. November 2017 Fettarm

Darf man jetzt nicht mal mehr sein Publikum beleidigen? Thomas Ebeling von ProSiebenSat.1 ordnet seine Zuschauer soziologisch ein. Die Zeit entdeckt im Fernsehprogramm das Infrastrukturprinzip deutscher Kleinstädte. Und was sind Meinungsumfragen zur Politik wert, wenn nur 56 Prozent der Leute wissen, wie ihr Ministerpräsident heißt? Ein Altpapier von Klaus Raab.

Kai Gniffke von der "Tagesschau" hat am Mittwochabend für eine Stunde lang unter dem Motto "Sag’s mir ins Gesicht" mit Zuschauern diskutiert. Die Idee war im Grunde, sich mit den Leuten, die bei Facebook sonst "Depp", "bückende Maulhure", "Fresse halten" und "Drecksbande" schrieben, sachlich vor allem über die AfD-Berichterstattung auszutauschen. Was die Öffentlich-Rechtlichen bei Facebook verloren haben, ist eine andere Frage, die Altpapier-Kollege Christian Bartels  womöglich mit "Nichts" beantworten würde (siehe etwa Altpapier vom 9. November).

Aber die Aktion, die über Skype lief, hat im Vergleich zu vielen öffentlichen Facebook-Threads großer Medien jedenfalls nicht die Fronten verhärtet. Erkenntnisse: Erstens, es war eine Männeraktion, die erste Frau kam in Minute 54:12 ins Bild. Zweitens, Gniffke verlas zum Abschluss einen Kommentar, demzufolge er ein "Kaspar" sei, "der permanent gegen die AfD hämmert", und befand: Wenn der Zuschauer "das so wahrnimmt, dann ist das auch sein gutes Recht."

Bei der Reality- und Castinggruppe ProSiebenSat.1 dagegen nannte der Chef das eigene Publikum "ein bisschen fettleibig und ein bisschen arm". Und nun ist "die Aufregung groß" (Caspar Busse auf der Medienseite der Süddeutschen Zeitung).

Beleidigungen findet man also wohl hier wie da nicht so schön. Aber dass bei ProSiebenSat.1 der Vorstandschef nach einem solchen Spruch stark in der Kritik steht, während man bei der "Tagesschau" am selben Tag herausfinden will, ob die Leute auch live im Bild "bückende Maulhure" sagen – zumindest dieser Aspekt der Geschichte hat ja schon was.

Worum geht es? In einer Telefonkonferenz mit Analysten hat Thomas Ebeling, Vorstandschef der ProSiebenSat.1 Media SE, das eigene Publikum charakterisiert. Während bei Netflix Inhalte liefen, die "Arthouse-like" seien, gebe es Menschen, "die immer noch gerne auf dem Sofa sitzen, sich zurücklehnen und gerne unterhalten werden wollen". Das sei die Kernzielgruppe. Daher sei das Programm, wie es sei. Und mittendrin kam eben dieser fett-und-arm-Einschub.

Was Ebeling, "ein eingefleischter Klartexter" (Stefan Winterbauer von Meedia), wörtlich gesagt hat, steht – mittlerweile auch als Transkript – bei DWDL, das in der Nacht zum Dienstag als erstes über die Sache berichtet hat.

Was die Fleischtexter von zum Beispiel stern.de, huffingtonpost.de und krone.at dazu gebracht hat, direkt in die Berichterstattung über Medienwirtschaft einzusteigen ("Skandal"), ist einigermaßen durchsichtig. Es menschelt, wenn der große Mann dem kleinen Mann ins Bier pinkelt, das er ihm vorher auf den Wohnzimmertisch gestellt hat; folglich kann man diese "Frechheit" (Tagesspiegel) wunderbar als Aufreger gestalten. Zumal, wenn man, wie die österreichische Kronenzeitung, zur Illustration einen bauchfreien Mann auf einer Couch dazu bastelt.

Aber es geht dann halt doch um mehr – es läuft grad wirtschaftlich eh nicht so bei ProSieben ("Umsatz- und Gewinnprognosen wurden darin nach unten korrigiert, die Aktie des Konzerns brach ein" – so Die Welt). Und deshalb wohl auch der etwas hilflose Versuch, zurechtzurücken, dass Ebeling lediglich eine "plakative Zuspitzung zur Illustration unterschiedlicher Mediennutzungsweisen" vorgenommen habe (wiederum DWDL).

In der FAZ, die sicherheitshalber gleich zwei Mal berichtet, im Medien- und im Wirtschaftsressort, steigt Michael Hanfeld in seinen Text mit dem Satz ein: "Das war’s." Und meint: Das war’s für Ebeling. Wobei die Formulierung nicht ganz korrekt ist. "Das dürfte es bald gewesen sein" wäre gegebenenfalls richtig – aber man kann mit diesen Indikativen und Konjunktiven ja schon mal durcheinander kommen. Die Nachfolgersuche für Ebeling lief jedenfalls wohl schon vorher (FAZ am Dienstag).

Ebelings Aussage "erklärt, warum die Sender der Mediengruppe seit geraumer Zeit so erfolglos sind: Sie schätzen ihr Publikum gering", schreibt Hanfeld:

"Sat.1 war einmal, vor langer Zeit, der kreativste Privatsender, mit erkennbarer Marke, Programmideen und einem eigenen Film- und Serienfundus. Das ist alles passé. Die letzten Sat.1-Serien, an die man sich erinnert, sind 'Danni Lowinski' und 'Der letzte Bulle', und die sind auch schon wieder drei Jahre her. Als Programmmarken sind Pro Sieben und Sat.1, deren Geschäftsführer kommen und gingen, regelrecht abgestorben. Sie haben sich selbst aus dem Wettbewerb genommen, der ob der nun nicht mehr gar so neuen Konkurrenz aus dem Internet heute so hart ist wie nie."

Joachim Huber sieht das im oben bereits verlinkten Tagesspiegel-Artikel ähnlich:

"Kein Fernsehanbieter in Deutschland ist derzeit von weniger Ambition getrieben als ProSiebenSat1. Wahr und in dieser Wahrheit erfreulich ist, dass es immer mehr Zuschauer bemerken. Die Marktanteile der Sender leiden an Schwindsucht, dito die Werbeeinnahmen."

Profiteure der Geschichte? Erstmal vielleicht DWDL. Tele5 hat dort Werbung geschaltet – beziehungsweise, falls die Buchung schon vorher eingetütet gewesen sein sollte, gibt es zumindest ein neues hier auch getwittertes Werbebanner auf der Seite.

Und zweiter Profiteur vielleicht: Arthouse-Programme? Schließlich machte Ebeling Netflix als "arthousy" schlecht. Harald Schmidt, einst bei Sat.1, äußert sich bei Spiegel Daily (€) über seinen ehemaligen Arbeitgeber:

"Arthouse ist das größte Schimpfwort der Unterhaltungsindustrie, denn Arthouse bedeutet doch im weitesten Sinne Dialoge und eine einigermaßen anspruchsvolle Regie. Aber das ist eben nicht Mainstream."

Nur kommt arthousy Netflix halt gerade besser an als das fettarme Programm von ProSieben und Sat.1.

Mehr oder weniger Fußball

Alle machen jetzt mehr Arthouse: Das wäre eigentlich folgerichtig, wenn man Fußballberichterstattung als Maßstab anlegt. Die Zeit schreibt auf ihrer Fußballseite, die hinten am Dossier hängt:

"Der Fan sieht sich inzwischen einer Schwemme von Talksendungen im Fernsehen gegenüber, ohne dass sich die Spiele und mithin der Gesprächsstoff im gleichen Maße vermehrt hätten. Auch deshalb werden die Shows oft zeitgleich und gegeneinander gesendet, der Inhalt braucht sich dann nicht groß zu unterscheiden. Die Methode folgt dem Infrastrukturprinzip deutscher Kleinstädte: Sobald gegenüber der Bäckerei ein Laden frei wird, zieht dort der nächste Bäcker ein."

Falls sich jemand fragt, von welchen Sendungen überhaupt die Rede ist: Es geht, neben diversen anderen, um "Sky90" montags auf Sky oder "100 Prozent Bundesliga", "die neue Montagabendshow auf Nitro, dem sogenannten Männersender der RTL Group":

Im Grunde steckt im Thema ein Aspekt der medialen Repräsentationskrise: Fußball im Fernsehen bringt Sendern Erfolg, aber weil Erfolg Nachahmer und Konkurrenten auf den Plan ruft, gibt es irgendwann so viel Fußball, der, weil die Senderechte daran so teuer ist, im Programm so überdehnt wird, dass alle, die keinen Fußball mögen, sich nicht repräsentiert fühlen.

Gibt es da jetzt aber sowas wie eine Trendwende? Das NDR-Medienmagazin "Zapp" hatte es am Mittwochabend davon.

"Nachdem jahrelang die Übermacht des Fußballs beklagt wurde, könnten die teuren Sportrechte bei ARD und ZDF nun das Gegenteil bewirken: Weniger Fußball und stattdessen wieder mehr Platz für andere Sportarten im Programm."

Da sind wir mal sehr gespannt. Konkret geht es um ein "Mini-Olympia" im August 2018, also quasi eine Arthouse-Sportübertragung. Wobei es vor diesem Hintergrund etwas Amüsantes hat, dass ARD und ZDF "unbestätigte 122 Millionen Euro" (die Quelle war seinerzeit epd) in die Übertragung der neuen "Nationen Liga" der Uefa investieren, obwohl es, so nun auch "Zapp", "um richtig viel" dabei nicht gehe. Die Uefa hat jedenfalls sicher nicht das schlechteste Geschäft dabei gemacht, aber das ist ja vor zwei Wochen auch schon mal gemeint worden. Ebenfalls vermutet wurde damals allerdings, dass gute Quoten der Nations League "sicher" sein werden (zitiert im Altpapier vom 30. Oktober).

Der Unsinn mancher Meinungsumfragen

Und von der Quote dann noch zu einer anderen Erhebung, die so ihre Nachteile haben kann: Stefan Niggemeier schreibt bei Übermedien über Meinungsumfragen. Prämisse: Die Leute kennen sich womöglich nicht so gut aus, wie sie glauben – das habe ein Wissenstest des Spiegels ergeben ("Nur 56 Prozent konnten den Namen des amtierenden Ministerpräsidenten ihres jeweiligen Heimatlandes richtig nennen" etc.):

"All diese Leute (oder andere, die sich ähnlich gut auskennen) werden aber auch nächste Woche wieder darum gebeten, ihre Meinungen zu irgendwelchen aktuellen politischen Entwicklungen abzugeben, und die Medien werden das Ergebnis als wichtiges Urteil der Bevölkerung behandeln. Das ist einerseits natürlich richtig und konsequent, denn all diese Leute dürfen ja auch wählen. (…) Die Ergebnisse des 'Spiegel'-Wissenstests sollten andererseits aber eine Warnung sein, die Umfrageergebnisse, die so oft unsere Nachrichten dominieren, mit fundierten Urteilen informierter Bürger zu verwechseln. Eine Konsequenz daraus wäre dann womöglich, diese Umfragen nicht so oft unsere Nachrichten dominieren zu lassen."

Eines, schreibt er, finde er

"fast noch unheimlicher als den gedankenlosen, routinierten Einsatz von Meinungsumfragen als günstige Nachrichtengeneratoren: Dass Journalisten das wirklich glauben, was sie da vermeintlich messen. Dass da draußen im Land eine Euphorie herrscht, weil 57 Prozent der angerufenen Menschen bei einer einigermaßen sinnlosen Umfrage nicht 'schlecht', sondern 'gut' sagen. Dass ein erheblicher Teil des Publikums 'ernüchtert' ist, was die Aussicht einer schwarz-gelb-grünen Koalition angeht".

Um weiterzuzitieren: "Was ist das für ein Unsinn?"

Tja, genau, was meinen Sie: großer, karierter oder veganer Unsinn?

Altpapierkorb (Journalisten in Russland, "Anne Will", MDR Sputnik, "Das Boot")

+++ Nicht russische Medien sollen in Russland als "ausländische Agenten" eingestuft werden können. Zuvor war der russische Staatssender "Russia Today" in den USA als "foreign agent" registriert worden. Die Reaktion war danach im Grunde erwartet worden (siehe Altpapierkorb vom Mittwoch). "Damit könnte die Deutsche Welle (DW) in das mediale Revanchespiel zwischen Moskau und Washington geraten", schreibt nun der Tagesspiegel. Alice Bota schreibt in der Zeit: "Die Vorschrift mag zwar eine Reaktion auf die Amerikaner sein, aber sie reiht sich ein unter jene Gesetze, mit denen sich die russischen Machthaber abschotten, weil sie überall Einmischung und Umsturz riechen." Und: "Womöglich bleibt es nicht bei der Registrierung. Medien könnten auch ganz verbannt werden aus Russland, und zwar wenn sie als 'unerwünschte Organisation' klassifiziert werden." Die Bundesregierung "hat das russische Gesetz scharf kritisiert" (Tagesspiegel)

+++ Von deutscher Seite aus allerdings soll die Deutsche Welle eventuell gestärkt werden, "Das geht aus dem gemeinsamen Sondierungspapier von CDU, CSU, FDP und Grünen hervor", meldet die FAZ.

+++ Wegen einer Party aus der "Heimattour"-Reihe steht MDR Sputnik in der Kritik – "wegen des Veranstaltungsortes: Die 'Alte Schachthalle' in Helbra gehört nämlich einem rechtsextremen 'Reichsbürger', Mathias Meese", schreibt der Tagesspiegel, der sich auf die in der Mitteldeutschen Zeitung vorgebrachte Kritik der "NoHalgida" bezieht, einer gegen die örtliche Pegida gegründeten Gruppe. Sputnik twittert, "entgegen der Darstellung von @NoHalgida hat der @mdrde kein Vertragsverhältnis mit dem Besitzer der Halle 'Alte Schachthalle Helbra'. Der Besitzer hat die Halle in einem langfristigen Mietvertrag an einen Mieter aus Halle/Saale vermietet. Dieser Mieter hat die Heimattour gebucht." Die Rückfage von Matthias Meisner vom Tagesspiegel, ob eine Absage erwogen werde, blieb bei Twitter unbeantwortet.

+++ Die Zeit verwendet an diesem Donnerstag eine halbe Zeitungsseite darauf (8.439 Zeichen, "Lesezeit: 5 Minuten"), die "Anne Will"-Talkshow vom vorangegangenen Sonntag auch nochmal nachzubesprechen. Aber wenn es der Wahrheitsfindung dient. Sabine Rückert regt sich da schon sehr auf, und zwar über die Zusammensetzung der Runde zur Sexismus-Debatte.  Bemerkenswert: Da hat man mal eine Runde, in der die Frauen klar in der Überzahl sind, und dann schreibt Die Zeit, dass ein Experte gefehlt habe. Und nennt konkret zuerst den "Bundesrichter a. D., Strafrechtsprofessor und" – nun kommt die entscheidende Funktion – "ZEIT-Kolumnist Thomas Fischer". Der hatte, schreibt Rückert, "(a)ngesichts einer Teilnehmerkohorte, bei der das Wissen im umgekehrten Verhältnis zum Meinen steht, (…) seine Teilnahme bei Anne Will dankend abgesagt".

+++ "Das Boot" wird fortgesetzt, die SZ war am Set: "Gemeinsam mit dem Bezahlsender Sky arbeitet Bavaria Film an einer Fortsetzung in Form einer achtteiligen Fernsehserie."

+++ SZ und FAZ melden, was zuerst die Medienkorrespondenz auf dem Schirm hatte (siehe dieses Altpapier): dass Marc-Jan Eumann die Landeszentrale für Medien und Kommunikition Rheinland-Pfalz leiten soll. Wobei "melden" bei der FAZ nicht ganz zutrifft. Michael Hanfeld bringt selbst, wenn es um diesen Posten bei der Aufsicht über den privaten Rundfunk geht, Kritik an den Öffentlich-Rechtlichen unter.

+++ In der FAZ, im Tagesspiegel und in der SZ besprochen wird die Serie "Im fremden Körper" (Arte). Die taz bespricht "The Sinner" (Netflix).

+++ "Es zieht gerade ein Hurrikan auf über Jamaika": Die Koalitionssondierer, hier Wolfgang Kubicki von der FDP, wissen schon auch, wie man in die Schlagzeilen kommt. Spiegel Online etwa hatte das Zitat am Morgen ganz oben.

Frisches Altpapier gibt es wieder am Freitag.