Das Altpapier am 1. Juli 2021Ein Dilemma des Wahlkampfes
Die Abschreibe-Vorwürfe gegen Annalena Baerbock sorgen auch innerhalb der Medienbubble für Diskussionen. Welche Relevanzkriterien sollten für sensible Themen im Wahlkampf angewendet werden? Inwiefern müssen Redaktionen aufpassen, sich nicht für "Kampagnen" einspannen zu lassen? Und welche Rolle spielt bei all dem auch noch der Rundfunkstaatsvertrag? Ein Altpapier von Nora Frerichmann.
Inhalt des Artikels:
Welche Relevanzkriterien sind angemessen?
Man kommt seit einigen Tagen nicht mehr an der aktuelle Wahlkampfsau vorbei, die grade durch‘s Mediendorf getrieben wird: Die Diskussion über die Abschreibe-Vorwürfe gegen die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Für unsere Kolumne sind dabei vor allem zwei Aspekte interessant: Einerseits die nachrichtliche Gewichtung und andererseits die wilden Vorwürfe der angeblichen Parteinahme, die verschiedener Medienhäuser untereinander umher werfen.
Zum Hintergrund: Es geht natürlich um die Vorwürfe des österreichischen Medienwissenschaftlers und Plagiatsgutachters Stefan Weber, der einige Passagen in Baerbocks Buch "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" so ähnlich bzw. teils fast bis auf Punkt und Komma in anderen Texten gefunden hat. Vergleiche einiger Textstellen gibt es u.a. in der Spiegel-Kolumne von Sascha Lobo. Seit dem 10. Mai beschäftigt Weber sich auf seinem Blog ausschließlich mit Baerbocks Lebenslauf und Veröffentlichungen. Er habe sich "in das Thema Baerbock verbissen", sagte er der dpa (Tagesspiegel).
Das Thema füllt diverse Artikel auf Nachrichtenportalen, auch, wenn es sich bei dem Buch nicht um eine wissenschaftliche Arbeit handelt und damit kein Titel verknüpft ist. Am Dienstagabend wurden die Vorwürfe in Nachrichtensendungen wie der "Tagesschau", "heute" und "RTL aktuell" aufgegriffen. Daran gab es Kritik.
Eine journalistische Herausforderung dabei sind die Fragen: Wie umgehen mit den Vorwürfen und Getöse aus den anderen politischen Lagern, wie gewichten? Vor allem jetzt im ja ohnehin schlammschlachtig geführten Wahlkampfes. Übermedien-Gründer Stefan Niggemeier schreibt dazu:
"man kann die Frage stellen, ob die Meldung überhaupt in die 'Tagesschau' gehörte. Ob es die üblichen Relevanzkriterien erfüllt, wenn ein Medienwissenschaftler in seinem Blog über eine Handvoll abgeschriebener 'Stellen' in einem Buch berichtet und es ihm dabei nicht einmal zu klein ist zu erwähnen, dass zahlreiche Absätze aus dem Buch der grünen Spitzenkandidatin fast wörtlich aus dem Parteiprogramm der Grünen übernommen wurden."
Andersherum hätte ein bewusstes Weglassen der Diskussion in den Sendungen vielleicht für noch mehr Wirbel gesorgt. Das kennen die Redaktionen ja von anderen Fällen, in denen bestimmte Tötungs-, oder Gewaltdelikte es nicht in die Nachrichtensendung geschafft hatten und es darauf Kritik an den redaktionellen Entscheidungen hagelte (siehe Altpapier). Niggemeier schreibt mit Blick auf den Baerbock-Fall:
"Vermutlich hätte es große Aufregung von interessierter Seite gegeben, wenn 'Tagesthemen' und 'Heute Journal' die Nachricht gar nicht erwähnt hätten – ich kann nicht ausschließen, dass bei der internen Entscheidung auch das eine Rolle spielte, aber ein richtig gutes Argument wäre auch das nicht."
Kampagne oder nicht Kampagne, das ist hier die Frage
Ein Grund dafür, dass die Diskussion auch abseits des Boulevards so groß geworden ist, könnte aber auch in der Reaktion der Grünen liegen. Statt einen Fehler einzuräumen schalteten sie den Medienrechtler Christian Schertz ein und verursachten ihrerseits ein lautstarkes Getöse bei Twitter.
Im Medienmagazin "@mediasres" beim Deutschlandfunk gibt Christoph Sterz im Gespräch mit dem RTL-Politikchef Nikolaus Blome außerdem zu bedenken, dass Redaktionen Gefahr laufen könnten, sich zu Multiplikatoren politischer Kampagnen zu machen, wenn sie zu schnell auf solche Diskussionen anspringen.
Bei RTL habe die Redaktion "selbstverständlich nach journalistischen Kriterien entschieden", ob die Meldung bedeutend genug für die Nachrichten war und sie dann in der Sendung einzuordnen, antwortete Blome in dem Gespräch. Er habe nicht das Gefühl, dadurch in irgendetwas mit hineingezogen zu werden:
"Kampagne ist ein sehr dehnbarer Begriff. Ich hab manchmal das Gefühl, dass aus der Sicht des Lagers A immer alles was das Lager B mach 'Kampagne' ist. Und aus der Sicht des Lagers B immer all das 'Kampagne' ist, was das Lager A macht. Also mit dem Begriff kann ich vergleichsweise wenig anfangen. Und ja, es gibt nachhaltige anhaltende Berichterstattung über Annalena Baerbock und jetzt raten sie mal warum: Die Frau möchte Kanzlerin werden."
Als politische Kampagne definiert etwa die Kommunikationswissenschaftlerin Ulrike Röttger eine "dramaturgisch angelegte, thematisch begrenzte, zeitlich befristete kommunikative Strategien zur Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit, die auf ein Set unterschiedlicher kommunikativer Instrumente und Techniken (…) zurückgreifen." Und klar, in der Politik und vor allem im Wahlkampf ist das das tägliche Geschäft.
Wenn diese Strategie aber darauf abzielt, politischen Gegnern gezielt zu schaden, spricht man vom Negative Campaigning. Angesprochen auf die Vorwürfe gegen Baerbock zu Ungenauigkeiten in ihrem Lebenslauf sagte der Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter des Instituts für Parlamentarismusforschung in Berlin, Benjamin Höhne, kürzlich dem ZDF:
"Ja, das geht deutlich in die Richtung Negative Campaigning, weil sie als Person unsachgemäß angegriffen wird und man Kalküle ihrer politischen Gegner*innen vermuten kann. Das läuft vor allem auch bei Social Media und hat nicht erst mit ihrem Lebenslauf angefangen. Es ging eigentlich bereits mit ihrem Geschlecht los. Sie war mit Fragen konfrontiert, die sich ein Mann nie gefallen lassen müsste. Wie zum Beispiel, ob sie als eine Frau mit 40 Jahren, das alles bewältigen kann, also Kinder, Familie und gleichzeitig ein Spitzenamt in der Politik. Sie war mit geschlechtsstereotypischen Fragestellungen konfrontiert, von denen man meinen möchte, dass sie die Gesellschaft schon längst überwunden hat."
Die jetzige Diskussion über Baerbocks Buch ist nochmal eine etwas andere Sache, vor allem im Zusammenhang mit der überbordenden Reaktion der Grünen. Aber nichtsdestoweniger stellt sie Redaktionen vor Herausforderungen, wenn sie die Wahlkampfsituation als ganzes berücksichtigen wollen. Niggemeier sieht dabei ein gewisses Dilemma:
"Der Fall zeigt, wie schwer es ist für Medien, insbesondere im Wahlkampf eine 'kleine Sache' (wenn man sie als solche betrachtet) als kleine Sache zu behandeln: Sie nicht zu ignorieren, aber ihr auch keine übergroße Bedeutung zu geben. Insbesondere eben dann nicht, wenn ihr gleichzeitig von allen Seiten aus unterschiedlichen taktischen Gründen riesige Bedeutung zugeschrieben wird. Und irgendwann überschreitet jede vermeintlich noch so läppische Sachen jegliche Mindestrelevanzgrenze, wenn alle darüber reden."
Neben der Gewichtung der Vorwürfe gegen Baerbock spielt aber auch das Narrativ des angeblich so grünenfreundlichen Journalismus vor allem der Öffentlich-Rechtlichen (zu denen ja auch der MDR gehört, bei dem das Altpapier erscheint) eine Rolle. Vor allem die Bild wirft öffentlich-rechtlichen Häusern wie dem WDR und ZDF vor, "einseitig Partei für Baerbock" zu ergreifen und die "krude Verschwörungstheorie" zu verbreiten, die Vorwürfe seien eine Kampagne gegen die Kanzlerkandidatin der Grünen. Auch bei "@mediasres" war das Thema:
"Besonders große Beachtung erhielt (...) ZDF-Rechtsexperte Felix Zimmermann. In mehreren Beiträgen erklärte der Journalist, ebenfalls auf Twitter, warum aus seiner Sicht nichts dran ist an den Vorwürfen gegen die Grünen-Politiker. Ein Thread, der tausendfach geteilt und dabei auch vielfach für seine angebliche Parteinahme kritisiert wurde. Die Bild-Zeitung nahm dann sogar den ganzen Sender in Verantwortung und machte aus dem Beitrag eines Einzelnen 'ZDF springt Baerbock bei'."
Die Linien des Wahlkampfes scheinen dieses mal mehr denn je in die Medienlandschaft selbst hineinzuragen (was aber irgendwie bei jeder Bundestagswahl auf‘s Neue diagnostiziert wird). Diesmal ist es aber an dieser Stelle vermutlich u.a. wegen der anstehenden Entscheidungen zu Auftrag und Struktur und Finanzen der Öffentlich-Rechtlichen noch etwas hitziger – auch wenn Rundfunkpolitik ja bekanntlich Ländersache ist und inhaltlich bei der Bundestagswahl keine große Rolle spielt.
Altpapierkorb (Änderung bei der ARD, Public Value bei Privaten, Bild von mutmaßlichem Würzburg-Täter, Bilder von Opfern)
+++ Schon gestern waren geplante Änderungen in den ARD-Programmen, vor allem bei den Politikmagazinen hier im Altpapier Thema. Für den Spiegel berichten nun Alexander Kühn und Anton Rainer über weitere Details der Umbau-Pläne von Programmdirektorin Christine Strobl – in denen auch die Konkurrenz mit dem ZDF eine Rolle spielen soll. Auch der Tagesspiegel und dwdl.de greifen das Thema nochmal auf.
+++ Wie über die Definition von Public Value nach dem Medienstaatsvertrag bei den Privaten entschieden werden soll, erklärt LfM-Chef Tobias Schmid bei der Süddeutschen im Gespräch mit Aurelie von Blazekovic (€). Dort heißt es zum Beispiel: "wir wollen nicht, dass Medien, die sich bemühen, auf der Strecke bleiben. Andererseits können wir die Kategorien nicht uferlos werden lassen. Wenn wir 500 Angebote leicht auffindbar machen, sind wir so weit wie zuvor. Wir müssen also einigermaßen streng sein und die richtige Flughöhe finden. Das wird nicht einfach."
+++ Das Foto, das die Bild von dem Mann veröffentlicht hat, der in Würzburg Menschen mit einem Messer umgebracht und schwer verletzt hatte, zeigte gar nicht den mutmaßlichen Täter, berichtet Marvin Schade beim MedienInsider. Die Bild hat den Fehler mittlerweile eingestanden und weit unten auf ihrer Webseite versteckt, wie Schade bei Twitter dokumentiert.
+++ Für den Bildblog will Mats Schönauer künftig genauer nachhalten, wann und wie die Bild Fotos von Opfern ohne Zustimmung der Angehörigen verwendet. "Um zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß 'Bild' auf diese Weise Profit aus dem Leid von Menschen zieht, wollen wir von nun an noch regelmäßiger dokumentieren, wie häufig die ‚Bild‘-Medien solche Fotos veröffentlichen." Ein Beitrag über die Mitte Juni verwendeten Bilder ist bereits online.
+++ Die Online- und Prinredakteur:innen sollen bei der Süddeutschen ab 2022 gleichgestellt werden, berichtet u.a. die taz.
+++ An der Uni Salzburg soll eine Europäische Medientransparenzdatenbank aufgebaut werden, berichtet der Standard. Mit dem Pilotprojekt der EU-Kommission sollen "die ökonomischen, politisch-regulatorischen und technischen Risiken von Medienkonzentration" abgeschätzt werden können, heißt es dort.
+++ Für die Zeit (€) hat Carolin Würfel die ehemalige DDR-Korrespondentin der Zeitung, Marlies Menge porträtiert.
+++ Wie Sloweniens Präsident plant, die Medien zu "dirigieren", steht beim Standard.
Neues Altpapier kommt am Freitag.
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