Teasergrafik Altpapier vom 29. Juli 2021: Porträt Autor René Martens
Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Das Altpapier am 29. Juli 2021 Herbert Reuls Anschlagspläne

29. Juli 2021, 13:28 Uhr

Der nordrhein-westfälische Innenminister fragt sich, ob es "klug" wäre, einer Bundesoberbehörde den "direkten Zugriff" auf öffentlich-rechtliche Radioprogramme zu ermöglichen. Davon, dass der Kernbereich der Rundfunkfreiheit die Programmautonomie ist, hat der Mann offenbar noch nie etwas gehört. Ein Altpapier von René Martens.

Das Rundfunkfreiheitsverständnis eines Landesministers

Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul ist Anfang der vorigen Woche dadurch aufgefallen, dass er die Verantwortung seines Ressorts (und damit auch seine eigene) für die Toten der Flutkatastrophe in Richtung Bürger wegzuschieben versuchte:

"Unser Problem ist, aber unser aller Problem, dass wir solche Gefahren nicht ernst genug nehmen."

In einer Sondersitzung des Landtags am Mittwoch, zu der es verschiedene dpa-Berichte gibt (in der SZ etwa einen kürzeren, in der Aachener Zeitung einen längeren) hat Reul nun eine ähnliche Platte aufgelegt. Auf den aus medienkolumnistischer Sicht interessanten Teil geht am ausführlichsten der "Stadt mit K"-Newsletter des Kölner Stadt-Anzeigers ein (mit Dank an @kubia für den Hinweis auf die folgende Passage):

"Eine Rüge von ziemlich hoher Stelle erging gestern an den WDR. 'Die Frage, ob einer der 47 Todesfälle in NRW zu vermeiden gewesen wäre, wenn die Menschen besser über die drohende Hochwasser-Gefahr informiert gewesen wären, treibt mich um', sagte Innenminister Herbert Reul bei der Sondersitzung des Innenausschusses im Düsseldorfer Landtag. Der Sender steht in der Kritik, weil er sein Programm in der Unwetternacht nicht verändert hatte. Reul denkt nun darüber nach, dem WDR die Verantwortung für Programmänderungen abzunehmen. O-Ton: 'Es könnte klug sein, wenn der Deutsche Wetter Dienst, der ja eine amtliche Behörde ist, künftig direkt auf den Rundfunk zugreifen kann.' Die Entscheidung über die Weitergabe von Warnungen dürfe künftig nicht bei den Sendern liegen."

Was redet der Bursche da? Gerade weil der DWD eine "amtliche Behörde" ist - Gibt es eigentlich auch nicht-amtliche Behörden? -, sollte er unter gar keinen Umständen "direkt zugreifen" können "auf den Rundfunk". Auch wenn sich "viele Sender in Deutschland verpflichtet haben, im Katastrophenfall Warnmeldungen der Behörden weiterzugeben" (Stefan Fries vergangene Woche bei @mediasres): Sie müssen immer noch selbst entscheiden, zu was sie sich "verpflichten". Denn: Der Kernbereich der Rundfunkfreiheit ist die Programmautonomie, siehe dazu etwa eine Entscheidung des Bundesverfassungerichts von 2007:

"Von der Freiheit öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist seine Programmautonomie umfasst. Die Entscheidung über die zur Erfüllung des Funktionsauftrags als nötig angesehenen Inhalte und Formen des Programms steht den Rundfunkanstalten zu. Eingeschlossen ist grundsätzlich auch die Entscheidung über die benötigte Zeit und damit auch über Anzahl und Umfang der erforderlichen Programme."

"Die Programmautonomie (…) richtet sich gegen jede Indienstnahme des Rundfunks für außerpublizistische Zwecke. In erster Linie bezieht sie sich daher auf Inhalt und Form der Rundfunksendungen. Es ist Sache der Rundfunkanstalten, aufgrund ihrer professionellen Maßstäbe zu bestimmen, was der Rundfunkauftrag in publizistischer Hinsicht verlangt."

Hat der Staatsbürger Reul im Kontext von medienpolitischen Diskussionen möglicherweise kein einziges Mal das Wörtchen "Staatsferne" aufgeschnappt? Reuls Worte klingen zum einen nach einem medienpolitischen Anschlagsplan und zum anderen - auch wenn man den WDR kritisieren muss für seine anfangs schlafmützige Berichterstattung (Altpapier) - nach einem erneuten Selbstreinwaschungsversuch.

Wie reden mit Traumatisierten?

Bleiben wir zumindest im Kontext des Themas Flutkatastrophe. Das Nieman Lab stellt einen vom Dart Center for Journalism & Trauma zusammengestellten "Style Guide for Trauma-Informed Journalism" vor, der für jene, die aus den aktuell Hochwasser betroffenen Gebieten berichten und aus künftigen Hochwassergebieten berichten werden, hilfreich sein könnte. In dem Guide heißt es unter anderem:

"Retraumatization (…) happens when a conscious or unconscious reminder causes a person to vividly and comprehensively re-experience the feelings, thoughts and occasionally memories of a past trauma as if it is occurring in the present (…) if a journalist pressures a survivor to give an interview and persists after the survivor asks to stop, this transgression may lead to the person experiencing the same feelings and reactions of helplessness and exploitation at the time of the traumatic event — this is a retraumatization."

Ich kann und will ja keiner Journalistin und keinem Journalisten unterstellen, dass sie in den Hochwassergebieten derzeit Interviewpartner unter Druck setzen, aber manche der Opfer scheinen mir in einer Verfassung zu sein, in der sie nicht unbedingt Interviews geben sollten.

Ex-SWR-Mann gegen Ex-SWR-Mann

Was verbindet folgende drei Herren im allerbesten Alter? Hermann Eicher, Jahrgang 1955, war von 1998 bis 2020 Justiziar des SWR, er ist einer der Big Names der öffentlich-rechtlichen Rundfunkjuristerei, und "gilt zu Recht als Vater des Rundfunkbeitrags" (Kai Gniffke). Stefan Siller, Jahrgang 1950, war von 1988 bis 2015 Redakteur und Moderator der Radiosendung "Leute" (ab 1998 beim SWR, davor beim Vorgängersender SDR). Und Karl "Charly" Geibel, Jahrgang 1941, ist seit 1998 Mitglied im Rundfunkrat des SWR.

Sie verbindet zweifellos, dass sie dem SWR verbunden sind. Sie verbindet aber auch, dass sie sich nun in einem Rechtsstreit gegenüber stehen: Eicher geht gegen Siller und und Geibel vor, Anlass ist eine Ausgabe des für die Wochenzeitung Kontext produzierten Podcasts "Siller fragt", bei der Geibel zu Gast war, und in der es um einen Fall geht, über den unter anderem Anfang Juli der Spiegel (€) unter der Überschrift "So geht der SWR mit #MeToo-Vorwürfen um" berichtete.

Josef-Otto Freudenreich schreibt für Kontext über diese presserechtliche Angelegenheit in eigener Sache:

"Siller und Geibel hatten darüber gesprochen, wie der SWR mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung umgeht, den die Redakteurin Sandra Dujmovic gegenüber einem (inzwischen ausgeschiedenen) Direktor erhebt. Sie selbst äußert sich zur Sache nicht, sie befindet sich in einem laufenden Gerichtsverfahren mit dem SWR. In dem Podcast wird auch die Rolle Eichers erörtert. Im Kern wird gesagt, er kenne den Fall Dujmovic genau, also auch die konkreten Tatvorwürfe, und er habe versucht, die Auseinandersetzungen mit der Mitarbeiterin gütlich zu lösen."

Eicher bewertet aber entweder das, was "im Kern" gesagt wird, anders, oder der - vermeintliche - Angriff auf "Eichers Ehre" (Kontext-Headline) findet sich jenseits des "im Kern" Gesagten. Oder beides. Denn:

"Diverse Äußerungen von Siller und Geibel will Eicher vom Landgericht Hamburg, das für solche Anliegen ein offenes Ohr hat, per einstweiliger Verfügung verbieten lassen."

Siller, "der Mann von 'Leute', der Kultsendung im SWR-Radio. 30 Jahre Unterhaltung mit Haltung, wie er es nannte, eine halbe Million Zuhörer am Tag", habe, so Freudenreich, "es nicht für möglich gehalten, dass ein hochrangiger Vertreter aus seinem alten Laden einmal einen Rundfunkrat in dieser Weise angreifen würde."

Nun, wahrscheinlich hätte es Siller auch nicht für möglich gehalten, dass jemand, der über Jahrzehnte sein Kollege war, ihn "in dieser Weise angreifen würde". Dass Sillers regionaler Podcast, der unter dem Dach einer feinen, aber doch recht kleinen Online-Wochenzeitung produziert wird (für die ich selbst bisher vier-oder fünfmal geschrieben habe), durch die Berichterstattung über den Verfügungsantrag eine Aufmerksamkeit bekommen könnte, die er sonst nicht bekommt  - das wird der Ausnahme-Medienjurist Eicher gewiss einkalkuliert haben.


Altpapierkorb (HAW-Studie zu Desinformation, Angst bei Gruner + Jahr, Jana Pareigis und das Gendern, Christian Ehrings Moderationsjubiläum)

+++ Fiete Stegers von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg stellt im Gespräch mit @mediasres eine Studie zum Thema Desinformation vor, in der unter anderem die Rolle von Messenger-Diensten ein Thema ist. Bei "Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Nachrichtenereignissen, wie jetzt der Flut", könne man "schon seit Jahren" beobachten, dass "dort aus dem Kontext gerissene Fotos verbreitet werden", sagt Stegers.

+++ "Wer weiterdenkt … erfindet seinen Beruf einfach selbst" – diesen Slogan fanden Stern-Leser*innen vor drei Wochen in einer Eigenanzeige des Verlags Gruner + Jahr. Die Reklame weist auf vermeintlich ungewöhnliche Karriereerfolgsgeschichten hin, die in dem Unternehmen möglich sind. Seinen Beruf selbst erfinden? Keine schlechte Idee, dürften sich einige Mitarbeiter*innen des Verlags mit dem Hang zum Galgenhumor beim Blick auf die Anzeige gedacht haben – weil sie fürchten, dass für sie kein Platz sein wird im möglicherweise bald entstehenden RTL/G+J-Konglomerat (siehe Altpapier). Die Entscheidung darüber, wie dieses Konstrukt genau aussehen wird, soll Anfang August fallen. Ich habe für die taz Nord über das Thema geschrieben.

+++ "Meine Sprache, Deine Sprache, Ihre Sprache: Ich möchte mich in meiner Sprache ausdrücken, mich darin wiederfinden, sie ist im persönlichen wie gesellschaftlichen Miteinander das, was mich ausmacht. Meine Sprache gehört mir. Die Sprache von Jana Pareigis gehört Jana Pareigis. Daran gibt es nichts zu kritisieren. In keiner Sprache" - mit diesen Worten kontert Joachim Huber im Tagesspiegel jenen, die meinen, sich darüber echauffieren zu müssen, dass Jana Pareigis in ihrer ersten "Heute"-Hauptnachrichtensendung genderte (siehe dazu auch kurz das Altpapier von Dienstag). 

+++ Christian Ehring feiert heute sein zehnjähriges Jubiläum als Moderator von "extra 3" - weshalb dwdl.de ihn interviewt. "In meiner sehr subjektiven Selbstwahrnehmung sind wir bereits ein Onlineformat mit linearer Zweitverwertung", sagt Ehring dort unter anderem.

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

0 Kommentare