Teasergrafik Altpapier vom 27. August 2021: Porträt Autor Annika Schneider
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Das Altpapier am 27. August 2021 Afghanistan brennt und keiner kommt hin

27. August 2021, 10:24 Uhr

Wer über das aktuelle Geschehen in Afghanistan berichten will, wird bedroht oder ausgeflogen – je nach Staatsangehörigkeit. Neuen Input zur Bundestagswahl liefern in den nächsten Tagen das erste Triell und der Wahl-O-Mat – je nach Geschmack. Im Ahrtal kursieren Q-Anon-Falschmeldungen. Ein Altpapier von Annika Schneider.

Afghanistan wird zum weißen Fleck

Die dramatische Situation in Afghanistan (im Altpapier schon am Dienstag und Mittwoch Thema) dominiert weiter die Titelseiten, jetzt mit den Anschlägen am Flughafen in Kabul, bei denen mindestens 70 Menschen getötet wurden (hier ein aktueller Tagesschau-Text). Dabei stellt sich immer dringlicher die Frage: Woher sollen in Zukunft fundierte Informationen zu der aktuellen Lage im Land kommen?

Eine Reihe deutscher Journalistinnen und Journalisten wollte zwar (trotz des hohen Sicherheitsrisikos!) vor Ort recherchieren, durfte aber nicht: Sie wurden vom US-Militär gegen ihren Willen ausgeflogen. Das betraf unter anderem einen Spiegel-Reporter, zwei Journalisten der Zeit und den Bild-Journalisten Paul Ronzheimer, dessen Ankunft in der Krisenregion am Donnerstag noch mit einer Titelschlagzeile angepriesen worden war ("BILD in der Hölle von Kabul"). Bei @mediasres im Deutschlandfunk sagte Ronzheimer gestern:

"Für mich ist es ein Eingriff in die Pressefreiheit, dass das US-Militär nicht allein die Macht für den Flughafen übernommen hat, sondern bestimmt hat, dass ich diesen Flughafen nicht verlassen durfte, nicht Richtung Kabul durfte und man mich damit an der Ausübung meines Berufs massiv und entscheidend behindert hat."

Auch der Fotograf, der ihn begleitete, wurde zur Abreise gezwungen. Michael Hanfeld fasst die Gesamtsituation in der FAZ folgendermaßen zusammen:

"Keine Journalisten, keine Zeugen, keine Nachrichten, nicht jetzt und schon gar nicht in Zukunft: Wenn die Amerikaner abgezogen sind, wird die Weltöffentlichkeit wahrscheinlich nur bruchstückhaft erfahren, welche Taten die Taliban ihren hehren Worten folgen lassen."

Natürlich gibt es durchaus Zeuginnen und Zeugen, nämlich die afghanischen Medienschaffenden, die noch im Land sind. Sie können zwar kaum berichten, weil sie von Taliban schikaniert und bedroht werden, aber einige haben ihre Erfahrungen anonym in einer Pressemitteilung von Reporter ohne Grenzen geschildert:

"Viele Sender sind gezwungen, Teile ihres Programms einzustellen, weil die neuen Machthaber in Kabul ihnen befohlen haben, die Scharia zu respektieren. (…) In den vergangenen Tagen haben die Taliban die einflussreichsten afghanischen Rundfunkmedien angewiesen, Video- und Audioaufnahmen mit Taliban-Propaganda zu senden. Wenn sich Medien weigern, ‚sagen die Taliban, es handele sich nur um Werbung und sie seien bereit, für die Ausstrahlung zu bezahlen. Sie bestehen darauf und verweisen auf unsere nationale oder islamische Pflicht‘, so ein Journalist."

Reporter ohne Grenzen zufolge gibt es aber auch physische Angriffe auf Journalisten und die Taliban planen ein Komitee zur "Beruhigung der Medien" – schon der Titel klingt nach einer Drohung. Besonders groß ist der Druck wohl abseits der Hauptstadt.

Hanebüchene Falschnachrichten im Flutgebiet

Als hätten die Menschen im von der Flutwelle überrollten Ahrtal nicht schon genug zu bewältigen, streuen Unbekannte im Katastrophengebiet weiterhin haarsträubende Falschmeldungen, von denen die harmloseste ist, dass keine roten Eimer ins Flutgebiet gebracht werden dürften. Andere, weit schlimmere Gerüchte sollen hier nicht wiederholt werden, sind aber in der heutigen Printausgabe der FAZ (S. 3, €) nachzulesen. Eine Meldung wurde demnach vor allem verbreitet von Personen, die dem Verschwörungsmythos Q-Anon anhängen.

"Es bleibt das große Rätsel, wer die ganzen Falschnachrichten in die Welt setzt",

schreibt FAZ-Autor Tobias Schrörs.

Es ist nicht nur skrupellos und grausam, die betroffenen Menschen mit falschen Ankündigungen immer wieder in Angst und Wut zu versetzen. Für die lokalen Behörden ist es auch unnötig zeitaufwendig, regelmäßig Gegendarstellungen zu verbreiten. Die Redaktionen der Lokalzeitungen recherchieren Gerüchten ebenfalls hinterher, brauchen aber naturgemäß ein Mindestmaß an Zeit, um Gehörtes zu überprüfen – und hätten wahrscheinlich auch Sinnvolleres zu tun, als auf irgendwelche Hirngespinste zu reagieren. Im Zweifelsfall entpuppen sich die dramatischen Behauptungen nämlich als haltlos und eine tagelange Recherche nach angeblichen Leichenfunden mündet nicht in einen Aufmacher, sondern in eine kleine Richtigstellung.

Besser lässt sich allerdings kaum zeigen, wie unverzichtbar guter Lokaljournalismus ist. Während die überregionale Debatte über die Flut, die fehlenden Warnungen und die politischen Folgen sich längst weitergedreht hat, geht es für die Menschen vor Ort immer noch um essenzielle Informationen – wie die, wo Flutopfer neue Papiere beantragen können und wem ein Winter ohne Gasheizung droht. Über solche Themen berichten weiterhin die Rhein-Zeitung und der General-Anzeiger.

In diesem Zusammenhang ist es wunderbar, dass es beim Deutschen Radiopreis eine Sonderauszeichnung für einen Lokalsender gibt, und zwar für Radio Wuppertal, das in der Flutnacht engagiert gesendet hat, bis die Stromversorgung abbrach (hier die entsprechende Ankündigung der Preisverleiher). Dass der Senderchef Georg Rose die Aufmerksamkeit zu nutzen weiß, um bessere Warnsysteme und in diesem Rahmen auch mehr Unterstützung für Lokalradios zu fordern, stand am Mittwoch im Altpapier.

Wahlkampf jetzt mit noch mehr Inhalt

Eine der aktuell meistdiskutierten Fragen, war gestern Thema in einem Bus voller Schülerinnen und Schüler in Köln, schätzungsweise aus der sechsten Klasse. Wer wohl Kanzlerin oder Kanzler wird, wollte einer wissen, debattiert wurde dann über "diese Anna von diesen Grünen" und "den Bestimmer von NRW", an dessen Namen sich keiner erinnerte. Den SPD-Kandidaten erwähnte niemand, dafür ging es auch um Inhalte: "Die Linken wollen Flüchtlinge aufnehmen, die Rechten nicht", wusste einer. "Dann bin ich für die Linke", lautete die flotte Antwort eines Mitschülers.

Wer es sich mit der Wahlentscheidung nicht ganz so einfach machen will: Am Sonntag um 20.10 Uhr senden RTL und ntv das erste von drei Fernseh-Triellen, moderiert von Pinar Atalay und Peter Kloeppel, für alle ohne Fernseher zu sehen im ntv-Livestream. Zwei Wochen später, am 12. September, folgen ARD und ZDF mit einem öffentlich-rechtlichen Triell und am 19. September treffen die Kanzlerkandidatin und Kanzlerkandidaten bei ProSieben, Sat.1 und Kabel Eins ein drittes Mal aufeinander. Einen Überblick hat – neben vielen anderen – der Spiegel veröffentlicht.

Es geht aber auch mit noch mehr Inhalt: Ab kommenden Donnerstag steht der Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl online. Er bietet nicht nur einen Abgleich der eigenen Positionen mit den Parteiprogrammen, sondern zwingt die Parteien auch, ihre Positionen ohne viel Geschwurbel kurz und knapp zu begründen. So viel geballten Inhalt, ganz ohne verworren-nervige Ablenkungsmanöver, hat dieser Wahlkampf bis jetzt noch nicht oft gesehen.

Dazu ein kleiner Netzfund: Es gibt tatsächlich YouTuber, die den Wahl-O-Mat live vor der Kamera "durchzocken" – zu sehen beispielsweise hier, inklusive hysterischem Lachanfall bei der Anzeige der Ergebnisse.

Altpapierkorb (Loblied auf Eva Schulz, hinter den Kulissen von "Bild live", Springer kauft Politico)

+++ Noch einmal Wahlkampf: Baerbock, Laschet und Scholz lassen sich alle drei auch von Eva Schulz interviewen, die den Funk-Podcast Deutschland3000 hostet. Ulrike Nimz stellt in der SZ (€) die "junge Stimme der Öffentlich-Rechtlichen" vor, die demnach von diesem Label ziemlich genervt ist. Schulz sei "souverän und witzig und streitbar. So viele Unds sind für Frauen im gebührenfinanzierten Unterhaltungsfernsehen ja gar nicht vorgesehen, jedenfalls, wenn man der Einschätzung einzelner, stets männlicher, Programmchefs glaubt", lautet die etwas spitze Einordnung.

+++ Der Start des Bild-eigenen Fernsehsenders ist am Dienstag im Altpapier schon einmal ausführlich Thema gewesen. Die These, dass Deutschland mit dem neuen Kanal ein eigenes "Fox News" bekommen habe, war immer wieder zu hören. Stefan Niggemeier hat bei Übermedien (€) schon erklärt, dass dieser Vergleich hinkt, weil "Bild live" sich nicht eindeutig rechts positioniert. Der frühere Bild-Politikchef Georg Streiter kommt zu dem Schluss, dass Bild die AfD zwar nicht groß rausbringt, aber ihre Sprache spricht – zu sehen in einem 16-minutigen NDR-Zapp-Beitrag von Daniel Bouhs, der die Bild-Fernsehredaktion zum Sendestart besucht hat. Das Video ist ein fundierter Überblick für alle, die mehr über das neue Programm wissen wollen, ohne selbst Lebenszeit in den Konsum der krawalligen Berichterstattung zu investieren. Ich unterstelle, dass Daniel Bouhs zu dem Thema gerne mehr Frauen interviewt hätte, aber da gab es bei Springer wohl nicht so viele Möglichkeiten.

+++ Während "Bild live" sich im Linearen warmläuft, gibt Axel Springer weiter Geld aus: Der Medienkonzern hat die US-Nachrichtenseite Politico erworben – für eine "Rekordsumme", die turi2 zufolge bei über einer Milliarde Euro liegen könnte. Was Springer mit Politico vorhat, hat der Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner gestern in einem Interview im  "Handelsblatt" (€) erklärt. Mehr dazu gibt‘s auch im Spiegel zu lesen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

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