Teasergrafik Altpapier vom 8. September 2021: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 8. September 2021 Falsche Zurückhaltung

08. September 2021, 15:42 Uhr

Gendersternchen, Lastenräder und Currywurst-Fragen sind im Wahlkampf wichtiger als Halle, Hanau und die Pandemie. Die dpa und der MDR verwenden den Begriff "mutmaßlich" in einem falschen Kontext. Ein Altpapier von René Martens.

Ablenkungsmanöver

Dass sehr wichtige Themen im Bundestagswahlkampf eine zu geringe Rolle spielen - diese Kritik hört man alle vier Jahre, mit im Detail natürlich unterschiedlichen, da jeweils von der aktuellen Situation abhängigen Begründungen. Die Leerstellen im aktuellen Wahlkampf scheinen mir aber noch mal besonders bemerkenswert zu sein. Margarete Stokowski schreibt in ihrer Spiegel-Kolumne:

"Wie kann es sein, dass der Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Polizeigewalt und rechtsextreme Hetze kaum eine Rolle im Wahlkampf spielt? Es ist nicht nur ein Problem der Parteien und ihrer Kandidat*innen. Es ist auch ein Problem der Journalist*innen, die sie interviewen. Warum werden Politiker*innen häufiger gefragt, wie sie zum Gendern in irgendwelchen Texten stehen, als dazu, was sie gegen rechten Terror tun wollen, und wie sie mit rechtsextremen Netzwerken in Polizei und Bundeswehr umgehen wollen? Im Moment ist es so, dass Gendersternchen, Lastenräder und Currywurst im Wahlkampf bisher eine größere Rolle gespielt haben als die Morde von Halle und Hanau und wie man solche Taten verhindern kann."

Gendersternchen, Lastenräder, Currywurst - in Anlehnung an Lutz Hachmeister ließe sich da also sagen, dass die "ephemeren und unsinnigen Auseinandersetzungen, die für die Gesellschaftsentwickung gar nichts bedeuten", eine vergleichsweise große Rolle spielen. Das Zitat stammt übrigens aus einem @mediasres-Interview, das Altpapier-Autorin Annika Schneider geführt hat. 

Das andere eigentlich große Thema, das mehr als ein Jahr lang ja sogar das Thema aller Themen war, nun aber "im Wahlkampf quasi keine Rolle spielt", benennt Stokowski auch: "die Bekämpfung der Pandemie":

"Als wäre völlig ausgemacht, dass wir einfach sehenden Auges in die nächste Welle laufen, mit durchseuchten Kindern und zu wenig Geimpften (…) Und mit Todesfällen, die vermeidbar wären. Ohne allzu pathetisch zu werden, kann man schon mal fragen: Sollte es nicht oberstes Ziel sein, das zu bekämpfen, was uns alle töten kann?"

Die Strategie, das Thema "quasi keine Rolle" spielen zu lassen, beruht ja, zynisch gesagt, auf der Hoffnung, dass die Lage erst nach dem 27. September eskaliert, so dass sich der mögliche Unmut der Wahlberechtigten noch nicht im Wahlergebnis niederschlägt. Ob dies so kommen wird - da bin ich mir etwa angesichts dieser dpa-Meldung ("Schon jetzt gebe es in Nordrhein-Westfalen keinen freien Platz mehr für die Behandlung mit einer Herz-Lungen-Maschine") nicht sicher.

Team Todessekte gegen Neuseeland

Es gibt ja zumindest ein paar Länder, in denen es das "oberste Ziel" ist, "das zu bekämpfen, was uns alle töten kann“, und zu ihnen gehört Neuseeland. In Deutschland, wo das Team Todessekte stark ist und die Humanität auf verlorenem Posten steht, ist die für diese Strategie verantwortliche Premierministerin Jacinda Ardern bei den üblichen Verdächtigen zu einer Hassfigur geworden. Eine entsprechende Falschberichterstattungs-Kampagne (Schlagwort: "Neuseeland scheitert mit Null-COVID-Strategie") greift der Volksverpetzer auf.

Die Plattform schickt erst einmal folgende Zahlen vorweg: In Neuseeland starben während der Pandemie insgesamt bisher 27 Menschen, das wären auf hiesige Verhältnisse bzw. Bevölkerungszahlen übertragen 451 Menschen. Tatsächlich gibt es in Deutschland aber bisher "über 92.000" Todesopfer. Zu den Hintergründen der "Fake News über Neuseeland" heißt es im Text:

"Die deutsche Berichterstattung basierte auf einer Pressemitteilung der AFP (Agence France Press). Diese sprach davon, dass Neuseeland nach dem Delta-Ausbruch seine Herangehensweise 'in Frage stellen' würde. Gemeint war nicht NoCovid, sondern der Umgang mit Corona davor – vor allem die extrem langsame Impfkampagne. Und aus diesem 'in Frage stellen' bastelte die deutsche Berichterstattung wiederum ein Eingeständnis eines Versagens, und unseriöse Medien wie Welt und Bild sponnen offenbar mit dieser Falschmeldung, die auf einer Halbwahrheit beruht, wieder ihre eigene Fantasiewelt, die dann nichts mehr mit der Realität gemeinsam hat (…) Wie leider extrem oft bei der Welt in letzter Zeit. Im Produzieren von gefährlichen Falschmeldungen steht sie ihrem Schwesterblatt inzwischen in nichts mehr nach."

Sowohl der Volksverpetzer als auch die frei für deutsche Medien arbeitende Neuseeland-Korrespondentin Anke Richter - in einem Beitrag für Radio New Zealand und einem weiteren für Übermedien unter der Überschrift "Die falschen Abgesänge auf Neuseelands Anti-Corona-Strategie" - gehen ausführlich auf einen als "Meinung" rubrizierten Beitrag der Welt ein. In einer Art Vorspann steht dort Folgendes:

"Infizierte werden in Lager gesperrt und wie Terroristen gejagt, wenn sie Quarantäne-Regeln brechen. Politiker raten Bürgern, nicht mit den Nachbarn zu sprechen. Australien und Neuseeland zeigen, wohin die No-Covid-Strategie führt."

Die hier zum Ausdruck kommende Gesinnung ordnet Richter für Übermedien folgendermaßen ein:

"Das Wort 'camps' (Lager) für Quarantänehotels hat bereits letztes Jahr amerikanische Demagogin Laura Ingraham auf Fox News benutzt – und Neuseelands kürzlich verhafteter Verschwörungstheoretiker Billy Te Kahika Jr, der für die angeblichen 'politischen Gefangenen' in diesen Einrichtungen protestierte. Vor allem im deutschen Kontext assoziiert man mit "Lager" Schlimmstes. Es ist Wasser auf die Mühlen von Querdenkern und Impfgegnern, die sich gerne mit Verfolgten des Naziregimes vergleichen."

Richters Einschätzung der deutschen Ferndiagnosen:

"Hinter der Häme könnte man Neid vermuten. Dass ich im tiefen Süden seit über einem Jahr ein Corona-freies Paradies mit Hochzeiten, Musikfestivals und Skiurlaub genießen durfte, liegt allein daran, dass so frühzeitig auf die ersten Community-Übertragungen reagiert wurde."

Und in ihrem Beitrag für Radio New Zealand, der teilweise mit dem für Übermedien identisch ist und wiederum vom Volksverpetzer zitiert wird, schreibt sie diesbezüglich:

"Ich habe Mitleid mit dem Neid, der aus dem Leid kommt. Aber ich verabscheue ein falsches Narrativ, das der schädlichen politischen Agenda der Impfgegner- und Anti-Lockdown-Beeinflusser dient.”

Wenn das Wörtchen "mutmaßlich" einen Sachverhalt vernebelt

Begonnen hat am Dienstag der Prozess über den zumindest in Deutschland beispiellosen Angriff von zwei Rechtsextremisten auf zwei Journalisten im thüringischen Fretterode (siehe zuletzt dieses Altpapier), bei dem sich eines der Opfer einen Schädelbruch zuzog (SZ-Vorbericht von Dienstag, €).

Bei der Berichterstattung ist mir aufgefallen, dass die dpa die Angeklagten aus der Neonazi-Szene als "mutmaßliche Rechtsextreme" bezeichnet. Siehe etwa einen Vorbericht bei der Thüringischen Landeszeitung. In einem anderen dpa-Text fällt die Formulierung "werden der rechtsextremen Szene zugerechnet" - als ob die Nachrichtenagentur nicht in der Lage wäre, die entsprechenden Quellen einzuschätzen.

Dabei ist seit der Tat im April 2018 rauf und runter dokumentiert worden, dass die Angeklagten rechtsextrem sind, am ausführlichsten hier. Der eine Angeklagte war zum Zeitpunkt der Tat stellvertretender Vorsitzender der NPD in Niedersachsen und Vorsitzender des Göttinger Kreisverbandes (siehe ein ND-Artikel aus dem Januar), der andere ist heute in der Schweiz Teil des Blood-&-Honour-Netzwerks (siehe die WoZ aus Zürich und "Report München" bzw. Altpapier)

Leider verwendet auch der MDR Thüringen in einem nachrichtlichen Text zum Prozessauftakt die Formulierung "mutmaßliche Rechtsextreme". In der Textankündigung für einen am Abend im "MDR Thüringen Journal" gesendeten Beitrag findet sich die Formulierung ebenfalls. Desgleichen in der ARD-Mediathek. Meine Kritik bezieht sich nur auf den textlichen Teaser; den zwei Minuten langen TV-Beitrag, der auf diese Weise angekündigt wird, finde ich Rahmen des Formats angemessen.

Wer die Täter sind, ist aufgrund von Fotoaufnahmen des Überfalls bestens dokumentiert. Dennoch ist es journalistisch geboten, von mutmaßlichen Tätern zu sprechen, so lange sie nicht rechtskräftig verurteilt sind. Die Formulierung "mutmaßliche Rechtsextreme" dient aber der Vernebelung des Publikums. Im Nachbericht der Thüringischen Landeszeitung ist dann übrigens korrekt von "mutmaßlichen Angreifern aus der rechtsextremen Szene" die Rede.

[Anm. d. A., 15.15 Uhr: dpa hat nach unserer Kritik die "mutmaßlich"-Formulierung geändert.]

Zum Tod des "The Wire"-Darstellers Michael K. Williams

Ob "The Wire" nun die beste Serie der TV-Geschichte ist (vgl. FAZ 2008, Watson 2017) - darüber zu diskutieren, ist diese Kolumne nicht der geeignete Ort. Dass Omar Little "one of the most memorable characters on a show that was full of them" war, wie es Jonathan Abrams in der New York Times (€) formuliert, kann man an dieser Stelle aber betonen. Beziehungsweise: Man muss es leider. Denn Anlass der zitierten Würdigung ist, dass Michael K. Williams, der Mann, der Omar Little spielte, im Alter von 54 Jahren gestorben ist.

Im Spiegel-Nachruf auf "eine Symbolfigur" schreibt Tobi Müller:

"Omar Little war der Robin in der Hood, der Kriminelle, der ethischer handelte als jeder Gesetzeshüter. 'I never put no gun on no citizen', belehrt er den weißen Staatsanwalt im Gerichtssaal – nie würde er die Waffe auf einen normalen Bürger richten."

"Die Chance, in dieser Fernsehserie einem schwulen schwarzen Mörder in den Projects von Baltimore Verletzlichkeit und Würde zu geben, nutzte Williams mit großer schauspielerischer Kraft. Das ist jenseits von Sozialdrama. Das blieb, wie die ganze Serie, stets realistisch und überführte das Überleben in den vor sich hin rottenden Innenstadtbezirken doch zu einem irgendwo Shakespeare’schen Drama um Selbstbehauptung und Respekt unter schwierigsten Umständen."

Jonathan Abrams erwähnt in seinem NYT-Text auch ein Beispiel dafür, dass Williams "The Wire" auf eine Weise geprägt hat, die über das Wirken eines Darstellers hinaus ging:

"He discovered Felicia (Snoop) Pearson at a Baltimore nightclub, brought her to the set and insisted the show find a role for her. Pearson had never acted before. Her character — a ruthless foot soldier — shared her real name. And her ability to depict a killer with a detached personality once led the horror writer Stephen King to describe her as 'perhaps the most terrifying female villain to ever appear in a television series.'”

Tobi Müller kommt in seinem Spiegel-Text schließlich noch auf Williams’ Drogenabhängigkeit zu sprechen:

"Dass ausgerechnet Michael K. Williams den harten Drogen verfiel, ganz offenbar erst seit seiner Arbeit für 'The Wire', und jetzt daran starb, ist neben der Nachricht seines Todes eine doppelt beunruhigende Botschaft: Es heißt zum einen, dass auch das beste Fernsehen der Welt die Realität seiner Darsteller vielleicht ausbeutet. Und es heißt zum anderen, dass die Fiktion so mächtig in einem Leben werden kann, dass die Darsteller ihre Grenzen übersehen."


Altpapierkorb (schlechte Arbeitsbedingungen bei rheinland-pfälzischen Regionalzeitungen, die Zukunft der Kunstform Hörspiel, "Wahlarena", "Kennzeichen D")

+++ Ein Artikel in der SZ über Personalien im rheinland-pfälzischen Regionaljournalismus beginnt so: "Wenn der Trierische Volksfreund über die Regierung in Rheinland-Pfalz berichtete, war der Autor klar. Florian Schlecht. Schlecht ist 38 Jahre alt, er hat bei der Zeitung volontiert und sich einen Namen gemacht für gute Analysen. Wenn die Rhein-Zeitung die Aussprache des Mainzer Landtags kommentierte, war der Autor klar. Carsten Zillmann (…) Wenn die Allgemeine Zeitung über den Flughafen Hahn... der Autor hieß Ulrich Gerecke. Alle drei Männer haben etwas gemeinsam, sie waren bis vor Kurzem Landeskorrespondenten ihrer Zeitungen oder sind es noch ein paar Wochen - und sie alle wechseln als Sprecher in Ministerien." Dass gleich drei Landespolitikexperten aus Rheinland-Pfalz einen Job im Ministerium attraktiver zu finden scheinen als ihren bisherigen im Journalismus, sagt natürlich viel aus über die Arbeits- und Rahmenbedingungen in den Zeitungsredaktionen, die sie verlassen.

+++ Einen Bericht zu der Jurysitzung und der Verleihung des 70. Hörspielpreises der Kriegsblinden nimmt Hans-Ulrich Wagner für die Medienkorrespondenz zum Anlass, auch auf die derzeitige "Umbruch"-Situation für das Genre Hörspiel einzugehen: "Wird Radiokunst weiterhin wirklich gewollt? Und wird sie von den Verantwortlichen in den Sendeanstalten entsprechend möglich gemacht? Das Feiern anlässlich des 70. Geburtstags des renommiertesten Hörspielpreises darf nicht den Blick darauf verstellen, dass es (…) bei den öffentlich-rechtlichen Sendern gravierende Verschiebungen gibt hin zu einem Kulturverständnis, das das Unterhaltsame und Leichtkonsumierbare zum Maßstab nimmt. Kunst im Radio liefert, wenn sie richtig gut ist, aber etwas anderes, nämlich den Wechsel von Perspektiven, das Durchdringen von Komplexität, das Schaffen von Frei- und Denkräumen."

+++ Übermedien geht darauf ein, dass in der ARD-"Wahlarena" mit Annalena Baerbock in der Rolle des Normalbürgers ein Mann auftreten durfte, der sich als "Chirurg im Ruhestand" vorstellte, aber nicht erwähnte, dass er Mitglied der AfD-Bürgerschaftsfraktion in Lübeck ist (was wiederum der für die Sendung verantwortliche NDR durchaus wusste).

+++ Morgen vor 50 Jahren lief im ZDF zum ersten Mal das Politmagazin "Kennzeichen D". Einer, der dabei war, der heute 81 Jahre alte Joachim Jauer, blickt für den Tagesspiegel zurück - und deutet an, dass er eine zumindest entfernt ähnliche Sendung heute vermisst: "Kurz nach der Wende bilanzierte die Wochenzeitung Die Zeit die Arbeit von 'Kennzeichen D' in Zeiten der deutschen Teilung unter dem Titel ‚Ausgefuchster Diplomat‘ (…) 'Kennzeichen D' wurde gegen zahlreiche Proteste, vor allem aus dem Osten, am 14. März 2001 zum letzten Mal ausgestrahlt (…) Doch heute ist noch immer Dialog und Dolmetschen im vereinten Land vonnöten. Die Position des 'ausgefuchsten Diplomaten' blieb vakant."

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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