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Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Das Altpapier am 9. September 2021Besser über die Klimakrise berichten

09. September 2021, 12:56 Uhr

Was Journalisten und Journalistinnen für die Berichterstattung über die Klimakrise aus der Corona-Pandemie lernen können. Wo dabei Aktivismus anfängt und Journalismus aufhört ist aktuell eine stets präsente Streitfrage. Außerdem, hatte etwa Horst Schlämmer seine Finger bei der Vergabe des Ehrenpreises beim Deutschen Fernsehpreis im Spiel? Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Lektionen aus der Pandemie

Über Herausforderungen für die Berichterstattung durch die Corona-Pandemie und Veränderungen in Redaktionen haben wir hier im Altpapier und bei MEDIEN360G schon oft gesprochen bzw. geschrieben. Und für viele Journalistinnen und Journalisten dürften die vergangenen eineinhalb Jahre deutlich anstrengender gewesen sein, als es der Job ohnehin verspricht. Die dabei gewonnenen Erfahrungen könnten nun für die Berichterstattung über den Klimawandel hilfreich sein.

Das jedenfalls ist eine These, die Wolfgang Blau, ehemals Chefredakteur von Zeit Online und zuletzt Chef von Condé Nast International, im Journalist skizziert. Blau ist aktuell als Gastprofessor am Reuters Institute for the Study of Journalism der Universität Oxford, wo er die Rolle des Journalismus in der Klimakrise untersucht. Der Journalist hat den Text nun in seiner Reihe "Mein Blick auf den Journalismus" veröffentlicht. Im Juli war das Stück bereits beim NiemanLab auf Englisch erschien.

Bevor es zum Blau-Text geht, aber kurz noch zu Emily Atkin. Die Klimajournalistin und Herausgeberin des Newsletters Heated kam auf dieser Altpapier-Bühne schon mehrfach zu Wort. In Brian Stelters "Reliable Sources" bei CNN sagte sie Anfang Juli (deutsche Übersetzung von Blau, der sie im Text zitiert):

"Wir wenden die Lektionen aus der Covid-19-Pandemie nicht an, wo wir eine globale Krise haben und die gesamte Nachrichtenredaktion mobil macht, um über diese Krise zu berichten. Wir verstehen, dass die Pandemie jeden einzelnen Bereich unseres Lebens infiltriert. Es gibt heute keine Entschuldigung für Reporter, die die grundlegenden wissenschaftlichen Fakten von Covid-19 nicht verstehen. Warum ist das beim Klimawandel nicht genauso?"

Durch die Corona-Pandemie habe sich einiges verändert, schreibt Blau. Er hat darüber etwa mit Sven Stockrahm, dem Leiter des Wissensressorts von Zeit Online gesprochen. In den vergangenen 18 Monaten habe sich in dem Newsroom vieles verändert:

"‘Natürlich war unser Arbeitspensum enorm, wir freuen uns aber auch, wie normal es jetzt für alle Teams in unserer Redaktion geworden ist, sich mit der Wissenschaftsredaktion abzustimmen, bevor sie eine Geschichte zu Covid-19 veröffentlichen. So viel interdisziplinäre Zusammenarbeit mit unserer Wissenschaftsredaktion ist neu‘, sagt Stockrahm. Und sie könnte ein Modell dafür sein, wie Nachrichtenorganisationen in Zukunft über die Klimakrise berichten."

Aber nicht nur bei redaktionsinternen Prozessen, auch für die konkrete Berichterstattung über wissenschaftliche Details sieht Blau Potenziale für den Journalismus. In der Coronakrise hätten beispielsweise viele große Nachrichtenmedien einige Basisfakten und Metriken innerhalb weniger Monate etabliert.

"Dies gelang ihnen durch konsequente Wiederholung, durch gut sichtbare Erklärmodule in ihren Texten und durch prominent platzierte, dynamisch aktualisierte Grafiken auf ihren Sites. Die Pandemie hat auch einige herausragende Beispiele von interaktivem Journalismus hervorgebracht, die Basiswissen zum Virus und seiner Übertragung vermitteln."

Das lasse sich auch für die Klimakrise nutzen, schreibt Blau. Ohne Grundkenntnisse zu den Klimaveränderungen sei es für Leserinnen und Leser kaum möglich, die Nachrichten zur Klimakrise einzuordnen. Um effektiv berichten zu können, seien Redaktionen also auch ein Stück weit darauf angewiesen, dass das Publikum ein gewisses Basiswissen hat. Blau schlägt deshalb vor:

"Vom Covid-Journalismus zu lernen, könnte also bedeuten, dass Nachrichtenorganisationen nur eine kleine Anzahl von Schlüsselkennzahlen für die Klimakrise auswählen, zum Beispiel den globalen CO2-Wert in ppm und den prozentualen Anteil der erneuerbaren Energien am nationalen Energiemix des eigenen Landes. Diese wenigen Kennzahlen wiederholen, erklären und aktualisieren sie dann regelmäßig. Bloomberg Green experimentiert bereits damit, ausgewählte Klimadaten in alle seine Texte einzubetten. Der britische Guardian veröffentlicht in seiner täglichen Print-Ausgabe globale CO2-Werte."

Adlerperspektive statt Kurzatmigkeit

Solche Strategien, kontinuierlich Kontext herzustellen wären vermutlich im Sinne von Bernhard Pörksen. Über seine Kritik an der Kultur der Kurzfristigkeit in der medialen Berichterstattung hatte Altpapier-Kollege Ralf Heimann in einer Kolumne aus dem August berichtet. Etwas später konkretisierte der Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, momentan Fellow des Thomas Mann House in Los Angeles, diese Kritik nochmal bei @mediasres mit Blick auf die Klimakrise. Er kritisiert eine "Atmosphäre der radikalen Gegenwartsfixierung" und "des totalen Jetzt".

"Und dieses geistige Klima steht vollkommen im Widerspruch zu dem Krisen- und Katastrophen-Typus des Klimawandels. Der verlangt nämlich das langfristige Denken, das Denken in der langen Linie, die grundsätzliche Auseinandersetzung (...)."

Er spricht sich für eine Art Journalismus aus, "der aus der Adlerperspektive Entwicklungen sortiert". Das bedeute auch, Nachhaltigkeit als Nachrichtenfaktor zu begreifen und globale Lösungsmöglichkeiten zu präsentieren, eine effektive Formen des Krisenmanagements einzufordern.

Aktivismus oder Journalismus

Aber gleitet das nicht ab in den Aktivismus, höre ich da jetzt einige quasi denken. Dazu möchte ich nochmal einen Offenen Brief von der Journalistin Sara Schurmann (dokumentiert bei Übermedien) aus dem vergangenen Jahr rauskramen. Sie schrieb:

"die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels als vierte Gewalt zu kontrollieren, ist kein Aktivismus. Es ist wissenschaftlich, menschlich und journalistisch geboten. Wir Journalist:innen können das Versagen der Politik nicht einfach nur protokollieren. Politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die zur Nicht-Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels führen, sind nicht bloß eine Seite einer Geschichte, die wir zu Wort kommen lassen müssen. Die Klimakrise ist akut bedrohliche Realität. Diese Realität immer wieder möglichst akkurat abzubilden und Politik und Gesellschaft vorzuhalten, ist Aufgabe des Journalismus und unsere zentrale Funktion innerhalb der demokratischen Meinungsbildung."

Ich persönlich finde die Argumentation ziemlich schlüssig. Schließlich wird auch Wirtschaftsjournalismus nicht gleich mit Lobbyismus gleichgesetzt.

Blau schlug dazu kürzlich im Gespräch mit dem ORF unter anderem vor, dass Redaktionen in ihren Statuten klar definieren sollten, wann Berichterstattung als Aktivismus gilt. Er sieht die umfassende Berichterstattung über die Klimakrise übrigens nicht nur als ethische Verantwortung, sondern mit Blick auf den Reuters Digital News Reports 2021 auch ganz pragmatisch als eine Art Quotenfrage:

"In diesem letzten Jahr der konsequenten Berichterstattung über die Pandemie – einem sehr komplexen, oft beängstigenden Thema – ist das Vertrauen in die Nachrichtenmedien wieder gewachsen, im Durchschnitt um sechs Prozentpunkte und in Deutschland sogar um acht Prozentpunkte. Für Nachrichtenorganisationen dürfte es kaum einen direkteren Weg geben, um für junge Leser, Zuschauer und Zuhörer relevant zu sein, als jetzt damit zu beginnen, mindestens ebenso intensiv über die Klimakrise zu berichten wie über Covid-19."

Und ja, das Interesse speziell auch an Journalismus zum Klimawandel dürfte vor allem unter jungen Menschen groß sein. Das legt erneut eine gestern veröffentlichte Umfrage aus Österreich nahe (Ergebnisse zu Medien und Klimawandel ab Seite 8). Mehr als die Hälfte der jungen Menschen unter 30 Jahren im Nachbarland fühlen sich demnach nicht ausreichend über die Klimakrise informiert. 70 Prozent aller Befragten insgesamt äußerten großes oder sehr großes Interesse an dem Thema. U.a. der Standard berichtet über weitere Details:

"Sehr gut über das Thema informiert fühlen sich 23 Prozent, 38 eher gut. 35 Prozent bewerten ihren Informationsstand mittelmäßig, acht und fünf Prozent weniger oder gar nicht gut."

Auch in Deutschland scheinen Medienhäuser erkannt zu haben, dass bei Vermittlung von Klimainfos und der Entwicklung der Klimakrise abseits des Nerdtums eine Lücke klafft oder zumindest lange klaffte. Hier werden grade viele neue Formate und Projekte in die Aufmerksamkeitsarena geworfen, wie etwa "Klima.Neutral" (WDR bei Instagram), das knappe "Klima Update" bei RTL, das Projekt "Klimamonitor" der Süddeutschen oder ganz aktuell das gestern eingeführten Ressort "Green" bei der Zeit. Wie sie es schaffen, Basisinfos zu etablieren und den Blick über den Tellerrand der hektischen Klein-Klein-Berichterstattung zu lenken, wird hier im Altpapier weiter beobachtet...

Deutscher Fernsehpreis

Zum Schluss aber kurz nochmal zu einer kleinen Preismeldung: Der Ehrenpreis geht nämlich, wie gestern verkündet wurde, an Horst Schlämmer bzw. an dessen Schöpfer Hape Kerkeling (siehe u.a. Standard und Meedia).

Gerade arbeitet der Kölner Sender an neuen Projekten mit Kerkeling, der sich in den letzten Jahren als öffentliche Person sehr rar gemacht hat. Ist es Zufall oder hat man von RTL-Seite nachgeholfen, dass man dem Mann in besten Jahren nun, kurz vor Bekanntgabe dieser Projekte, bei der selbst ausgerichteten Gala die große Huldigung erweist?

Lebenswerk mit 56, überreicht beim neuen Arbeitgeber, da könnte glatt Horst Schlämmer seine Schweißfinger im Spiel haben.


Altpapierkorb (TV-Triell, Beauftragte für Informationsfreiheit kritisiert Scheuer, Berichterstattung über Privatsphäre bei Whatsapp, öffentlich-rechtliche Archive)

+++ Am Sonntag steht das zweite TV-Triell an. Alexander Krei hat für dwdl.de mit der ZDF-Moderatorin Maybrit Illner über ihre Strategie dafür gesprochen.

+++ Für seine Sperenzchen mit Journalisten wurde der Vorzeigeminister Andreas Scheuer nun vom Bundesbeauftragten für Informationsfreiheit gerügt. Laut Netzpolitik hat Ulrich Kelber eine offizielle Beanstandung an das Verkehrsministerium geschickt.

+++ Statt Böhmermann-Bashing zu betreiben will Matthias Dell mit seiner Sendezeit bei Deutschlandfunks @mediasres lieber was von Substanz anstellen und widmet sich in seiner Kolumne der Debatte um den Zugriff auf die öffentlich-rechtlichen Archive.

+++ Ingo Dachwitz erklärt bei Netzpolitik.org, warum er das Framing der Berichterstattung über Lücken in der Privatsphäre bei WhatsApp (z.B. bei Pro Publica und Tagesschau) für schwierig hält und wo er die eigentlichen Gefahren sieht.

+++ Wenke Husmann lobt in der Zeit den ARD-Dokumentarfilm "Slahi und seine Folterer" und stellt vor allem den Umgang des Films mit Ambivalenz heraus. Dabei hätte der Redaktion aus Transparenzgründen noch erwähnen können, dass der Filmemacher John Goetz diese Recherche gemeinsam mit Bastian Berbner auch für die Zeit selbst verarbeitete.

Neues Altpapier gibt‘s wieder am Freitag.

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