Das Altpapier am 27. November 2017 Lieber keine Überschrift als eine falsche

Christian Lindner ist die Medienfigur der vergangenen Woche, der FAZ geht es "wieder richtig gut", Spiegel Online hat "tagelang keine AfD-Schlagzeile" produziert, und Algorithmen sind auch nicht schlechter als Vollnarkosen. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Kann es sein, dass, was mediale Konjunkturen betrifft, Christian Lindner die Jagdhundkrawatte abgelöst hat? Lindner ist überall. Dagegen gab es beim Themensetzbetrieb Spiegel Online "tagelang keine einzige AfD-Schlagzeile", wie Mats Schönauer für Übermedien nach dem Durchzählen festgestellt hat. Und das, obwohl, wie er findet, Anlässe zur Auseinandersetzung vorgelegen hätten.

Was ist da los? Harald Staun greift das Thema in der "Liebe Kollegen"-Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ebenfalls auf, unter Bezug auf einen meedia.de-Text von Stefan Winterbauer, der jüngst einen handfesten Skandal gewittert hatte:

"AfD-Spitzenfrau Alice Weidel hält ihre erste Rede im Bundestag, und die Medien schauen kollektiv weg".

Staun nun:

"Was Winterbauer wiederum verschweigt, ist dabei gar nicht so sehr die Tatsache, dass auch mittel- bis minimalobskure Medien wie 'Neues Deutschland' und 'Frankfurter Rundschau' über die Rede berichteten, sondern vor allem, dass der Skandal noch viel größer ist: Auch von den meisten anderen Politikern, die am Mittwoch ans Rednerpult traten, war nichts zu lesen".

Anders gesagt, nicht die AfD wird verschwiegen, Deutschlands Journalisten interessieren sich nur auch dann nicht sonderlich für den Bundestag, wenn Rechtspopulisten drinsitzen. Wäre irgendwie eine ganz schöne Pointe: Der Parlamentarismus gewänne schlicht durch bewährte Langeweile. Schade nur, dass Norbert Lammert nicht mehr im Amt ist, um zumindest die Öffentlich-Rechtlichen deswegen anzueumeln – das hatte ja doch auch immer etwas ("…akzeptiere ich ja auch ausdrücklich, dass nicht jede Plenardebatte anstelle solch bedeutender Angebote wie … 'Rote Rosen' … im Vormittagsprogramm von ARD und ZDF live und in Farbe zu sehen ist").

Es lindnert

Man könnte nun natürlich sagen: Wie hätten "die Medien" auch noch über den Bundestag berichten sollen? War ja kein Platz in den Politikteilen. Es ging dort aus gutem Grund zuletzt vornehmlich um die Regierungsbildung, die geplatzte wie die ausstehende. Interessant ist aber – schon ein ganz schönes Beispiel für die Personalisierung der Berichterstattung –, dass recht wenige handelnde Personen im Zentrum der Analysen stehen. Vor allem steht da, wie eine Eins, Christian Lindner, abwechselnd in seinen Rollen als Macron und als Dämon.

Nachdem auf dem düster-dramatischen Spiegel-Titel 39a, der direkt nach der Wahl erschienen ist, hinter Angela Merkel noch das AfD-Spitzenpersonal abgebildet war, verdunkelt auf dem Spiegel-Titel 48 nun die unheimliche Macht namens Lindner die Kulisse. Er findet sich auch neben Merkel auf dem Zeit-Titel. Sascha Lobos jüngste Spiegel-Online-Kolumne ist ebenfalls mit ihm bebildert. Die FAZ wies dieser Tage darauf hin, dass es nach gaucken und wulffen nun das Verb "lindnern" gebe. Der Soziologe Heinz Bude erklärte am Freitag im ZDF im Grunde den politischen Diskurs vor allem anhand der FDP unter Lindner. Und die Süddeutsche Zeitung hat vergangene Woche das Scheitern der Sondierungsverhandlungen zu einer "Krise des Westens" hochgeschrieben, die demnach, weil er mit diesem Scheitern ja durchaus zu tun hatte, kein anderer als Lindner ausgelöst hätte. "Ob er weiß, was er da ausgelöst hat?", wurde gestern bei "Anne Will" gefragt. In jedem Fall hat Lindner viel Lindner-Berichterstattung ausgelöst.

Medial im engeren Sinn interessant ist dabei vor allem Sascha Lobos Kolumne von vergangener Woche, in der er einen "Wandel der Mediendemokratie zur Social-Media-Demokratie" verhandelte – am Beispiel des FDP-Mems "Lieber nicht regieren als falsch":

"Der Nichtregierungs-Slogan der FDP ist ein Wutbürger-Köder, er folgt der Politik des Mems, des knackig kontroversen, gut weitererzählbaren Claims. Es ist Social-Populismus, bei dem die beste Vermarktbarkeit über das politische Handeln bestimmt. Die Folge der Social-Media-Demokratie: Polarisierung in der digitalen Fußgängerzone ist die erste Politpflicht, denn so funktioniert Identifikation durch Abgrenzung. Der politische Effekt ließ sich in den USA erkennen. Dort haben viele Trump gewählt, weil er Trump ist. Aber vor allem, weil er nicht Hillary Clinton ist. Nicht-Clinton ist Präsident der Vereinigten Staaten, so machtvoll kann diese neue Hyperpolarisierung sein. Das ist meiner Einschätzung nach der Schlüssel zum Verständnis der FDP-Strategie, die sich an die neue politische Kraft der vernetzten Öffentlichkeit angepasst hat."

Ob man der FDP nun wirklich, wie Lobo, eine Polarisierung zuschreibt oder eher eine programmatische Flexibilität – dass eine solche Entwicklung auch "die Medien" betrifft, liegt jedenfalls auf der Hand.

Die noch feineren Unterschiede

Der Vorschlag des Deutschlandfunks vom Sonntag, den Soziologen Pierre Bourdieu wieder zu lesen, sein bekanntestes Werk "Die feinen Unterschiede" aber im Sinn von "Noch feinere Unterschiede" zu verstehen, ist in dem Zusammenhang als Folgelektüre ganz hilfreich.

Kurze Einführung in Bourdieus Klassiker von 1979:

"Galt in der Soziologie lange Zeit das Klassen- oder Schichtenmodell, das die Gesellschaft rein ökonomisch zwischen Unter-, Mittel- und Oberklasse unterschied, so modifizierte Bourdieu dieses Schema durch eine Öffnung zur Kultur. Es ist nicht nur das ökonomische Kapital, das die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft ausmacht, sondern auch sein kulturelles. Jeder Mensch, so Bourdieu, versuche deshalb, nicht nur wirtschaftlich aufzusteigen, sondern auch mit der Aneignung kulturellen Wissens und kultureller Kompetenz."

Die Situation heute nun, so Michael Reitz im Deutschlandfunk:

"In der hochvernetzten Gesellschaft der Hypermoderne ergibt sich ein neues Szenario. Die soziale Rolle wird ersetzt und ergänzt durch die Selbstdarstellung in den sozialen Medien. Das Außenbild des Akteurs ist fast noch wichtiger als der Status selbst. (…) Kulturelles Kapital kann mittlerweile durch Vortäuschung erworben werden."

Wer bei der Passage an die FDP 2017 denkt, hat wahrscheinlich etwas anderes gewählt. Und wer beim Satz, eine an Gewohnheiten und Vorlieben ablesbare "Trennung zwischen oben und unten" sei nicht mehr aufrechtzuerhalten, einen Spitzenkandidaten im Unterhemd vor sich sieht – der auch. Warum es so schwierig es ist, kulturelle und ökonomische Faktoren in der politischen Debatte voneinander zu trennen, und wie die digitale Öffentlichkeit mit drinhängt, das wird in der halben Radiostunde jedenfalls im Rahmen der Möglichkeiten ganz griffig dargelegt.

Herr Lindner von der FAZ

Und hier geht es jetzt zwecks Rückkehr zum Altpapier-Kerngeschäft mit der Frage weiter, wie Medien auf diese gesellschaftliche Entwicklung zum noch feineren Unterschied reagieren. Konkret die FAZ setzt just heute tatsächlich auf so etwas wie noch feinere Unterschiede in der Publikumsansprache: Sie macht sich für eine weitere zahlungskräftige Spezialzielgruppe interessant bzw. noch interessanter – für Juristen.

Sie präsentiert ihr neues Produkt auch gleich auf Printseite 1 im berühmten Titelseitenfoto. Es zeigt: ein Tablet. Es handelt sich bei dem Foto um einen ganz heißen Anwärter auf den letzten Platz im FAZ-internen Seite-1-Foto-Wettbewerb, seit jene Zeitung 2007 die Bleiwüstentitelseite abgeschafft hat. Zur Titelbildwahl des laufenden Jahres ("mit freundlicher Unterstützung von: TechniSat") tritt das aktuelle Tablet-Foto – Stand heute – auch gar nicht erst an. Was hiermit allerdings angeprangert wird.

Was das neue FAZ-Juristenprodukt für eines ist, steht unter dem Foto:

"An diesem Montag startet ein Digital-Angebot für Juristen und alle, die sich für die Welt des Rechts interessieren. 'F.A.Z. Einspruch' erscheint sechsmal in der Woche mit ausgewählten Beiträgen aus der aktuellen F.A.Z., einmal in der Woche aber als Magazin (…)".

Was angeboten wird, ist also "erstmals ein berufs- und interessenspezifisches Angebot als eigenständiges, täglich erscheinendes Produkt". Mehr Spezial, wenn das nicht futura ist.

Das Juristenprodukt steht neben diversen Neuerungen bei der FAZ, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat. Das Gute an ihnen: Der FAZ geht es "wieder richtig gut". Schreibt Kai-Hinrich Renner in der Berliner Morgenpost. Das ist, wenn es so stimmt, schon deshalb schön, weil es ihr ja vor nicht allzu langer Zeit richtig schlecht gegangen sein soll.

"Die Wende schaffte die 'FAZ' 2015, als sie erstmals wieder 10,2 Millionen Euro Gewinn auswies. Das entsprach einer Umsatzrendite von gut vier Prozent. Zwei Jahre später steht fest, dass die Entwicklung zum Positiven ganz offenbar nachhaltig ist."

Wie ging das? Mit einem "Restrukturierungsprogramm", so Kai-Hinrich Renner, zu dem Personalabbau, Umfangsreduktion, Auslagerung von Verlagsbereichen und die Investition in neue Produkte statt in alte Zöpfe gehören würden. Er befindet: "Der Aufwärtstrend der 'FAZ' ist ermutigend für die gesamte Zeitungsbranche, deren Geschäftsmodelle durch die Digitalisierung beeinträchtigt wurden."

Kurz zur Erinnerung noch, wie der vom Stern seinerzeit gekommene FAZ-Geschäftsführer heißt, der die Digitalisierung derart verstanden hat: Er heißt natürlich kein bisschen anders als Lindner.

Altpapierkorb (Algorithmenkritik, WDR-Rundfunkrat, "Brandnächte", "Dark", Jan Böhmermann)

+++ Lesenswerter Text von Kathrin Passig im Merkur über Algorithmen, die mediale Algorithmenkritik und die gängige Mystifizierung von Algorithmen – oder besser: Software – als Black Box: "Erklärungslücken halten uns nicht davon ab, unser Gehirn zu benutzen. Sie halten uns auch nicht davon ab, Vollnarkosen einzusetzen, obwohl bis heute unbekannt ist, warum und wie sie wirken. Die Vorteile der Narkose sind so groß, dass wir bereit sind, über den Nachteil ihrer Rätselhaftigkeit hinwegzusehen. Ich möchte die Undurchschaubarkeit von Gehirn, Narkose und Software nicht verteidigen, sondern nur dafür plädieren, an Software keine strengeren Maßstäbe anzulegen als an die anderen beiden Black Boxes."

+++ "Wir freuen uns, dass die renommierten Moderatoren Sandra Maischberger und Frank Plasberg beim Publikum großes Vertrauen genießen." Das gehört zur Antwort des WDR auf die Empfehlung seines kritischen Rundfunkrats (siehe Altpapier), auch neue junge Moderatoren und Moderatorinnen einzusetzen, etwa in den Sommerpausen.

+++ Meistbesprochener Fernsehfilm heute: Matti Geschnonnecks Familiendrama "Brandnächte" (ZDF) – "ein recht guter, ein vor allem solider Film, jedoch bei Weitem nicht Matti Geschonnecks beste Arbeit", findet der Tagesspiegel. "'Brandnächte' ist kein schlechter Film. Doch seine Nachdenklichkeit täuscht er nur vor", so die FAZ. Angetan ist die SZ: "Man kann es natürlich kritisieren oder peinlich berührt sein, wenn einfach mal auf sämtliche erogenen Zonen des Serienliebhabers gedrückt wird, man kann das 'gemacht' finden, (…) man kann sich manipuliert fühlen und sich beschweren, aber man kann sich der Wirkung all dessen bei Brandnächte tatsächlich schwer entziehen."

+++ Niki Lauda verkündete "vor laufender Kamera" seinen Abschied als Formel-1-Kommentator, offensichtlich auch zur Überraschung des Moderators (DWDL).

+++ Kauft Peter Thiel Gawker? Fragt die SZ.

+++ Das US-Verlagshaus Time aus New York derweil wird vom Medienkonzern Meredith übernommen ("aus dem Mittleren Westen", so meedia.de). Beteiligt sei, heißt es da, die Milliardärsfamilie Koch: Charles und David Koch "gelten als erzkonservativ" und hätten "ehemals zu den mächtigsten Gegnern US-Präsident Barack Obama" gezählt.

+++ Bei Netflix startet am Freitag die erste deutsche Serie, "Dark". Die FAS schreibt: "(M)it 'Babylon Berlin' und '4 Blocks', die ebenfalls dieses Jahr herauskamen, könnte 'Dark' die nationale Aufgabe 'Deutsche Serie' endlich bewältigen, auf dass man danach normal über deutsche Serien reden kann, ohne Unsere-Jungs-Stolz und ohne Bundestrainer-Besserwisserei. Das ist gar nicht so einfach. Auch 'Dark' löst sofort wieder diesen Impuls aus, alles kritisieren zu wollen" – aber dann wird's ganz versöhnlich im Sinn von "nicht grandios", aber ordentliche Netflix-Serie.

+++ Franco Campana ist gestorben, als Hütchenspieler "Pronto Salvatore" eine bekannte Figur der deutschen Privatfernsehfrühgeschichte. Der Tagesspiegel ruft ihm nach.

+++ Die FAZ-Überschrift "Das duale System hat sich hier nicht bewährt" im Feuilleton bezieht sich nicht auf die Medien, sondern auf Spähtechnologie, die strenger kontrolliert werden solle: "Die EU hat seit den neunziger Jahren ein Regelwerk für den Export von Produkten, die in die Kategorie 'Dual Use' fallen. Das sind Technologien, die missbrauchsanfällig sind, weil sie sowohl für gute Zwecke als auch als Waffen, Repressionswerkzeuge oder zur Spionage verwendet werden können. Dass Schadsoftware dazugehört, steht seit einer Überarbeitung des Regelwerks im Jahr 2009 außer Frage. Die Dual-Use-Regeln für Technologien mit fragwürdigem Verwendungszweck sollen nach dem Beschluss am Donnerstag erneut angepasst werden." Schreibt Constanze Kurz.

+++ How real is "Babylon Berlin"? faz.net: "(S)tatt die Serie nur auf ihre vermeintliche historische Authentizität zu überprüfen und ihre Erzählungen den wissenschaftlichen Fakten gegenüberzustellen, wäre eine weitere interessante Frage: Was wird eigentlich nicht dargestellt? Die Nationalsozialisten sind in der ersten Staffel der Serie kein Thema."

+++ Claudia Roth von den Grünen und die Interviewerin Barbara Schmidt-Mattern wurden im Deutschlandradio-Interview von einem Mann mit dem Vorwurf "Lügenpresse – und Ökofaschisten" beehrt.

+++ Jan Böhmermann hat eine Ausstellung: "Deuscthland" – kein Tippfehler, "(e)ine Kleinigkeit ist nach rechts verrutscht" (Zeit Online). Wenke Husmann findet sie nicht übermäßig inspirierend bzw. inspiriert. Sie sei "weder der ganz große Wurf noch die schwere Provokation", schreibt die taz. Jens-Christian Rabe von der SZ dagegen schon ("feinste vulgäre Kunst"). Er findet: "Ihn im ZDF-Jugend-Biotop Neo zu parken und mit einem Freitagnachtgrab im Hauptprogramm abzuspeisen, wirkt längst wie ein schlechter Witz." Und die Hannoversche Allgemeine findet die Böhmermann-Ausstellung "wenig subtil, aber wirksam und gut platziert in dieser Zeit, da Deutschland zu zerreißen droht", außerdem staunt sie über die "Ölgemälde von Merkel mit Getreuen von Springer bis Furtwängler. Wenn die Bilder tatsächlich von Böhmermann stammen, überrascht die technische Versiertheit." (€ bei Blendle)

+++ Der History Channel hat eine dreiteilige Dokumentation über die "Guardians of Heritage – Hüter der Geschichte" gedreht. Die FAZ rezensiert sie. Die taz verbindet die Vorstellung mit einem Text über die Bedingungen, unter denen Dokumentationen heute entstehen, und neue Video-on-Demand-Plattformen. Regisseur und Produzet Stefan Eberlein wird zitiert: "'Ob (…) die Idee greift, dass diese Filme unabhängig vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen über VoD grundsätzlich finanziert werden können? Da bin ich sehr skeptisch. Aus meiner Sicht sind die Filme zu teuer, als dass sie so finanziert werden können.' Zudem weist er auf die Problematik hin, dass die neuen Player keinem Kulturauftrag folgen, sondern kommerziellen Interessen. Doch vielleicht muss das kein zwingender Widerspruch sein, wie der internationale Serienboom in den vergangenen Jahren gezeigt hat."

Neues Altpapier gibt es am Dienstag.