Das Altpapier am 18. Oktober 2021Auch kein Text muss nicht neutral sein
Größtes Thema des Sonntags ist ein Text, der nicht erschienen ist: Offensichtlich hat der Ippen-Verlag eine Veröffentlichung von Recherchen über Axel Springer verhindert. Außerdem: Die ARD-Programmreform ist beschlossen. Und Gerd Ruge, Vorbild vieler, die aus dem Ausland berichten, ist gestorben. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Inhalt des Artikels:
Warum verhindert Ippen Berichterstattung über Springer?
Was am gestrigen Sonntagabend nicht veröffentlicht wurde: eine Recherche des recht neuen Investigativteams der Ippen-Gruppe über Missstände bei Axel Springer, darunter Machtmissbrauch gegen Frauen, insbesondere durch Bild-Chefredakteur Julian Reichelt. Das wäre keine Nachricht, wäre die Veröffentlichung nicht offensichtlich fix geplant gewesen, dann aber kurz vor Erscheinen verhindert worden – von Altverleger Dirk Ippen, wie Stefan Niggemeier bei Übermedien berichtet.
"Medien der deutschen Ippen-Gruppe, zu der unter anderem 'Frankfurter Rundschau', 'Münchner Merkur' und 'Buzzfeed Deutschland' gehören, wollten am Sonntag bislang unbekannte Details über den mutmaßlichen Machtmissbrauch Reichelts veröffentlichen". Vorwürfe gegen ihn gibt es schon lange (Altpapier), doch nach der Aufarbeitung durch Springer wirkte er "halbwegs rehabiliert, sein Fehlverhalten vergleichsweise harmlos", so Übermedien. Die neuen Recherchen nun sollten allerdings "dem Vernehmen nach ein Verhalten zeigen, durch das die Entscheidung des Unternehmens, ihn wieder zum Chefredakteur zu machen, unverständlich und skandalös wirkt. Nach rund einem halben Jahr war es so weit, dass die Geschichte veröffentlicht werden konnte – offenbar gab es auch aus der Führungsebene grünes Licht dafür. Juristisch soll sie ebenfalls bereits geprüft worden sein, das Unternehmen Axel Springer und Julian Reichelt selbst waren mit den Vorwürfen konfrontiert worden."
Was steckt dahinter? "Im Hintergrund sollen Vertreter von Axel Springer Kontakt zu hochrangigen Ippen-Verlagsleuten aufgenommen und versucht haben, auf sie einzuwirken, eine Veröffentlichung zu verhindern." Das wäre ein Ding, Ippen schließt eine "persönliche Einflussnahme von Springer" jedoch aus. In einem seit dem späten Sonntag bei Twitter kursierenden Protestschreiben des vierköpfigen Investigativteams an Ippen und die Geschäftsführung heißt es, bei der Entscheidung, den Beitrag nicht zu veröffentlichen, spielten "persönliche Geschmacksfragen" eine Rolle. Was auch ein Ding wäre.
Stefan Niggemeier schreibt, "(o)ffenbar spielt ein grundsätzlicher Unwille eine Rolle, sich kritisch mit einem anderen Medienunternehmen auseinanderzusetzen, mit dem man in Konkurrenz steht. Es solle der Anschein vermieden werden, 'eine publizistische Veröffentlichung mit dem wirtschaftlichen Interesse zu verbinden, dem Wettbewerber zu schaden'", zitiert er aus einem Statement des Verlags. So zitiert auch die New York Times den Verlag, die am Sonntag groß über "Sex, Lies and a Secret Payment" bei Springer berichtet und dabei auch auf den neuen Ippen-Strang der Geschichte eingeht.
Bei Übermedien wurde das Verlags-Statement in der Nacht dann noch ergänzt. Demnach scheide es für die Ippen-Gruppe "wegen der direkten Konkurrenzsituation einzelner Titel und Angebote" nun nur noch aus, "(u)nter den derzeit recherchierenden Titeln die ersten zu sein, die die Vorwürfe bringen".
Wie auch immer aber die Verlagsentscheidung genau begründet ist, und ob es bei ihr bleibt oder nicht: Es geht um eine Grundfrage. Wer entscheidet über Inhalte? Sind Verlag und Redaktion getrennt oder nicht?
Neutralität – oder Fairness, Aufrichtigkeit und Stringenz?
Weiter mit dem Thema, mit dem wir die vergangene Woche beschlossen haben: Neutralität. "Kann Journalismus neutral sein? Ist das überhaupt wünschenswert?" Das fragt Simon Hurtz beim Empfehlungsdienst piqd. Das sind zwar keine neuen Fragen, aber relevant sind sie doch – "schließlich entscheiden die Antworten, die man darauf gibt, was man unter Journalismus versteht und wie man seinen Beruf definiert". Was empfiehlt Hurtz bei piqd? Einen Text aus der Schweizer Medienwoche von Marko Ković, in dem der die Neutralitätsforderung, die an den Journalismus erhoben wird, in einen zeitungs- und medienhistorischen Kontext stellt – und davon abrückt.
Er führt aus, warum das "hehre Ideal (…) schnell an Grenzen" stoße: Weil "die Triebfeder hinter jeder investigativen Recherche eine normativ-wertende Haltung ist", könne etwa kein Investigativjournalismus mehr getrieben werden. Eine falsche Auslegung von Neutralität führe zur "False Balance". Und: "Neutraler Journalismus hängt den Mächtigen an den Lippen und kritisiert ihre Ansichten nicht, sondern nimmt sie als Bausteine für die eigene Berichterstattung."
Hinzufügen könnte man: Am Beispiel der Nichtveröffentlichung der Springer-Recherchen bei Ippen-Medien sieht man, dass nicht einmal keine Berichterstattung neutral sein muss. Auch sie kann von persönlichen, geschäftlichen oder politischen Motiven getrieben sein.
Wer noch nie einen Text über Neutralität im Journalismus gelesen hat, könnte mit diesem anfangen. Auch deshalb, weil Ković überlegt, was die "Neutralität als zentralen journalistischen Ankerpunkt" ersetzen könne – "Fairness, Aufrichtigkeit und Stringenz".
Neutral ist der Text selbstverständlich nicht. Aber nichts an der Neutralitätsdebatte ist neutral. Man sieht das gut im direkten Abgleich mit dem vergangene Woche erschienenen Text (Abo) von Christian Meier, Medienredakteur der Welt, der sich ebenfalls mit Neutralität im Journalismus befasst hat. Ković, der neutralitätsskeptisch argumentiert, beginnt seinen Beitrag mit Beispielen, die zeigen sollen, dass "die Erosion von Neutralität (…) als grosse Gefahr beklagt" werde. Eines seiner Beispiele: "Der Journalist Florian Gathmann fordert im 'Spiegel' im Zuge der Berichterstattung über Black-Lives-Matter-Proteste, dass Journalist*innen trotz allem so neutral wie möglich seien."
Meier dagegen, der eher skeptisch gegenüber der Neutralitätsskepsis ist, beginnt seinen Text mit folgendem Absatz: "Im vergangenen Jahr stellte ein Redakteur des 'Spiegel' die These auf, Neutralität im Journalismus sei ein Ding der Vergangenheit. Der Versuch, angesichts eminent wichtiger gesellschaftlicher Entwicklungen ausgewogen zu bleiben, sei letztlich 'selbstgefällig und denkfaul'. Der Aufhänger seiner Forderung war die Berichterstattung über Donald Trump, die Medien dazu zwinge, das Prinzip der Ausgewogenheit über Bord zu werfen." Er meint diesen Abo-Text von Philipp Oehmke.
Beide, Ković wie Meier, zitieren richtig. In ihren beiden Texten gibt es aber keinen Hinweis darauf, dass im Online-Spiegel seinerzeit auch die jeweils andere Position ausformuliert wurde. Das ist eigentlich nicht der Rede wert, denn zum Journalismus gehört zwingend die Auswahl – aber in der Auswahl zeigt sich bereits eine Haltung; ein weltanschaulicher Zugang zum Thema. Neutral im Sinn der Neutralitätsfans wäre vielleicht, bereits vorhandene journalistische Diskussionsbeiträge zum Thema lediglich berichtend zusammenzufassen. Nur, welche Beiträge? Es gäbe dann ja gar keine. Und nu?
It’s the fundierte Argumentation!
Theresa Bäuerlein würde vielleicht sagen: It’s the fundierte Argumentation! Auf den Seiten der Krautreporter hat sie eine Absage an die starke Meinung geschrieben. Zumindest an die, die aus den Leuten so zu jedem Quatsch herausplumpst. Kernsatz ihrer Argumentation: "Es gibt eine Hierarchie der Meinungen. Manche sind besser als andere: nämlich fundierter."
Wunderbar zu bewundern in Sandra Maischbergers Talk, in dem Woche für Woche drei Medienmenschen alle möglichen starken Meinungen vertreten. Die einen fundierter, die anderen aber tatsächlich nur meinungsstark. Was uns durch eine Hintertür zum eigentlichen Medienthema des Wochenendes bringt: zur…
…Programmreform der ARD
Die ARD-Programmreform ist beschlossen, wie am Freitagnachmittag mitgeteilt wurde. Und dazu gehört, dass Sandra Maischberger von 2022 an dienstags und mittwochs Gäste zu "einem neuen, vertiefenden Gesprächsformat" empfangen soll. Ist das das Ende für das sich verlässlich im Kreis drehende Meinungsterzett? "Die Sendung dürfte (sich) mit nur ein bis zwei Gästen und intensiven Gesprächen wieder eher dem widmen, was man von Maischberger zu ntv-Zeiten noch kannte", mutmaßt jedenfalls DWDL. Und das wäre auf dem Papier keine schlechte Entwicklung. Wer freilich findet, dass Talks eh überbewertet sind, könnte sich ärgern, dass in Zukunft ARD und ZDF zeitgleich Sendungen ausstrahlen, die noch stärker konkurrieren als bisher – denn "Markus Lanz" gibt es ja auch noch. Den Comedy-Freitag gibt es zudem nun auch doppelt, wie Claudia Tieschky in der Süddeutschen Zeitung spitz bemerkt.
Entscheidender sind aber die größeren Räder, die gedreht werden sollen. Vor allem geht es um eine Aufwertung der Mediathek, der jungen Leute wegen. ARD-Leute finden das alles spitze, na klar. Klaus Brinkbäumer etwa, der MDR-Programmdirektor, nannte im MDR (der auch diese Kolumne veröffentlicht) den Plan, dieses und vor allem auch jenes fiktionale, dokumentarische und unterhaltende Programm zunächst für die Mediathek zu produzieren, "sehr ambitioniert".
Wie aber berichten Medien, die nicht öffentlich-rechtlich sind? Claudia Tieschky (SZ nochmal) ist angetan von der Geschwindigkeit, mit der hier Dinge umgesetzt wurden. "Die Begriffe 'kurzer Prozess' und 'ARD' passen wirklich nicht zusammen", schreibt sie. Die Medienredaktion der SZ hat vor vielen Jahren in einem Text über die ARD das Bild eines Unternehmens gezeichnet, in dem Bedenken mit dem Lastenkran durch die Flure gehievt würden. Sie muss es also wissen.
Ein Haken, den Tieschky aber benennt: Geld. "Offenbar ist noch nicht so richtig klar, durch welche Umschichtungen genau das nötige finanzielle Plus für die Programmdirektion kommen soll, das für die Reform nötig sei", schreibt sie. Sie verliert dafür kein schlechtes Wort über die Planungen für den "Weltspiegel". Wir erinnern uns: Der hätte seinen Sonntagssendeplatz verlieren und insgesamt seltener ausgestrahlt werden können, wogegen die Korrespondentinnen und Korrespondenten damals aufbegehrten. Nun ist wohl klar, das Aufbegehren hat sich gelohnt: Der "Weltspiegel" bleibt auf dem Sonntag, wird sogar verlängert, und zusätzlich gibt es einen Sendeplatz am späten Montagabend für Reportage und Dokus. Ein "Träumchen" aus Sicht der Korrepondenten, findet Tieschky.
Nachrufe auf Gerd Ruge. Viele Nachrufe
Zahlreich und ausführlich sind die Nachrufe, die auf Gerd Ruge erschienen sind, die "große Journalistenlegende" (Frank-Walter Steinmeier laut Tagesspiegel). Sie rufen eine vergangene Medienära in Erinnerung. Beispielhaft dafür ist Andrea Dieners Texteinstieg bei faz.net:
"In einer Zeit, in der man noch keinen Twitteraccounts aus aller Welt folgen konnte und keine Handyvideos vom letzten Putsch oder der letzten Großdemonstration zeitnah ins Internet gestellt und geteilt wurden, verließ man sich allein auf Fernsehkorrespondenten und die Arbeit ihres Kamerateams."
Und einer von ihnen, vielleicht der bekannteste und sicher einer der besonders guten, war Ruge. Weitere Nachrufe stehen in der SZ (Abo) und zusätzlich als Neufassung eines bereits älteren Texts bei sueddeutsche.de, in der taz, der Welt, der Berliner Zeitung und bei Zeit Online.
Altpapierkorb (ZIB 2, Katja Wildermuth, Russlandberichterstattung)
+++ Peer Schader singt bei DWDL ein kleines Loblied auf das ORF-Nachrichtenmagazin "ZIB 2":, auch im Vergleich mit den deutschen Programmen: "Während im politischen Berlin in den vergangenen Tagen alle damit beschäftigt waren, im Zuge der Koalitionsanschmusung öffentlich möglichst wenig Drama zu veranstalten, hatte man sich in Wien in der gleichen Zeit entschieden, ein ordentliches Regierungskrisenfeuerwerk abzufackeln. Und nicht nur aus deutscher Sicht war es eine lehrreiche Erfahrung, zu beobachten, wie das Fernsehen im Nachbarland journalistisch damit umgeht. Zum Beispiel so wie in der 'ZIB 2'-Redaktion: mit größtmöglicher Gelassenheit."
+++ Im FAZ-Interview (Abo): die neue Intendantin des Bayerischen Rundfunks, Katja Wildermuth.
+++ "In der Ära Putin haben die schlechten politischen Beziehungen in Verbindung mit dem technologischen Wandel die britischen und amerikanischen Reporter, die über Russland, berichten, vor ganz neue Herausforderungen gestellt": über aktuelle Herausforderungen der Berichterstattung aus und über Russland schreibt James Rodgers, Dozent für internationalen Journalismus an der City, University of London, bei ejo-online.
Neues Altpapier erscheint am Dienstag.
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