Teasergrafik Altpapier vom 24. November 2021: Porträt Autor Annika Schneider
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Das Altpapier am 24. November 2021 Impfpflicht: Viele Forderungen, wenig Einordnung

24. November 2021, 10:53 Uhr

Die Debatte um die Impfpflicht kommt viel zu spät, um die vierte Welle noch auszubremsen, trotzdem verdrängt das Thema andere Maßnahmen aus den Schlagzeilen. Die EU sägt am Meta-Monopol und Noch-Justizministerin Lambrecht übt Medienkritik. Ein Altpapier von Annika Schneider.

Faktencheck Impfpflicht

Die Debatte um die Corona-Impfung hat einen Kipppunkt erreicht. Lange war die Impfpflicht eine vage Drohung am Horizont, eine Ultima Ratio, zu der sich niemand bekennen wollte. Unter anderem durch einen überparteilichen Artikel in der FAZ (€) hat sich das nun geändert. Wie Floskelliebhaber schreiben, "mehren sich die Rufe" nach einer Impfpflicht, die "Debatte nimmt Fahrt auf", und "es wendet sich das Blatt". Die Politik legt damit eine spektakuläre Kehrtwende hin, wie die FAZ verdeutlicht:

"Dass eine Corona-Impfpflicht niemals kommen werde, war nicht nur eine Zusage. Es war das zentrale Versprechen vieler Parteien in der Corona-Pandemie – jedenfalls bis jetzt."

Nicht zuletzt der Ober-Bayer Markus Söder, der den Vorstoß nun vorantreibt, hatte sich eigentlich gegen eine Impfpflicht ausgesprochen. Dass er seine Meinung geändert hat, sind nun echte "News" und damit ein gefundenes journalistisches Fressen. Im gefühlten Stundentakt äußerten sich dann weitere Menschen zum Thema, was dazu führte, dass sich so mancher Artikel wie die Live-Berichterstattung zu einem Fußballspiel liest: Jedes neue Zitat zählte als Treffer für "Team Pro" oder "Team Contra".

Die Politikerinnen und Politiker ringen mit ihren Kehrtwende-Erklärungsversuchen um Glaubwürdigkeit. Dass

"nicht wenige in dem frühen Ausschließen einer Impfpflicht inzwischen den kommunikativen Kardinalsfehler im Kampf gegen die Pandemie sehen",

schrieb Michael Borgers bei @mediasres im Deutschlandfunk schon vergangene Woche. Es steht bei dem Thema aber nicht nur die Glaubwürdigkeit der Politik, sondern auch die der Medien auf dem Spiel. Sie müssen sich ja immer wieder vorwerfen lassen, eine "Impfkampagne" gefahren zu haben (auch wenn es hierzulande keine Impflotterie gab, wie sie der österreichische ORF gerade startet).

Noch im Juli schrieb die Rechtsredaktion der "Tagesschau" über eine allgemeine Impfpflicht:

"Nur wenn sich Leben und Gesundheit der Bevölkerung gar nicht anders schützen ließen und schwere Verläufe bei vielen Menschen nicht anders verhindert werden könnten, könnte man wohl über einen solchen Schritt nachdenken."

Wenn nun reihenweise Politiker genau diesen Schritt fordern, ist das zumindest erklärungs- und einordnungsbedürftig – da reicht es nicht aus, Zitate gegenüberzustellen. Keine Frage: Die Aussagen der handelnden Akteure sind wichtig, schließlich treffen die am Ende eine Entscheidung. Auch die zahlreichen Umfragen und Vox-Pops, die die Meinung von Lisa Normalverbraucherin abbilden, haben ihre Berechtigung.

Aber die reine Wissensvermittlung (Was geht rechtlich? Wie lässt sich das konkret umsetzen? Mit welchen Folgen ist zu rechnen?) ist eben auch zentraler Teil der journalistischen Arbeit – jede Lücke, die hier entsteht, wissen die selbst ernannten "alternativen Medien" geschickt für sich zu nutzen. In einer jüngst veröffentlichten Studie zur Corona-Berichterstattung zeigte sich, dass viele Redaktionen die Aufgabe, erst einmal grundlegende Infos zu liefern, zu Beginn der Pandemie schnell abgehakt hatten, wohl aus dem Gefühl heraus, dazu sei schon genug gesagt und geschrieben worden und nun wüssten alle Bescheid. Die Studienautoren kommen zu dem Schluss:

"Es wurde vermutlich zu wenig über das Virus selbst, seine Eigenschaften und den Vergleich zur Grippe berichtet."

Deswegen ist es so wichtig, beim Thema Impfpflicht gerade auch die Expertise von Fachleuten abzufragen. Und das sind nicht nur die altbekannten Gesichter aus Virologie, Epidemiologie und Immunologie, sondern auch Juristinnen, Psychologen, Politikwissenschaftlerinnen. Denn es geht darum, die vielen Argumente aus der Politik auf den Prüfstand zu stellen.

In ihrer gestrigen Ausgabe hatte zum Beispiel die Welt (€) zur Frage, ob eine Impfpflicht verfassungsgemäß wäre, eine ganze Reihe von Stimmen aus den Rechtswissenschaften eingeholt.

"'Solange es Möglichkeiten zur Kommunikation gibt, ist eine Impfpflicht unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig', sagt Volker Boehme-Neßler, Lehrstuhlinhaber für öffentliches Recht an der Universität Oldenburg. 'Anders als die Spitzenpolitiker behaupten, haben Staat und Politik keineswegs bereits genug mit den skeptischen Bürgern kommuniziert.'"

Im selben Welt-Artikel kommen aber auch Fachleute zu Wort, die eine Impfpflicht für machbar halten. Die Frage, wie sich die geforderte Regelung überhaupt umsetzen lassen würde, muss ebenfalls gestellt werden. In der SZ (€) ist dazu zu lesen:

 "'Man muss bedenken, dass man auch bei einer Impfpflicht nicht alle erreichen wird', sagt der Frankfurter Professor Uwe Volkmann. 'Man kann die Leute ja nicht abholen, betäuben und ihnen dann eine Impfung verpassen. Das wäre unvorstellbar.'"

Distanzierte und kritische Berichterstattung berücksichtigt zudem noch einen weiteren Punkt: Mit der Impfpflicht diskutieren wir über eine Maßnahme, die die aktuelle vierte Welle nicht mehr brechen wird – ein Aspekt, der nicht oft genug betont werden kann. Die Debatte ist also womöglich in Teilen eine strategische, die von Versäumnissen in der Pandemiebekämpfung abzulenken soll, wie Mareen Linnartz ebenfalls in der SZ (€) schreibt:

"Wer sich nun verbal auf Impfverweigerer einschießt wie Söder, Scholz und andere, lenkt damit schön von eigenen Versäumnissen ab. Die Booster-Impfkampagne läuft chaotisch, Schulen fehlen weiter Luftfilter, auf ein heruntergespartes Gesundheitssystem trifft eine vierte Welle, die seit Monaten vorhergesehen worden ist. Ja, wir sollten über die reden, die sich nicht solidarisch verhalten. Aber bitte nicht nur."

Aus möglicherweise genau diesen Überlegungen ignoriert die "taz" die Impfpflicht-Diskussion in ihrer aktuellen Ausgabe (nachdem sie gestern ein Pro und Contra zur Impfpflicht auf der Titelseite gebracht hat). Im Tagesspiegel stellt Joachim Huber wiederum zum Thema Impfen einen humoristischen "Maßnahmenkatalog" für Medien zusammen. Darin fordert er zum Beispiel:

"'Impfen vor acht' statt 'Börse vor acht': Menschen erzählen mit ihren eigenen Worten, warum sie sich nach anfänglicher Skepsis haben impfen lassen."

Zum Schluss noch eine Randnotiz: Dass bei der Impf-Kommunikation ordentlich etwas schief gegangen sein muss, lässt ein altes Tagesschau-Video von 2015 vermuten: Damals sprachen sich laut Deutschland-Trend 87 Prozent der Ostdeutschen für eine Masern-Impfpflicht aus, aber nur 68 Prozent der Westdeutschen. Heute finden sich die niedrigeren Impfquoten überwiegend in den ostdeutschen Bundesländern. Oder wie lässt sich das sonst erklären?

Mord ist keine "Familientragödie"

Statt der Impfpflicht-Debatte hebt die "taz" heute ein anderes Thema auf die Titelseite: Partnerschaftsgewalt. 139 getötete Frauen und 30 getötete Männer zählt die BKA-Statistik im Lockdown-Jahr 2020, hinzu kommen weitere Partnerschaftsgewaltdelikte im sechsstelligen (!) Bereich und eine vermutlich enorme Dunkelziffer. Die geschäftsführende Justiz- und Familienministerin Christine Lambrecht hat diese und weitere Zahlen gestern, zwei Tage vor dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, vorgestellt und dabei die Medien aufgefordert, bei dem Thema nicht von "Familientragödien" zu schreiben (Zitat zu finden bei BR24):

"Da stellen sich mir die Haare auf, wenn ich das lese. Wenn ein Partner, ein Ex-Partner eine Frau oder Kinder tötet, dann ist das nichts anderes als ein Gewaltdelikt, und als solches muss es auch bezeichnet werden."

Am Montag erst hat eine neue Studie von der MaLisa-Stiftung und der UFA gezeigt, dass medial bei dem Thema Nachholbedarf besteht: Eine stichprobenartige Auswertung von acht Fernsehsendern zeigt, dass geschlechtsspezifische Gewalt in Krimis und Spielfilmen beliebtes Thema ist, dabei aber nur selten Betroffene zu Wort kommen. Auch Trigger-Warnungen und Hinweise auf Hilfsangebote fehlen meist.

In der journalistischen Berichterstattung in Zeitungen ist das Thema hingegen eher unterrepräsentiert, so steht es in einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung von diesem Sommer, über die der Deutschlandfunk berichtete:

"'Damit Gewalt gegen Frauen die Schwelle zur Berichterstattung überschreitet, muss sie besonders brutal sein', sagte Studienleiterin Christine Meltzer im Deutschlandfunk. Zumeist würden Tötungsdelikte dargestellt – und hier mit einem besonderen Fokus auf Gewalt, die von den Frauen fremden Tätern ausgeführt werde. 'Obwohl die im Verhältnis seltener vorkommt', so Meltzer. Gewalt zwischen aktuellen oder ehemaligen Partnern dagegen finde 'verhältnismäßig wenig Platz in der Berichterstattung.'"

Sie beobachtet aber auch, dass Begriffe wie "Familientragödie" oder "Ehedrama" inzwischen nicht mehr so oft zu lesen sind – auch weil die dpa diese Wörter seit 2019 meide.

Lichtblick für Meta-Hater

Zum Schluss noch was Technisches: Viele Medienaffine haben inzwischen eine ganze Reihe von Messengerdiensten auf dem Smartphone installiert und werden somit schön abwechselnd vom Plingen von WhatsApp, Signal, Threema und Telegram aus dem "Workflow" gerissen. Geradezu revolutionär wäre es somit, wenn eine einzige App ausreichen würde, um mit allen Kontakten zu schreiben (oder den Nachrichtenempfang für ein paar Stunden stummzuschalten) – und zwar, indem sich Nachrichten auch von Threema zu WhatsApp schicken lassen und so weiter.

Bei näherem Hinsehen ist die Idee so revolutionär auch wieder nicht: Eine E-Mail lässt sich ja auch seit jeher von einem t-online-Konto an einen Web.de-Nutzer verschicken. Dass das bei Messengerdiensten noch nicht der Fall ist, ist die Grundlage für die sagenhaften Monopole von Konzernen wie Meta (ehemals Facebook). Dessen Messenger-Platzhirsch WhatsApp nicht zu nutzen, muss man sich leisten können – vor allem, wenn man international Kontakt halten will.

Es ist also eine gute Nachricht, dass die EU das Problem in ihrem jüngsten Vorstoß zur Einhegung der großen Internetkonzerne angehen will: Der Digital Markets Act (nicht zu verwechseln mit dem Digital Services Act, der auch für kleine Anbieter gelten soll) könnte die "Interoperabilität" der Plattformen vorschreiben – also die Möglichkeit für Nutzerinnen und Nutzer, plattformübergreifend zu agieren. Auf Netzpolitik.org schreibt Alexander Fanta dazu:

"Dies ermögliche die 'freie Wahl bei Preis und Leistung, Datenschutz und Sicherheit der Messengerdienste‘, sagte die grüne Abgeordnete Alexandra Geese. Weniger positiv äußerte sich FDP-Abgeordnete Svenja Hahn, die sagte, die Vorschläge seien 'in der Zielrichtung nicht klar und technisch in dieser Form gar nicht umsetzbar'. Das spiegelt die Debatte unter Expert:innen und Netzaktivist:innen wider, von denen einige vehement auf solche Vorschriften drängen, während einzelne Stimmen Bedenken äußern, dass Interoperabilität Innovation hemmen könnte."

Beschlossen ist noch nichts, aber nachdem die EU-Kommission vor einem knappen Jahr die ersten Vorschläge auf den Tisch gelegt hat, hat sich gestern nun auch der zuständige Ausschuss im EU-Parlament geeinigt (Heise). Netzpolitik-Experte Fanta zufolge stehen aber noch langwierige Verhandlungen zwischen Rat, Parlament und Kommission an.


Altpapierkorb (... 15 Minuten TV-Wundertüte, Spotify-Podcasts, BDZV und Döpfner)

+++ Heute Abend gibt es zur Primetime auf Pro.Sieben wieder Überraschungsprogramm: Das Moderatorenduo Joko & Klaas hat gestern 15 Minuten Sendezeit gewonnen. Den prominenten Sendeplatz haben die beiden schon für Klamauk genutzt, aber auch ernste Themen wie den Alltag von Pflegepersonal, die Zustände im Flüchtlingslager Moria oder Sexismus im Alltag (ein paar Videos hier). Die meisten ihrer Aktionen stehen im Anschluss nicht online, sondern sind nur live zu sehen.

+++ Ein Premium-Account bei Spotify, bislang eine Flatrate für Musik und Podcasts, reicht nicht mehr aus, um alle Inhalte auf der Plattform zu hören. In den USA gibt es schon seit August auch kostenpflichtige Podcasts, jetzt kommt die Funktion in den deutschsprachigen Raum, wie das Unternehmen gestern meldete. Spotify rollt Kreativen dabei einen roten Teppich aus: Sie dürfen zunächst alle Einnahmen behalten, ab 2024 sollen sie dann fünf Prozent abgeben.

+++ Heute trifft sich das Präsidium des Bundesverbands der Zeitungsverleger und Digitalpublisher und berät darüber, ob Springer-Chef Matthias Döpfner Verbandspräsident bleiben soll, obwohl er in einer privaten SMS vor ein paar Wochen, "Sinn, Ethos und sämtliche Mitglieder dieses Verbands" herabgewürdigt hat, wie Nils Minkmar in der SZ (€) schreibt (siehe auch Altpapier). Minkmar stellt unter anderem die Frage: "Würde die Nasa einen Chef dulden, der privatissime verbreitet, die Sonne kreise um die Erde?"

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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