Teasergrafik Altpapier vom 16. Dezember 2021: Porträt Autorin Jenni Zylka
Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Das Altpapier am 16. Dezember 2021 Grünes Männchen des Jahres

16. Dezember 2021, 11:25 Uhr

Die Kritik am Time Magazine-Titel "Person of the Year" für Elon Musk ist nicht ganz gerechtfertigt. Denn das Prädikat ist keine Auszeichnung. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Was haben Schurken und Himmelskörper gemeinsam?

Hört gut zu, Kinder, Oma erzählt vom Print: Vor fast einem Jahrhundert, 1927 nämlich, wählte das noch junge, US-amerikanische Time Magazine (in einer redaktionellen, keiner Abstimmungsentscheidung) mit Charles Lindbergh erstmals den "Man of the Year" – im Mai des Jahres hatte der tollkühne Pilot in einer fliegenden Kiste den Atlantik überquert, es war die Premiere eines solchen Fluges. In den nächsten Jahren fanden sich in der versatilen Time Magazine-Kategorie viele Politiker und Staatsoberhäupter, 1936 bekam Wallis Simpson den ersten (Wo-)Man of the Year-Titel für ihr notorisches und letztlich effektives Vom-Regieren-Abhalten des britischen Königs Edward VIII. Sie sei, so schrieb das Magazin damals,

"the most-talked-about, written-about, headlined and interest-compelling person in the world."

Hitler, Stalin und Mohammad Mossadegh wurden in den Jahren 1938, 1939 und 1951 gekürt, lautstarke Kritik folgte auf dem Fuße. Immer wieder ging die Bezeichnung an fest umgrenzte (1968 "The Apollo 8 Astronauts") oder undifferenzierte Gruppen wie 1969  "The Middle Americans" - eine von Präsident Nixon in einer Fernsehansprache so bezeichnete, vermutete schweigende Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner, bei der angenommen wurde, dass sie ihre politische Meinung (pro-Regierung) nicht offen sagte. Anders als die Minderheit, so lautete die Analyse der republikanischen Partei, denn nur diese kritisierte nach Ansicht der Regierung den Vietnameinsatz des Landes offen, und bemühte sich auch ansonsten lauthals und tüchtig um Revolution auf verschiedensten Ebenen. Hier ist ein interessanter Ausschnitt aus der dazugehörigen Coverstory der Zeitschrift, mit bildhaften, zeitlosen Zutaten wie "selbstbewusster Patriotismus", "gefühlte Präsenz", und "der Kurs eines Landes":

"Everywhere, they flew the colors of assertive patriotism. Their car windows were plastered with American-flag decals, their ideological totems. In the bumper sticker dialogue of the freeways, they answered MAKE LOVE NOT WAR with HONOR AMERICA or SPIRO IS MY HERO. They sent Richard Nixon to the White House and two teams of astronauts to the moon. (…) But in 1969 they began to assert themselves. They were 'discovered' first by politicians and the press, and then they started to discover themselves...It was their interpretation of patriotism that bought Richard Nixon the time to pursue a gradual withdrawal from the war. By their silent but newly felt presence, they influenced the mood of government and the course of legislation, and thus began to shape the course of the nation and the nation's course in the world. The Men and Women of the Year were the Middle Americans..."

1975 wurden, ha, "American Women" zum "Man of the Year", 1982 der Computer zur "Machine of the Year" gewählt. "The endangered earth", gefährdet durch das alte Lied mit den Strophen Klimawandel, Ozonloch und Abholzung des Regenwaldes, erhielt 1988 den Titel "Planet of the Year" (und hat ihn bis jetzt nicht abgegeben).

Seit 1999 heißt das Prädikat genderneutral "Person of the Year". "The Whistleblowers" haben es erhalten, die Köpfe der #metoo-Bewegung, Angela Merkel, die "Ebola fighters", Greta Thunberg, im letzten Jahr Präsident Biden und Kamala Harris (Donald Trump war "Person of the Year 2016"). Das Ganze ist somit eine lange, seit neuestem leidlich bunte, abwechslungsreiche Liste aus Schurken, Heldinnen und Helden und lokalen Himmelskörpern.

Wer ist mein Onkel vom Mars?

Am Montag gab das Magazin bekannt, dass seine Jahresperson 2021 ein Milliardär mit Marsfimmel sei: Elon Musk. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Die demokratische Senatorin Elizabeth Warren schimpfte beziehungsweise twitterte, dass man die "Person of the Year" bei der Gelegenheit mal zum Steuerzahlen verdonnern sollte, der New York Times- und Buchautor Kurt Eichenwald sprach beziehungsweise twitterte von der "schlechtesten Wahl, die je getroffen wurde", und machte gleich Alternativvorschläge:

"I held back on saying much about Time selecting Elon Musk as person of the years until I read their reasoning. In a year when the developers of the mRNA vaccines have saved millions and helped restore global economies, the selection of Musk this year may be the worst choice ever."

Und die taz kommentierte gestern:

"Musk als Person des Jahres zu bezeichnen, ist ähnlich weit hergeholt wie seine Besiedlungspläne für den Mars. Sie gelten als umstritten, werden von Ex­per­t:in­nen als Utopien abgetan. Allein der Transport von Menschen und Material zu dem Planeten dauere mehr als ein halbes Jahr. Und die Reise dorthin sei gefährlich. Was die Menschen auf diesem Planeten wohl 2021 mehr beschäftigt haben mag als ihren potenziellen Umzug auf den Mars, das ist eine globale Pandemie, die auch über ein Jahr nach ihrem Ausbruch nicht besiegt ist und Menschenleben fordert. (…) Warum ehrt man nicht auch in diesem Jahr, in dieser historischen Lage, Menschen, die jeden Tag ihr Leben für andere riskieren?"

Sämtliche Kritik an Musk stimmt: Die globale Pandemie hat uns mehr beschäftigt, als der Onkel vom Mars; in Sachen Steuern verhält sich der Milliardär hochproblematisch (angeblich 0 Dollar Einkommensteuer in 2018); und er redete noch im letzten Jahr (vor seiner eigene Infektion) absoluten Quatsch zur Corona-Pandemie. Von der Tesla-Gigafactory in einem Trinkwasserschutzgebiet Brandenburgs und den dadurch entstehenden Problemen mal ganz abgesehen, und auch von der Sinnfrage der Marsmissionen. Wo da oben doch eh niemand wohnt außer Pat Mallets unfassbar notgeile "Kleine grüne Männchen".

Welche Rolle spielt der Titel?

Dennoch muss man in Betracht ziehen, was gemeint ist mit diesem ominösen Titel eines alternden Print-Magazins, dessen Auflage in den letzten zehn Jahren von drei auf 1,6 Millionen Exemplare gesunken ist. Denn hier ist die eigene Definition der Zeitschrift für ihre Auswahl. Laut des Time Magazine-Jahrbuchs kommen folgende Menschen/Dinge als "Person of the Year" in Frage:

"A person, a group, an idea, or an object that for better or for worse... has done the most to influence the events of the year."

Wobei das "for better or for worse" der wichtigste Teil des Satzes ist: Die Dekorierung ist keine Auszeichnung. Sondern ein Titel, eine Bezeichnung, die – siehe Hitler – auch die schlimmsten von allen treffen kann, wenn sie, nach Ansicht der Redaktion, und vermutlich auch ein bisschen abgestimmt auf die Neugier der Leserschaft, das Leben in dem Jahr beeinflusst hat.

Die Kritik an dem Titel für den reichen Mann fällt zudem ein wenig ins Leere, weil der dazugehörige, lesenswerte Hintergrundartikel ein Portrait voller Abgründe, Ambivalenzen und Fragezeichen ist. Die genannten Tadel kommen sämtlich darin vor:

"Former associates have described Musk as petty, cruel and petulant, particularly when frustrated or challenged. He recently separated from the experimental musician Grimes, the mother of his seventh son. "He is a savant when it comes to business, but his gift is not empathy with people," says his brother and business partner Kimbal Musk. During the COVID-19 pandemic, he’s made statements downplaying the virus, broken local health regulations to keep his factories running and amplified skepticism about vaccine safety."

Oder:

"A recent ProPublica investigation found that Musk and many others in his tax bracket paid no individual federal taxes as recently as 2018 because they had no income, only assets. In October, Senate Democrats considered imposing a "billionaires’ tax" on wealth. When Democratic Senator Ron Wyden of Oregon tweeted in support of it, Musk responded with a vulgar insult of Wyden’s appearance in his profile photo."

Oder:

"Musk’s January announcement of a $100 million climate prize rankled some environmentalists because of its inclusion of proposals for direct-air carbon capture—giant machines to suck carbon dioxide out of the atmosphere. While some experts say researching that technology is necessary, others see it as a costly distraction. "Direct-air capture is a boondoggle," says Mark Jacobson, director of Stanford’s Atmosphere/Energy program. "We can’t waste our time and money on things that just don’t work very well.""

Wie fängt man Mäuse?

Natürlich bekommt der Mann durch den Titel Aufmerksamkeit. Doch er kommt unterm Strich nicht als Held weg. Sondern als enigmatischer, latent gefährlicher, in seinen Visionen höchst interessanter Mensch – insofern passt das zu der Definition, die das Magazin sich selbst gestellt hat.

Nebenbei gibt es die von verschiedenen Seiten geforderte Ehrung von Impfstoff-Forscherinnen und -Forscher ebenfalls: In der im gleichen Heft (neben anderen) ausgerufenen Kategorie "Heroes of the Year" werden tatsächlich vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorgestellt, die Impfstoffe entwickelten, mit einem langen Hintergrundbericht und vielen Fotos. Und dieser Heldentitel ist eindeutig als Auszeichnung gemeint.

Man könnte jetzt dennoch maulen, dass sich der Text über die Forscherinnen und Forscher im Heft befindet, vorne drauf jedoch der komische Musk in die Gegend schaut. Tatsächlich gilt aber auch für ein versiertes Zeitgeist-Magazin wie "Time" bei der Covergestaltung der alte "Mit Speck fängt man Mäuse"-Spruch: Damit jemand die Zeitung kauft, und den Text über die Forscherinnen und Forscher liest, setzt man ein kontroverses, und darum spannendes Motiv vorn drauf. Immerhin ist es keine Blondine, der von einem kleinen grünen Männchen das Bikini-Oberteil gelupft wird.


Altpapierkorb

+++ Der Tagesspiegel berichtet, dass der Presserat ein Verfahren gegen die Bild-Zeitung eingeleitet hat, wegen "Schüren von Verschwörungstheorien" und "Hetze gegen Wissenschaftler". Im März 2022 soll darüber entschieden werden. Auch übermedien nimmt sich dieses Themas an.

+++ Die FAZ beschreibt die Berichterstattung über einen Mord an einem jungen weißen Mann durch zwei junge schwarze Männer, den u.a. die New York Times aufgriff, und dabei die Hautfarben der Täter und des Opfers nicht erwähnte. Die italienische Zeitung Courriere hatte sich den Bericht genau angeschaut, und hatte laut FAZ konstatiert,

"dass die selektive Berichterstattung der "New York Times" zum Fall Giri einen ‘beunruhigenden Ausblick auf den ,neuen Journalismus‘ gewährt: auf einen militanten und von einer ideologischen Agenda geprägten Journalismus, der sich auch bei der Berichterstattung über Kriminalität einer Stammeslogik beugt‘".

Bums, da ist schon wieder der Vorwurf der ideologischen Agenda. Darüber wird man weiterdiskutieren.

+++ Der Intendant der Deutschen Welle, Peter Limbourg, hat sich gegenüber der Jüdischen Allgemeinen zu den Antisemitismusvorwürfen in seinem Sender geäußert, Versäumnisse eingestanden und eine Untersuchung angekündigt. Na also.

+++ Noch ein zwei Personalien: Christiane Hoffmann, die ehemalige stellvertretende Leiterin des Hauptstadtbüros des Spiegels wird Vize-Regierungssprecherin, meldet die Süddeutsche.

+++ Und Birgit Schrowange will wieder ins On, und ist zu Sat 1 marschiert, weiß der Spiegel. Hurra.

0 Kommentare