Teasergrafik Altpapier vom 17. Dezember 2021: Porträt Autor Ralf Heimann
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Das Altpapier am 17. Dezember 2021 Schattenboxen mit Messer

17. Dezember 2021, 13:47 Uhr

Auf der Welt sitzen so viele Medienschaffende im Gefängnis wie noch nie. Aber die Medien sind gefangen in ihren eigenen Mechanismen. Von der Chinesin Zhang Zhan hat man seit knapp drei Wochen nichts gehört. Im Fall Assange stellen die Regierungen sich taub. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Aufmerksamkeit und Steinzeithirne

Anfang des Monats saßen auf der Welt 488 Medienschaffende im Gefängnis, ein Fünftel mehr als im vergangenen Jahr und so viele wie nie zuvor, so steht es in der Jahresbilanz der Organisation "Reporter ohne Grenzen". Allein im vergangenen Jahr sind fast hundert Inhaftierungen hinzugekommen, der Großteil der Medienschaffenden in Haft sind Männer, aber der Anteil der Frauen hat sich innerhalb von vier Jahren auf über zwölf Prozent verdoppelt.

Für die hohen Zahlen sind vor allem drei Staaten verantwortlich: Belarus, Myanmar und China, wobei China die Statistik mit 127 Journalistinnen und Journalisten, die in Gefängnissen sitzen, anführt und Belarus zu den Ländern gehört, die mehr Frauen (17) als Männer (16) durch Freiheitsentzug an ihrer Arbeit hindern.

Der Bayerische Rundfunk versieht den Bericht über diese Statistik in der Überschrift mit der Einordnung "Erschreckende Zahlen", weil man dort offenbar annimmt, dass viele Menschen das gar nicht selbst erkennen werden. Und wenn das so ist, muss man den Effekt eben noch etwas verstärken.

Das sind Gesetze der Aufmerksamkeit. Sie sind dafür verantwortlich, dass in den Nachrichten vor allem die schlechten Meldungen dominieren. Eine Erklärung dafür ist das Steinzeithirn, das seit jeher aus existenziellen Gründen sensibler auf all das reagiert, was gefährlich werden könnte.

Die Titelzeile hätte im Falle des Reporter-ohne-Grenzen-Berichts auch lauten können: "So wenige Medienschaffende getötet wie seit fast 20 Jahren nicht." Auch das steht so im Bericht. Wenn man verstehen möchte, warum das nicht die Titelzeile ist, stellt man sich am besten das Geräusch eines knarzenden Schaukelstuhls vor, in den sich ein Mensch erleichtert zurückfallen lässt und dabei leise seufzt: "Hach, dann ist ja doch alles in Ordnung."

Das wäre eben nicht im Sinne der Nachricht, deren Funktion nach dem gängigen Verständnis unter anderem ist, auf Missstände aufmerksam zu machen, damit sich an ihnen möglichst bald etwas ändert.

In einer Welt, die nur aus schlechten Nachrichten besteht, ergibt sich aber unglücklicherweise ein anderer Effekt, den wir aus Pandemiezeiten kennen: Menschen gewöhnen sich schnell an alles, auch an die größten Schreckensmeldungen, zum Beispiel an vierstellige Inzidenzen, und dann stumpfen sie ab.

Erzählmuster und Exposition

Genau so passiert es nun mit den Zahlen zur Inhaftierung von Medienschaffenden: Die 488 ploppt einmal kurz in den Nachrichten auf, ist aber am Tag darauf schon wieder vergessen, denn da sind ja auch noch Corona, die Impfstoffknappheit, ein Angriff mit einer Axt in Berlin und was sonst nicht noch alles. Das klingt vielleicht etwas naiv, denn so funktioniert das Geschäft eben. Aber es ging ja auch schon mal anders, und einige Parameter können dafür sorgen, dass die Aufmerksamkeit sich etwas länger konservieren lässt.

Wenn ein deutscher Korrespondent in der Türkei im Gefängnis sitzt, dann lässt sich daraus eine Geschichte entwerfen, die, so gruselig das technisch klingen mag, im Nachrichtenstrom als serielles Erzählformat ein paar Monate oben schwimmt. Ein Held, der möglichst das Nachrichtenkriterium der Nähe erfüllt und damit das Gefühl transportiert: Das hätte man auch selbst sein können.

Ideal ist dazu, wenn das alles in klassische Erzählmuster passt, David gegen Goliath, Gut gegen Böse. Die Exposition ist wichtig. Es muss gelingen, das Publikum mit dem Personal der Geschichte vertraut zu machen, dann ergibt sich schnell der Effekt einer Netflixserie: Man möchte wissen, wie es weitergeht, immer das mögliche Happy End vor Augen.

Doch der Versuch, diesen Zustand herzustellen, misslingt immer wieder. Nur warum?

Die Mechanik der menschlichen Wahrnehmung

Vor zweieinhalb Wochen bewegte sich der Aufmerksamkeitskegel kurz auf Zhang Zhan, die Bloggerin, die in China in Haft sitzt, weil sie über die Corona-Politik in Wuhan berichtete. Eine gewisse Nähe wäre also schon da. Die Stadt kam über Wochen täglich in den deutschen Nachrichten vor, von dort aus exponenzierte sich das Virus in weniger als 80 Tagen um die Welt, wo es nun seit fast zwei Jahren um praktisch nichts anderes mehr geht.

Ende November verbreiteten Organisationen und Prominente einen Morgen lang Tweets, in denen sie auf die Inhaftierung hinwiesen (Altpapier). Zhang Zhan war in einen Hungerstreik getreten. "Bloggerin in Lebensgefahr" titelte der Bayerische Rundfunk. Es klang sehr dramatisch. Und was passierte dann?

Nichts. Jedenfalls nicht in deutschen Medien. Seit drei Wochen ist so gut wie keine Meldung und kein Bericht über Zhang Zhan erschienen, möglicherweise weil China dann doch etwas zu weit weg ist und die emotionale Nähe fehlt. Im Jahresbericht von "Reporter ohne Grenzen" heißt es: "Kein Journalist, keine Journalistin ist dem Tode derzeit so nah wie die chinesische Bürgerjournalistin Zhang Zhan." Und wenige Sätze weiter: "Sie ist zu schwach zum Gehen oder um ihren Kopf zu heben."

Es ist ernüchternd und enttäuschend, weil so eine Geschichte die durchschaubare Mechanik der menschlichen Wahrnehmung offenlegt. Dieser Erzählung fehlt mindestens ein Element, um sich für eine Fortsetzung zu qualifizieren. Das könnte ein deutscher Pass sein. Oder, und das klingt jetzt sehr zynisch, aber es ist leider so: ihr Tod.

Wirkung eines Terrorakts

In einem anderen Fall, der im Jahresbericht von "Reporter ohne Grenzen" ebenfalls vorkommt, ist die Aufmerksamkeit trotz des fehlenden Passes nicht das Problem. Im Gegenteil. Hier zeigt sich trotz der über Jahre andauernden Berichterstattung die Machtlosigkeit von Medien, Institutionen, sogar der Person, die von den Vereinten Nationen installiert wurde, um auf genau solche Fälle aufmerksam zu machen.

Julian Assange sitzt seit 2019 im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, weil er Daten veröffentlicht hatte, die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen im Irak und in Afghanistan dokumentieren.

In den vergangenen Tagen entschied der britische High Court: Assange kann an die USA ausgeliefert werden (Altpapier). Das würde bedeuten, er bleibt unter Umständen für immer im Gefängnis. Kurz danach erschienen Berichte, nach denen Assange einen leichten Schlaganfall erlitten hat.

In der aktuellen Ausgabe der Zeit schreibt der Schriftsteller Eugen Ruge (€), der Fall sei "ein nicht enden wollender Skandal". Was hier passiere, sei "eine widerwärtige Verhöhnung jener Werte, die die westliche, besonders natürlich die US-amerikanische Politik unaufhörlich in Anspruch nimmt, um ihre Invasionen und Sanktionen zu rechtfertigen". Würde man Assange ausliefern, wäre das für ihn ein "politischer point of no return, eine durch nichts wiedergutzumachende Unterlassung", so schreibt er.

An Drastik und Dramatik sind die Worte kaum zu überbieten, aber es ist doch nicht mehr als ein Schattenboxen, in dem der Kontrahent des Schattens in der nächsten Eskalationsstufe auch noch ein Messer zieht.

Eugen Ruge weiß natürlich um die wahrscheinliche Vergeblichkeit seiner Worte, auch wenn sie in Deutschlands zweitgrößter Wochenzeitung stehen. Seinem Appell an die Bundesregierung, sich für Assange einzusetzen, stellt er den Satz voran: "Meine Stimme zählt wenig, meine Person zählt nichts".

Aber sogar der UN-Sonderbeauftragte Nils Melzer erscheint in diesem Spiel wie ein ohnmächtiger Bürger, der am Ende auch nicht viel mehr machen kann, als immer wieder darauf hinzuweisen, dass die da oben im Zweifel machen, was sie wollen. Er gibt Interviews in Medien, die Millionen von Menschen erreichen, er schreibt Bücher, seine Worte könnten nicht deutlicher sein.

Ich wiederhole hier noch einmal das Zitat aus Annika Schneiders Altpapier am Montag. Melzer sagte:

"Während meiner Arbeit über die diplomatischen Kanäle, die mir zur Verfügung stehen, hat man mir leider die Zusammenarbeit in diesem Fall systematisch verweigert. Und das hat mich ja auch so schockiert, weil ich es hier nicht mit irgendwelchen Diktaturen zu tun habe, sondern mit westlichen Rechtsstaaten."

Melzer erreicht mit seinem Wirken nicht einmal, dass die Bundesregierung einen einzigen Satz zu diesem Fall sagt.

Im Januar sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amts auf die Frage, ob sie die Kritik des Menschenrechtsbeauftragten an dem Verfahren in Großbritannien teilt:

"Wir haben (…) immer wieder deutlich gemacht, dass wir den Prozessverlauf in Großbritannien von hier aus nicht öffentlich kommentieren. Dabei bleibt es auch weiterhin."

So ergibt sich der Eindruck, dass die westlichen Staaten, auch die Bundesregierung, sich in einem mutmaßlichen Verbrechen in voller Absicht zu Komplizen machen. Sie wissen, hier passiert ein Unrecht. Aber sie wollen, dass dieses Unrecht passiert. Es soll offenbar die gleiche Wirkung enthalten wie ein Terrorakt, es soll Furcht verbreiten. Hier wird ein Mensch zerstört, um allen anderen zu zeigen: Das kann jedem passieren, der unsere Geheimnisse öffentlich macht.

Die Angst vor Anarchisten

Aber warum trifft es Assange und andere nicht, die im Wesentlichen ähnliche Dinge gemacht haben. Mit dieser Frage beschäftigt sich Wolfgang Michal in einem Beitrag für den Freitag. Im Teaser steht:

"Den Nationalisten Alexei Nawalny überhäuft Europa mit Mitgefühl, Lob und Preisen. Im Fall des Wikileaks-Gründers dagegen zieht die EU feige den Kopf ein. Woher kommt dieses Messen mit zweierlei Maß?"

Michals Antwort:

"Der Westen fürchtet sich vor Anarchisten einfach mehr als vor Nationalisten. Denn Nationalisten haben gegen autoritäres Regieren nichts einzuwenden, Anarchisten sehr wohl. Deshalb zeigt die Staatsgewalt – egal ob demokratisch oder autoritär – gegenüber Anarchisten extreme Härte."

Als Beispiel führt Michal den Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin an, der später zwar mit gesundheitlich schwerer Schlagseite aus der sibirischen Verbannung fliehen konnte, aber nicht begnadigt wurde.

Und was könnte im Fall Assange passieren? Die "EU könnte ihre bislang bloß behauptete Souveränität endlich unter Beweis stellen und sich mit der gleichen Vehemenz für eine Freilassung von Assange einsetzen wie für Nawalny", schreibt Michal.

Es geht hier aber natürlich nicht nur um die Personen, die in Haft sitzen, sondern auch um das Verhältnis der beteiligten Staaten untereinander, um Loyalität unter Freunden (im Fall Assange) und die sich bietende Möglichkeit, die eigene Moralität mithilfe des auf Russland gerichteten Zeigefingers aufzuwerten.

Damit geht es auch um die Geschichte, die medial transportiert wird. Der Bösewicht Russland eignet sich wunderbar als Folie für Anschuldigungen jeder Art. Das soll nicht heißen, dass sie nicht berechtigt wären, aber sie zu äußern, ist ungefährlich.

Im Falle eines Staates mit ähnlichen Werten und Grundsätzen könnte die Geschichte auch eine andere Flugbahn nehmen, die eines Bumerangs – wenn sie nämlich am Ende nur die eigene Doppelmoral offenlegt. Die letzte Bundesregierung wollte gerade nicht das Signal senden: "Unsere Geheimnisse könnt ihr ruhig veröffentlichen, wenn es da Dinge gibt, die die Öffentlichkeit wissen sollte."

Dieser Unwillen zu Transparenz war so groß, dass die Regierung sich damit sogar über europäisches Recht hinweggesetzt hat. Genau heute endet die Frist, zu der Deutschland die Whistleblower-Richtlinie umgesetzt haben muss. Das neue Gesetz soll verhindern, dass Menschen ihre Existenz aufs Spiel setzen, wenn sie Missstände öffentlich machen.

Michael Borgers hat darüber für das Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres mit Thomas Kastning vom Verein "Whistleblower-Netzwerk" gesprochen, der erklärt, wie es dazu kam. Es passierte ohne offenen politischen Widerstand, sondern auf "der subtilen Ebene", so Kasting. Das SPD-geführte Justizministerium habe einen Vorschlag gemacht, die der Transparenz grundsätzlich kritisch gegenüberstehende CDU, konkret das Innen- und Wirtschaftsministerium, hätten nicht zugeliefert. Und man muss ein bisschen an den Witz denken: "Kommen Sie raus, und ergeben Sie sich! Wir zählen jetzt bis drei. Wenn Sie nicht rauskommen, zählen wir weiter."

Die neue Bundesregierung hat angekündigt, sich etwas mehr zu beeilen. Es bleibt ja noch etwas Zeit, jedenfalls der Regierung. Zum Fall Julian Assange könnte Olaf Scholz sich auch schnell äußern. Er könnte Assange sogar politisches Asyl anbieten, wie etwa die Linksfraktion es fordert. Aber das würde diplomatischen Ärger verursachen. Leichter ist es, einfach nichts zu sagen. Dann lässt die Berichterstattung in der Regel schnell wieder nach. Auch das ist ein Gesetz der Aufmerksamkeit.


Altpapierkorb (Papier bleibt, Compact bleibt im Regal, Spiegel und Springer glücklich, die neuen Regierungssprecher, Youtube sperrt RT, Scholz antwortet nicht)

+++ René Martens hatte es vor zwei Tagen erwähnt: Heute erscheint die letzte Print-Ausgabe der Medienkorrespondenz. Altpapier-Kollege Christian Bartels hat für seine Kolumne dort mit dem Buchwissenschaftler Daniel Belingradt von der Uni Erlangen-Nürnberg über die "materielle Zukunft von Papier in einer digitalen Welt" gesprochen.

+++ Der Verfassungsschutz beurteilt das völkisch-nationalistische Schwurbler-Magazin "Compact" als "gesichert rechtsextrem". In vielen Supermärkten liegt es trotzdem weiterhin in den Regalen, schreibt Lisa Kräher für Übermedien. Das hat mit dem deutschen Pressevertriebssystem zu tun, das Supermärkten nicht die Möglichkeit lässt, die Magazinauswahl selbst zu treffen, aber möglicherweise auch mit Supermärkten, die sich vor Auseinandersetzungen scheuen, wie Lisa Kräher erklärt.

+++ Der Spiegel hat laut Chefredakteur Steffen Klusmann ein "Bombenjahr" hinter sich, berichtet Alexander Krei für DWDL. Man habe den Plan gehabt, die Zahl der Abos innerhalb von fünf Jahren auf 200.000 zu verdoppeln. Nun sei man nach dem dritten Quartal des ersten Jahres schon bei 140.000.

+++ Springer ist ebenfalls sehr glücklich. Vorstandschef Mathias Döpfner spricht von "einem hervorragendem zweistelligen Umsatzwachstum", das alle Erwartungen übertroffen habe, hier nachzulesen bei Horizont.

+++ Sebastian Wellendorf hat für das Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres mit Gordon Repinski, dem stellvertretenden "The Pioneer"-Chefredakteur, über den neuen Regierungssprecher Steffen Hebestreit gesprochen – und darüber, was sich mit ihm und seinem Team ändert. Spoiler: Es gibt zum Beispiel wieder Fotos aus dem Regierungsflieger.

+++ Der russische Propagandasender RT hatte fünf Stunden lang einen neuen Youtube-Kanal. Der wurde dann allerdings gleich wieder gelöscht, berichtet unter anderem der Spiegel. Laut Youtube hatte RT gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen. RT hatte einen neuen Kanal eröffnet, um die Sperrung eines anderen zu umgehen, und das jetzt auch schon zum zweiten Mal.

+++ Daniel Bouhs hat sich für das NDR-Medienmagazin "Zapp" mit der Medienstrategie von Olaf Scholz beschäftigt. Dazu hätte er gern auch mit Scholz selbst oder jemandem aus seinem Kommunikationsteam gesprochen, aber – und auch das ist natürlich schon aufschlussreich – es kam keine Antwort.

Ihnen ein schönes Wochenende!

Neues Altpapier gibt es am Montag.

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