Teasergrafik Altpapier vom 7. Januar 2022: Porträt Autor Ralf Heimann
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Das Altpapier am 7. Januar 2022 Das ist kein Spaziergang

07. Januar 2022, 09:53 Uhr

Im ganzen Land gehen Menschen spazieren. Das soll harmlos erscheinen, ist es aber nicht. Und: Ein harmlos erscheinender Nebensatz im Entwurf des neuen Programmauftrags führt zu großen Abwehrreaktionen. Warum eigentlich? Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Die Hundepfeifen-Strategie

Das große Rätsel dieser Tage sind Spaziergänge, die eigentlich keine Spaziergänge sind, sondern Protestzüge, die harmlos erscheinen sollen. "Tatsächlich ist aus Querdenkern, Esoterik-Gläubigen und Rechtsextremen eine gefährliche Protestbewegung entstanden, ihr kaum verstecktes Ziel ist der Umsturz", schreibt Sascha Lobo in seiner aktuellen Spiegel-Kolumne. Daher richtet sich die Wut nicht nur gegen die Regierenden, die für die Corona-Regeln verantwortlich sind, sondern auch gegen Medien, die zwar nichts für die Corona-Regeln können, aber ja irgendwie auch zum System gehören. Auf einem in Lobos Beitrag abgebildetem Protestschild steht: "Bin geimpft gegen ARD u. ZDF Propaganda!"

Die verschiedenen Gruppen, die wir aus den vorangegangenen Staffeln der 2010er-Jahre kennen, unternehmen in ihrer Freizeit jetzt gemeinsam etwas. Mit dabei sind natürlich auch jene, die sich auf die harmlos klingenden Veranstaltungstitel berufen, in denen es um "Freiheit", "Frieden" oder "Demokratie" geht. Was auf der einen Seite eben "Freiheit", "Frieden" und "Demokratie" bedeutet, andererseits sind es Chiffren aus der rechten Szene, wie die Sozialpsychologin Pia Lamberty vor ein paar Tagen im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland erklärte. Sie sagt:

"Für Neonazis bedeutet Frieden etwa die Existenz einer 'arischen' Gesellschaft. Auch wenn im 'Querdenker'-Milieu 'direkte Demokratie' gefordert wird, geht es weniger um Demokratieförderung als um die Durchsetzung eigener autoritärer Vorstellungen."

Es ist die klassische Dogwhistle-Strategie. Scheinbar unverfängliche Formulierungen haben noch eine zweite Bedeutungsebene, deren Farbe braun ist, und die trotz aller möglichen Missverständnisse im adressierten Milieu sehr gut verstanden werden. Im Falle der "Spaziergänge" ist der Hintersinn vor allem, das Versammlungsrecht zu umgehen, also gewissermaßen drumherum zu spazieren. Gleichzeitig stellt die Formulierung Anschlussfähigkeit her. Ein Spaziergang für Grundrechte? Was soll man dagegen einwenden?

Vorstufe zum Verschwörungsglauben

Für Medien bringt das Ganze ein doppeltes Problem mit sich. Sie sind gleichzeitig Ziel der Angriffe und Vehikel für das Framing. Und als wäre das nicht genug: Mit einem Teil der möglichen Ursache für diese Eskalation haben Medien auch noch zu tun. Sascha Lobos These lautet:

"Die Extremsituation der Pandemie, schlechte (staatliche, institutionelle) Kommunikation und soziale Medien wie Telegram haben ein neues Massenphänomen hervorgebracht, eine Vorstufe zum umfassenden Verschwörungsglauben: die Denkpest."

Lobo meint damit ausdrücklich keine Krankheit, sondern eine "hassgetriebene Welthaltung", die sich epidemisch ausbreitet. Die Folge vergleicht er mit Körpergeruch. Man selbst riecht ihn nicht, aber andere.

In welcher Form sich die Denkpest ausbreitet, das hat tagesschau.de recherchiert, wie gestern hier bereits zu lesen war . Bettina Köster hat für das Deutschlandfunk-Medienmagazion @mediasres mit dem Journalisten Jan-Hendrik Wiebe vom öffentlich-rechtlichen Portal Funk gesprochen, der sich für seine Recherche in Telegram-Gruppen begeben hat, wo seit November täglich Menschen dazu aufrufen, Politikerinnen und Politiker zu töten. 250 Todesdrohungen hat Wiebe gefunden.

Und auch das ist mindestens ein doppeltes Problem. In der Berichterstattung erschien es in den vergangenen Tagen so, als handle es sich bei der Drohung gegen Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig eher um einen Einzelfall, hier zum Beispiel in der Spiegel-Meldung. Nach Einschätzung von Jan-Hendrik Wiebe hält man es möglicherweise auch bei der Polizei für einen solchen. Wiebe sagt in dem Interview noch einmal sehr deutlich, was er zuvor allgemein formuliert hatte (Altpapier gestern):

"Ich gehe nicht davon aus, dass die Polizei oder der Verfassungsschutz das bislang auf dem Radar haben."

Wiebe sagt auch, Mitte November hätten die Drohungen massiv zugenommen, also zum Beginn der Impfpflicht-Debatte. Seinem Eindruck nach sind die Menschen in den Gruppen nicht klassische Rechtsextreme, sondern vor allem "Leute aus dieser Verschwörungsszene und Querdenker-Leute".

Eintrittskarte Misstrauen

Die eigentliche Gefahr der Protestzüge geht nach Einschätzung von Sascha Lobo allerdings nicht vom "harten Kern aus, sondern von den schätzungsweise mehreren Millionen Sympathisierenden mit ihrer Anfälligkeit für Verschwörungserzählungen und ihrer coronabasierten Akzeptanz von Extremismus und Gewalt".

Das ist ein ganz interessanter Punkt, denn das bedeutet: Das Andock- und Bindemittel muss keine Verschwörungserzählung sein, die ja auch erst einmal transportiert werden will. Es ist viel einfacher: Die Eintrittskarte ist Misstrauen. Sie öffnet die Tür gleich sehr weit. Lobo schreibt:

"Das Generalmisstrauen, das mit der Denkpest einhergeht, ist dann auch das Einfallstor für viele weitere Radikalisierungsprozesse wie der Aufbau von Feindbildern, die Manifestation der Opferhaltung oder die prinzipielle Unterstellung der Bösartigkeit, wo eigentlich Fehler oder Unfähigkeit als Erklärung ausreichen."

So kann der Weg vom Zweifel an der Wirkung einer Impfung über ein paar Umwege unter Umständen zur Frage führen, ob die öffentlich-rechtlichen Sender denn tatsächlich so viele Millionen brauchen, wie sie bekommen. Unterwegs wirken Verstärker, nämlich "tatsächliche und vermutete und empfundene Fehler in den klassischen Medien".

Um den Unterschied deutlich zu machen: Er liegt in der Motivannahme. Man kann in der Berichterstattung auf Ungenauigkeiten, falsche Deutungen und andere Fehler stoßen und denken: Da hat irgendwer nicht gründlich gearbeitet.

Dieses Misstrauen muss nicht montags in einem "Spaziergang" enden. Es kann auch in differenzierter Form zur Folge haben, dass Menschen einer bestimmten Redaktion nicht mehr so sehr vertrauen, weil die Fehler sich dort häufen. Das grundlegende Misstrauen aber führt zum Verdacht: Die wollen uns manipulieren. Im Falle von Medien: Die wollen uns Propaganda unterjubeln.

Unterhaltung als Auftrag

In der Debatte um den Programmauftrag für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (Altpapier) geht es im Prinzip um ein ähnliches Problem. Die Frage ist, positiv formuliert: Wie lässt sich das immer noch große, aber bedrohte Vertrauen in die öffentlich-rechtlichen Sender sichern? Eine der Antworten, die darauf immer wieder gegeben werden, ist: Die Sender müssen etwas für alle liefern. Und die größtmögliche Schnittmenge bietet hier die Unterhaltung.

Sie öffnet Menschen die Tür, die mit dem Weltspiegel, dem WDR-Klassik-Programm oder dem Kulturmagazin Corso nicht ganz so viel anfangen können. Sie ermöglicht Übergänge, also vielleicht bleiben Menschen nach dem Münster-Tatort doch noch dabei, obwohl sie sich eigentlich nicht für Talkshows interessieren, und erfahren so ungeplant noch etwas über die Corona-Pläne der Bundesregierung. Oder vielleicht bekommen Menschen, deren Leben nicht von Medien bestimmt wird, einfach eine Verbindung zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, weil sie sich Woche für Woche auf zwei Stunden und zehn Minuten ZDF-Fernsehgarten freuen.

Gute Unterhaltung kann ein Konsens zwischen Bevölkerungsgruppen sein, die sonst nur wenige Interessen teilen. Sie schafft damit Gemeinsamkeiten. Und Unterhaltung transportiert mehr Gefühle als Informationen. Gute Gefühle wiederum haben einen schönen Nebeneffekt: Sie schaffen Vertrauen.  

So geht das Argument, das viele von Ihnen wahrscheinlich aus früheren Altpapier-Ausgaben kennen. Aber auch wir wollen eben für alle da sein, und vielleicht haben Sie sich ja gerade nach einer alten Riverboat-Aufzeichnung in der Mediathek zu uns herübergeklickt. Aber zurück zur Unterhaltung: Christian Meier stellt in einem Beitrag für die Welt (€) die Frage, warum die Reaktion so heftig ausfällt, wenn die Sender im Programmentwurf an ihre eigenen Ansprüche erinnert werden.

Bislang ist Unterhaltung ein vollwertiger Teil des Auftrags. Im neuen Diskussionsentwurf steht allerdings eine Einschränkung. Dort heißt es: "Unterhaltung, die einem öffentlich-rechtlichen Angebotsprofil entspricht, ist Teil des Auftrags." Das sei als "Herabstufung der Unterhaltung zu einer Art nachgeordneten Sparte des Gesamtprogramms" verstanden worden, habe zu Abwehrreaktionen geführt. Barbara Schöneberger habe sogar gesagt, die Unterhaltung sei systemrelevant.

Christian Meier kann an der Formulierung nichts Einschränkendes erkennen, jedenfalls dann nicht, wenn das öffentlich-rechtliche Profil der Rahmen ist.

"Denn tatsächlich steht in dem Entwurf nur, dass die Unterhaltung, die bei ARD und ZDF zu sehen ist, dem öffentlich-rechtlichen Profil entsprechen muss. Also Spurenelemente von Information, Bildung, Kultur oder Beratung enthalten sein müssen."

Anders gesagt: Öffentliche-rechtliche Formate müssen diese Voraussetzung ohnehin erfüllen.

Cutter im Kopf

Einwurf Patricia Schlesinger, RBB-Intendantin und ARD-Vorsitzende. Sie habe zu Protokoll gegeben, so Meier, dann könnten Dritte vor Gericht klagen, um die Unterhaltungsprogramme überprüfen zu lassen. Meier schreibt:

"Auch diese Aussage stimmt nachdenklich. Denn welcher Sender, der von Beiträgen finanziert wird und sich dem Auftrag verpflichtet fühlt, müsste sich einschränken?"

Tatsächlich sind Klagen lästig, andererseits bieten sie die Gelegenheit, die Legitimität zu bestätigen. Denn wenn das Profil den Rahmen vorgibt, sollten die Formate auch eine Überprüfung vor Gericht überstehen.

Der Nachteil wäre, das ist allerdings auch klar: Es könnte ständig zu Klagen kommen, und diese Befürchtung, also der Cutter im Kopf, hätte möglicherweise ein sehr braves, keine Risiken wagendes Unterhaltungsprogramm zur Folge. Kritiker werden sich jetzt dazu denken: ein öffentlich-rechtliches Programm eben.

Meier stellt noch eine ganz interessante Frage:

"Die Dokumentationen könne man auch in den Mediatheken anschauen, lautet das bekannte Argument – aber was hindert die Sender daran, es nicht genau umgekehrt zu machen?"

Die Antwort liefert er allerdings auch schon mit: Wenn die Marktanteile der Sender kleiner werden, wird das auf Dauer auch zulasten der Akzeptanz gehen. Sender, die zur Hauptsendezeit kaum jemand schaut und dafür so viel Geld erhalten. Die Angriffe wären erwartbar.

Allerdings: Es gibt keinen Mangel, eher ein Überangebot an Unterhaltung, und, auch das führt Meier an, viel Redundanz – Formate, um die sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht kümmern müsste, weil das schon die Privaten machen.

Meier schlägt "einen pragmatisch konzipierten Stufentest für Unterhaltungsformate" vor, wie er auch bei der Einführung von neuen Telemedienangeboten notwendig sei. Natürlich, sei das teuer und aufwändig, aber so ließe sich nachweisen, dass das Programm den eigenen Ansprüchen gerecht werde. Erinnern wir uns hier kurz an den Widerstand gegen einen Nebensatz, der eigentlich keine Einschränkung sein sollte. Und jetzt stellen wir uns gemeinsam die Reaktionen auf einen Stufentest vor.


Altpapierkorb (Sturm aufs Kapitol, Twitter adé, Friedrich vs. Zeit, Netzpolitik meldet Rekord)

+++ Vor einem Jahr und einem Tag haben Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump das Kapitol in Washington gestürmt (Altpapier). Markus Schuler stellt für das Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres die Frage, welche Mitschuld soziale Medien daran hatten, dass es so weit kam. Die Antwort ist keine große Überraschung: Die Fake-News-Expertin Lisa Kaplan sagt, sie funktionierten wie Brandbeschleuniger.

+++ Der Autor und Online-Entwickler Ulf Schleth hat sich bei Twitter abgemeldet, weil er findet, man sollte "sich und seine Daten nicht Firmern mit unseriösen Geschäftsmodellen anvertrauen". Soziale Netzwerke will er weiter nutzen, nur andere. In seinem Beitrag für die taz schreibt er: "Ich bleibe bei den echten Alternativen: Diaspora statt Facebook, Mastodon statt Twitter, PeerTube statt Youtube, Pixelfed statt Instagram und viele andere. Wer Tweets lesen möchte, ohne sich dabei einen Cookie einzufangen, kann dafür die Software Nitter verwenden."

+++ Holger Friedrich streitet sich mit der Zeit darüber, wie es seinem Verlag geht, dem Berliner Verlag. Kress pro berichtet, Friedrich habe den Medienanwalt Christian Schertz eingeschaltet, um eine Gegendarstellung zu erwirken. Die Zeit hält Friedrichs Forderung für unbegründet, so sagt es eine Sprecherin.

+++ Und zum Ende eine gute Nachricht: Die Nachrichtenseite Netzpolitik.org hat im vergangenen Jahr über eine Million Euro an Spenden eingesammelt, und zwar genau 1.013.529 Euro, meldet das Portal. Wir gratulieren.

Ihnen ein schönes Wochenende!

Neues Altpapier gibt es am Montag.

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