Teasergrafik Altpapier vom 18. Januar 2022: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 18. Januar 2022 Wo sind noch Marktlücken frei?

18. Januar 2022, 10:28 Uhr

"Meinungskrieger" Julian Reichelt tritt wieder auf, und ein Anwalt der Gegenseite dann auch. Gruner + Jahr macht noch mal auf sich aufmerksam. Ist der Medienstaatsvertrag klüger als seine Gesetzgeber beim Gesetzgeben waren? Und ist die Wikipedia ein "Rosstäuscher", der Dokumentarfilmer ausnimmt? Ein Altpapier von Christian Bartels.

Sonntags-Fernsehen I: "Tatort"-Quote, "Stern TV"-Ärger

Das ereignet sich selten in unserer schnelllebigen Echtzeit: dass noch am Dienstagmorgen (wenn man sich auch an gedruckten Tageszeitungen orientiert) der Sonntags-Fernsehabend nachverhandelt wird. Drei Gründe dafür bestehen, wenn man den klassischsten Grund, Einschaltquoten, mitrechnet. Die ARD war mit ihrem Parade-Lagerfeuer "Tatort" wieder erster (und unter Münster-Krimiflut-Aspekten mögen die Wochenend-Zahlen ebenfalls aufschlussreich sein: "Mit 7,87 Millionen Zuschauer für Leonard Lansink und 14,16 Millionen für Axel Prahl und Jan Josef Liefers holten sich ZDF und ARD die Tagessiege").

Später am Abend lief auf RTL eine überraschend ins Programm gehobene "Stern TV"-Sendung. Bertelsmanns Quotencontrollern dürfte sie allenfalls mäßig Freude bereitet haben. Intern löste sie doppelt Ärger aus. Zum Einen verärgerte die Show, für die "der Begriff 'Trash-TV' ... zu euphemistisch" gewesen wäre (AP gestern), die eigentlichen "Stern TV"-Produzenten und -Produzentinnen, wie gestern bereits erwähnt. Das führt dwdl.de inklusive des Hinweises, dass RTL "künftig mehr denn je auf 'Stern TV' setzen" will, weiter aus.

Allerdings herrscht, zum Anderen, Ärger bei der Zeitschrift Stern und bei Gruner+Jahr, also dem nun offiziell in RTL aufgegangenen Verlag, ob der Darstellung dieser, nun ja: Fusion. Dazu zitiert Boris Rosenkranz bei uebermedien.de aus "wütenden Protestnoten" etwa der ehemaligen Stern-Redakteurin und Nannen-Schul-Leiterin Ingrid Kolb gegen den Artikel "Mehr ist mehr". Das hat der gedruckte Stern wohl auch schon länger nicht mehr erlebt: dass eine Doppelseite aus ihm als "Ausriss" im Internet zirkuliert.

Übrigens: Nikolaus Blome, der das RTL-Politikressort leitet und die umstrittene "Stern TV"-Show co-moderierte, kolumniert weiterhin auch für spiegel.de (aktuell unter der nicht üblen Zeile "Wehrpflicht statt Impfpflicht?"). G+Js Spiegel-Anteil von 25,5 Prozent ging zwar nicht an RTL über, sondern wurde von Eigentümer Bertelsmann anderswo geparkt. Doch dass es nach der in Gütersloh vehement behaupteten Starke-Marken-Strategie Sinn ergeben würde, auch den immer noch viel beachteten Spiegel einzugemeinden, liegt nahe.

Sonntags-Fernsehen II: Reichelt bei Servus TV

Und während RTL "Stern TV" sendete, absolvierte auf einem österreichischen Privatsender eine berühmt-berüchtigte Medien-Persönlichkeit ihren ersten öffentlichen Auftritt seit ihrem Rauswurf: Julian Reichelt. Auf Red Bulls Servus-TV folgte im Anschluss an einen wunderlichen "Wochenkommentar" des Sender-Intendanten Ferdinand Wegscheider (den die Corona-Politik an die "letzten Wochen der untergehenden DDR" erinnert; hier anzusehen) die Talkshow "Links. Rechts. Mitte - Duell der Meinungsmacher" und erntete allerhand Aufmerksamkeit.

Ich selbst laborierte an einer Nachtkritik zur ganzen krawallig-kontroversen Talkshow. Außerdem wurde an diversen Ecken notiert, was Reichelt so sagte, einerseits zum Rauswurf und den Vorwürfen, die dazu führten (RND, Standard: "Ex-'Bild'-Chefredakteur Reichelt: 'Habe Frauenkarrieren ermöglicht'") und andererseits zu seinen Zukunfts-Plänen. Er arbeite an einer neuen "Plattform", über die er noch keinerlei konkrete Infos, für die er aber schon mal den Slogan "Die größte Marktlücke im Journalismus ist der Journalismus" mitgebracht hatte (u.v.a. dwdl.de, das auch die auf niedrigem Niveau verdoppelte Servus-Einschaltquote nennt).

Noch eine Kritik der ganzen Talkshow schrieb dann Joachim Huber (Tagesspiegel):

"Heftig, laut und polemisch war die Auseinandersetzung, zugleich zeigte sich - vielleicht als Vorbild für Talkshows im deutschen Fernsehen -, dass eine Gesprächsrunde zum überragenden Thema der Stunde auch mit Gegnern einer Impfpflicht nicht über die Ufer treten muss."

Und auf der SZ-Medienseite flankiert heute eine kleinere Sendungs-Besprechung ein größeres, aktuell geführtes  Interview (€), das Laura Hertreiter mit dem Anwalt einer "Ex-Freundin" Reichelts führte. "Die Auftritte sind ein Affront für alle betroffenen Frauen", sagt Christian-Oliver Moser etwa. Was die Vorwürfe angeht, bleibt er vorsichtig. Das sei "Nichts, was man strafrechtlich hätte verfolgen können, aber wir haben viel Grenzwertiges an Zwischenmenschlichem gesehen in Chatverläufen, vonseiten Reichelts", und:

"Hier ging es nicht um vereinzelte Liebesbeziehungen am Arbeitsplatz, sondern um mehrere Affären mit riesigem Hierarchiegefälle. Allein die Anzahl weist auf einen Machtmissbrauch hin".

Zugleich ventiliert Moser die Idee, in Fällen von sexuellen Übergriffen "die Beweisbelastung für die Frauen" zu lockern und "statt der Unschuldsvermutung 'in dubio pro reo' ... eine 'non liquet'-Situation'" einzuführen. Hm ... Über so was zu diskutieren, dürfte es mit der Rückkehr des "Meinungskriegers" Reichelt (Huber) noch viel Gelegenheit geben.

Übrigens, eines der Argumente, die Reichelt in der Talkshow vorbrachte, stimmt inzwischen wieder nicht mehr: Der Spiegel-Artikel "Vögeln, fördern, feuern", der einer gerichtlichen Verfügung wegen aus dem Netz genommen werden musste, steht inzwischen wieder online.

Sind Telegram und Googles und Apples App-Stores Intermediäre?

Eine der Baustellen, auf denen sich die neue Bundesregierung immerhin emsig bemüht, bleibt die Frage des Umgangs mit Telegram. Nachdem Bundesinnenministerin Faeser die Möglichkeit des "Abschaltens" in den Raum gestellt hatte (AP vom Freitag), wurde gemeldet, dass das Bundeskriminalamt den mutmaßlich in Dubai ansässigen, dort aber kaum erreichbaren Dienst "mit Löschbitten und Datenanfragen ... fluten" wolle, wie die Welt (allerdings, was das "Fluten" angeht," sinngemäß) schreibt. Wozu sozusagen passt, dass Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius – nicht Mitglied der Bundesregierung, aber der Kanzlerpartei – der SZ gegenüber Telegram als "Brandbeschleuniger" bezeichnete.

Das schreit nach weiteren Einordnungen. Da würde sich das BKA ja einer "Methode, die sonst Hacker anwenden", bedienen, meint Andrian Kreye auf der SZ-Meinungsseite und sieht bereits ein "trauriges" Menetekel für "den wehrlosen Rechtsstaat". "De facto will das Bundeskriminalamt die gegenwärtige Rechtslage konsequenter anwenden", formuliert "@mediasres" zurückhaltender und lässt sich noch mal vom Medienrechtler Tobias Keber sagen, dass eine Telegram-Sperre "verfassungsrechtlich ... kaum zu begründen" sei. Der Jurist rät, lieber "auf die App-Store-Anbieter Apple und Google einzuwirken, stärkeren Druck auf Telegram auszuüben." So was wirkte ja schon ein wenig, wie wir hier am Freitag schrieben. Freilich würde der arme Rechtsstaat erst recht seine Schwäche gegenüber der erdrückenden Dominanz der Datenkraken demonstrieren, wenn er sie um Hilfe bitten müsste. Ist das alles ein unauflösbares Dilemma, in das die unerfahrene Bundesregierung sich weiter verrennt?

Vielleicht nicht. Eine völlig andere Meinung kommt zumindest aus medienjuristischer Ecke. In der Legal Tribune Online (lto.de) argumentieren Jonas Kahl und Simon Liepert, dass die Landesmedienanstalten zum Eingreifen gegenüber Telegram längst berechtigt seien – durch den Medienstaatsvertrag. Laut MStV sei Telegram ein "Intermediär".

"Denn von dem Begriff werden jedenfalls soziale Netzwerke wie z. B. Facebook erfasst, dem insbesondere durch seine News-Feed-Funktion erheblicher Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung attestiert wird. ... Die Vergleichbarkeit von Telegram mit sozialen Netzwerken wird dadurch verschleiert, dass sich der Dienst öffentlich als interpersoneller Messaging-Dienst präsentiert. Aber die Möglichkeit zur Individualkommunikation direkt zwischen Nutzerinnen und Nutzern stellt nur einen Ausschnitt der Funktionen des Dienstes dar. Nutzer können sich in öffentlichen Gruppen mit bis zu 200.000 Mitgliedern auf der Welt vernetzen und frei wählbare Inhalte untereinander teilen. Zusätzlich können Kanäle erstellt werden oder Kanälen gezielt gefolgt werden, in denen über die Grenzen des Dienstes hinaus Inhalte mit der Öffentlichkeit geteilt werden. Inhaltlich handelt es sich hierbei teilweise auch um journalistisch-redaktionelle Angebote."

Sicher, die Chancen, dass Landesanstalten-Amtsschreiben aus München oder Norderstedt in Dubai eher angenommen werden als solche von Bundesbehörden, sind nicht groß. Doch, Kahl/ Liepert zufolge "unterfällt" nicht nur Telegram dem MStV, die genannten App-Stores tun es auch:

"Dass im 'Google Play Store' bzw. 'App Store' auch Apps mit journalistisch-redaktionellen Inhalten angeboten werden, steht außer Frage. Google und Apple haben auch schon erste Schritte eingeleitet, um die Vorgaben des MStV zu erfüllen. ... Zudem wurden inländische Zustellungsbevollmächtigte (§ 92 MStV) benannt, deren Sitze in Hamburg bzw. München zugleich die örtliche Zuständigkeit der dortigen Landesmedienanstalten begründen."

Falls diese Sicht ungefähr zutrifft, wäre der Medienstaatsvertrag als Gesetz deutlich klüger oder zumindest vorausschauender als seine Gesetzgeber es beim langwierigen, mühseligen Gesetzgeben gewesen waren.

AG Dok vs. Wikipedia/Wikimedia

Und noch eine wenig beachtete Perspektive verdient Beachtung. Auf der FAZ-Medienseite (€) kritisiert David Bernet als Co-Vorsitzender des Dokumentarfilmer-Verbands AG DOK so ausführlich wie scharf die Wikipedia bzw. deren Betreiberorganisation Wikimedia und "die seit einigen Jahren anhaltende intensive Lobby-Kampagne von Wikimedia Deutschland für sogenannte 'freie Lizenzen'". Da geht es darum, dass dokumentarische öffentlich-rechtliche Inhalte in die bekanntlich kostenlose einfließen sollen, wie es in einigen Fällen, etwa mit "Terra X"-Clips, bereits geschieht.

Vor allem ärgert sich Bernet, dass

"diese Rosstäuscherei nicht nur bei Senderverantwortlichen, sondern auch in medienpolitischen Kreisen verfängt. Sie alle haben es versäumt, die auf der Hand liegende Frage zu stellen: Warum benötigt Wikimedia überhaupt CC-lizenzierte öffentlich-rechtliche Inhalte? Wikimedia könnte auch ganz einfach eine Pauschallizenzierung mit den zuständigen Verwertungsgesellschaften wie der VG Bild-Kunst abschließen. Genauso wie das Schulen, Universitäten und Bibliotheken tun. Und genauso wie Wikimedia selbst Nutzungsverträge mit Google, Apple, Amazon oder Facebook für den erleichterten Zugang zu auf Wikipedia vorgehaltenen Inhalten abschließen will."

Denn während Nutzung der als gemeinnützig oft bespendeten Wikipedia wie gesagt nichts kostet, planten Wikimedia und die genannten Datenkraken (die ja immer am schnellsten erkennen, wo sich neue Marktlücken auftun) durchaus, mit attraktiven multimedialen Inhalten Geld zu verdienen. Die per Rundfunkbeitrag finanzierten, digitalpolitisch oft unbedarften Öffentlich-Rechtlichen spielten ihnen diese Inhalte gerne zu – "auf Kosten von uns Filmschaffenden, auf Kosten von Urhebern und Leistungsschutzberechtigten", lässt sich Bernets Position ungefähr zusammenfassen. Auch wenn sich in weiten Teilen der digitalen Öffentlichkeit der Daumen sogleich senkt, wenn von "Urhebern und Leistungsschutz" die Rede ist, weil Google und Co ja Youtubern und befreundeten Zeitungsverlagen Teile ihrer horrenden Einnahmen abgeben, verdient diese Position Aufmerksamkeit.


Altpapierkorb (Sachsen-Anhalt vs. ARD, ÖR-Auftrag, BBC in Gefahr, türkisches Willkürverfahren)

+++ Neue Runde im Duell Sachsen-Anhalt bzw. Sachsen-Anhalts CDU vs. unsere ARD? Das meldet etwa faz.net auf Basis eines Berichts der Sachsen-Anhalter Mitteldeutschen Zeitung ("Sachsen-Anhalts CDU will 'Das Erste' abschalten - Kanal soll 'langfristig' verschwinden"). +++

+++ Zumindest jenseits von Magdeburg freut sich die Medienpolitik über rege Beteiligung beim Online-Diskutieren des ÖR-Auftrags. "Über 2.600 Eingaben, vor allem von Bürgerinnen und Bürgern", gingen ein, und formulierten "teilweise sehr unterschiedliche Vorstellungen dazu, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk insgesamt leisten muss", teilt Rheinland-Pfalz' Staatskanzlei mit. +++

+++ Viele Artikel widmen sich dem Vorhaben der aktuellen britischen Regierung, die BBC zu verschlanken bis ertränken (Altpapier gestern): in FAZ (€) und taz, im Standard und bei Telepolis.

+++  Nach nicht ganz fünf Jahren, von denen sie mehr als ein halbes mit ihrem Baby Gefängnis saß, hat ein türkisches Gericht die deutsche Journalistin Mesale Tolu freigesprochen. Das kam nicht mehr überraschend, berichtet Susanne Güsten im Tagesspiegel aus Istanbul. "Die lange Zeit, die Istanbuler Richter brauchten, ... ist ein Skandal - ein durchaus beabsichtigter", kommentiert die SZ. "Dieses Willkürverfahren war ein weiterer Beweis für die Nicht-Rechtsstaatlichkeit in der Türkei", sagen die Reporter ohne Grenzen. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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