Teasergrafik Altpapier vom 25. Januar 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 25. Januar 2022 Schwer erträglich

25. Januar 2022, 11:13 Uhr

Echtzeit-Fakenews zum Hashtag #Heidelberg. Eine renommierte deutsche Presseagentur im Boot von Facebook. Cowboy-hafte Showdowns in Brüssel. Die ARD und der Plattformkapitalismus (und die Sexyness des Gattungsbegriffs "Mediathek"). Ein Altpapier von Christian Bartels.

Fakenews zu #Heidelberg

Wenn Städtenamen trenden, also in den "Trends" der meistgeposteten Begriffe und Themen etwa auf Twitter auftauchen, bedeutet das selten etwas Gutes. Am gestrigen Montag zeigten zum Hashtag Heidelberg die noch immer sogenannten sozialen Medien ihr hässliches Gesicht – als dort Gesichter zirkulierten: aus offenkundig sehr unterschiedlichen Richtungen offenkundig instrumentalisierte, unbewegte und bewegte ("das Abschiedsvideo des #Amokläufers"), dann auch mit angeblichen abgekürzten Klarnamen benannte Fotos und Videos unterschiedlicher Provenienz von angeblichen Tätern, darunter das der schwer zu fassenden Mediengestalt "Drachenlord". Manches war vielleicht satirisch gemeint und/oder wurde so aufgefasst. Zum Glück wurde Vieles schnell als falsch erkannt und benannt. Ungefähr alles stimmte nicht.

Zugleich berichteten die klassisch-redaktionellen Medien, denen vielen Umfragen zufolge weiterhin viel Vertrauen entgegengebracht wird, zurückhaltend, warteten offizielle Polizei-Auskünfte ab und bemühten sich auch später noch in zumindest manchmal übertriebenem Ausmaß, jeglichen Anschein irgendeiner Kausalität zu vermeiden ("Junge Frau stirbt nach Kopfschuss bei Amoklauf in Heidelberg"). So zu berichten, ist gut und richtig, einerseits. Andererseits gibt genau das Fakenews – bei denen zumindest in den ersten Minuten und Stunden niemand wird ausschließen können, dass eine davon dennoch teilweise zutrifft – Raum und Echtzeit, um sich weit zu verbreiten.

Was nur zeigt, wie vertrackt schwierig die Lage für Medien aller Art, klassische und sogenannte soziale, ist. ("Vertrackt" muss hier deutsch betont gelesen werden; um Tracking geht es erst in den folgenden Abschnitten).

Die dpa dienstleistet für Facebook

Facebook leistet sich schon lange externe Faktenchecker als Dienstleister. Die renommierte deutsche Presseagentur dpa etwa checkt im gesamten deutschsprachigen Raum und in weiteren Nachbarstaaten, "seit einigen Wochen laufen dpa-Faktenchecks außerdem in einen eigens bespielten WhatsApp-Kanal". Neu übernimmt die Agentur den "Großauftrag", das Angebot namens "Facebook News" zu "kuratieren". Da springt die dpa für Springer ein: Es handelt sich um den mutmaßlich lukrativen Auftrag, den die Springer-Tochter Upday sozusagen wegen Interessenkonflikten des Konzerns und des Springer-Chefs Mathias Döpfner (der in seiner Eigenschaft als Zeitungsverlegerverbands-Präsident Facebook auch fordernd gegenüber tritt) zurückgegeben hat. Das war eins der Themen im Altpapier-Jahresrückblick zu den Medienkonzernen. Nun beleuchtet Alexander Fanta, netzpolitik.orgs Brüssel-Korrespondent, für uebermedien.de das im April mit einem 15-köpfigen Team anlaufende Engagement:

"Undurchsichtig bleibt der Kriterienkatalog, nach dem die Nachrichtenauswahl verfolgt. Im Spiel seien Faktoren wie Ausgewogenheit, Vielfalt, Aktualität und Fairness sowie der Nutzwert für Leserinnen und Leser, heißt es von dpa. Dem Vernehmen nach erarbeitete Meta dafür ein rund 30-seitiges 'Redaktionsstatut', das der Konzern aber nicht offenlegen will. Was sich manche Nachrichtenmedien stolz auf die Fahnen schreiben, ist bei Meta ein Geschäftsgeheimnis."

Kritisch sieht Fanta, dass die dpa, die für deutsche Medien ja auch eine "Art Gatekeeper" ist, nun umso tiefer im Boot (oder Bett) des viel mächtigeren Gatekeepers Facebook sitzt (oder liegt). Zumal es offensichtlich weniger darum geht, durch besser kuratierte Artikel noch mehr Nutzer zu gewinnen, als darum, befreundeten deutschen Medienunternehmen nach eigenen, geheimen Regeln ungenannte, für die deutschen Unternehmen relativ große Summen zu überweisen – um so transparente Zahlungen nach öffentlich bekannten Gesetzen (wie dem zum Leistungsschutz) zu vermeiden.

Lobbys und Kraken duellieren sich in Brüssel

"Die EU geht dem Wild West Web an den Kragen", stand am Freitag hier im Vorspann. Die Wortwahl stammt vom EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton (wie die "FAZ" hier mit Clint-Eastwood-Foto berichtet). Um im etwas abgeschmackten, aber Cowboys im Geiste ansprechenden Bild zu bleiben: In Brüssel steht eine Reihe von Showdowns bevor.

Zur am Freitag hier skizzierten jüngsten EU-Beschlussfassung der Market Acts DSA und DMA schrieb Micha Hanfeld in der "FAZ", nun mit Marine-Metaphern: "Digitalgesetz der EU: Volltreffer, Pressefreiheit versenkt". Diese Kritik gilt vagen Formulierungen, die nicht unbedingt bedeuten müssen, aber bedeuten könnten, "dass die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Plattformkonzerne über der Pressefreiheit stehen". Womit Hanfeld die BDZV/VDZ-PM "Digital Services Act gefährdet Pressefreiheit im Internet" aufgriff. Der BDZV ist der von Döpfner angeführte Zeitungsverlegerverband.

Nun am Montag beschwerte sich dasselbe, um Werbewirtschafts-Vertretungen erweiterte Verbände-Bündnis bei der EU-Kommission über Pläne des Google-Konzerns, "Cookies von Drittanbietern, die seit Jahrzehnten Online-Werbung ermöglichen, abzuschaffen". Das berichtet etwa der Standard. Zwar kann Google da bei der vor allem dank der EU-Datenschutzverordnung und der durch die Consent-Kästchen verbreiteten Kritik an Cookies ansetzen. Es will aber

"Cookie-Tracking durch ein neues System ... ersetzen, bei dem Nutzer:innen aufgrund ihrer Daten einer eng zugeschnittenen Gruppe mit ähnlichen Vorlieben zugeordnet werden. Diese Gruppenzugehörigkeit wird im Browser gespeichert, über sie kann gezielt Werbung ausgespielt werden. Google nennt das 'Federated Learning of Cohorts', kurz FLoC. Googles Konkurrenz kritisiert, das System werde Googles Dominanz am Werbemarkt vermutlich ausweiten",

präzisiert Alexander Fanta nun bei netzpolitik.org. Dabei ist Google ja auf nahezu all seinen Geschäftsfeldern überdominant. "Marktmachtmissbrauch" lautet ein Begriff aus dem Standard-Artikel. Der Verdacht, stets in eigener Sache Lobbying zu betreiben, unter dem BDZV/VDZ keineswegs zu Unrecht oft stehen, trifft laut netzpolitik.org hier nicht zu: Auch US-amerikanische Generalstaatsanwälte interpretierten "Googles Cookie-Kill vor allem als Maßnahme ..., den Wettbewerb abzutöten."

Hanfelds "Pressefreiheit versenkt"-Text endet mit der Aufmunterung: "Die frühere Bundesregierung hat im EU-Ministerrat die Position vertreten, dass die Digitalkonzerne die freie Presse nicht ausschalten dürfen. Mal sehen, was die Ampelregierung von der Pressefreiheit hält." Heißt: An der immer noch neuen Bundesregierung sei es nun, auf die vagen, schon häufig hin und her veränderten und noch nicht endgültigen DSA-Formulierungen Einfluss zu nehmen, so wie es die Regierungen aller anderen EU-Mitgliedsstaaten ja auch tun.

Ob die Ampelkoalitions-Regierung sich in dieser Sache schon geordnet hat? Hoffentlich ist es ungerecht, hier auf den bitterbösen (aufs Thema Telegram bezogenen) heise.de-Kommentar "Mehr chinesische Demokratie wagen?" zu verweisen ...

Schönenborn über Plattformkapitalismus

Wie verhält unsere ARD sich zu den immer noch dominanteren Plattformkonzernen? Füllt sie Rundfunkbeitrags-finanzierte Inhalte in allen Kanäle, die die Datenkraken so bieten, und erhöht so deren Attraktivität? Nein, sie macht sich immerhin Gedanken:

"Es ist schwer erträglich, wie wir in der Distribution auf internationale Tech-Konzerne angewiesen sind, die mit ihrer Geschäftspolitik unser Land und die ganze Europäische Union an der Nase herumführen. Da hat sich eine wirtschaftliche und publizistische Macht entwickelt, die ich für bedenklich halte. Auf der anderen Seite erinnere ich mich noch, wie ich bei unseren ersten TikToks sofort Rückmeldung bekommen habe von meinen jungen Nichten, die sonst nie was zu unserem Angebot gesagt hatten. Gerade weil das weh tut, müssen wir unsere Mediathek mit Hochdruck weiter entwickeln, damit wir im Digitalen ein attraktives eigenes Angebot haben. Wir müssen zum Beispiel unsere User:innen um ihre Daten bitten, damit wir ihnen ein personalisiertes Angebot machen können. Diesem enormen Vorteil etwa von TikTok müssen wir etwas entgegen setzen. Und wir brauchen Diskurs auf unserer eigenen Plattform – also eine Kommentarfunktion in der Mediathek. Sonst werden weiter unsere Inhalte woanders gepostet, um sich dort darüber austauschen zu können."

Diese bemerkenswert reflektierte Antwort des WDR-Programmdirektors für Information, Fiktion und Unterhaltung ist die vielleicht interessanteste im langen dwdl.de-Interview, das Thomas Lückerath mit Jörg Schönenborn führte. Ansonsten zeigt sich Schönenborn zumindest leicht euphorisiert vom Erfolg der Digitalisierung und bei jungen Leuten:

"Bei jungen Erwachsenen gibt es ein anderes Nutzungsverhalten bei Nachrichten, auch ganz andere Interessen. Deswegen widmen wir uns dieser Herausforderung in unserem Newsroom mit Angeboten auf TikTok wie 'nicetoknow by WDR Aktuell' für die jüngste Zielgruppe, Jugendliche zwischen 14 und 16. Da haben wir inzwischen 125.000 Follower für ein gehaltvolles Angebot, das beispielsweise die Unruhen in Kasachstan erklärt ..."

Die Unruhen in Kasachstan nice to know? Hmpf, hoffentlich kriegen das die Veteranen der Auslandsberichterstattung, die sich immer noch längere Sendestrecken zu halbwegs guten Sendezeiten im linearen Fernsehen wünschen, nicht mit. Lückerath stellt gute Fragen, allerdings auch eine eher platte ("Ist 'ARD Mediathek' eigentlich eine Marke, die sexy genug ist?"), die eine weitere bedenkliche Antwort hervorruft:

"Mediathek klingt nicht sexy, nein. Ich habe schon vor ein paar Jahren angeregt, dass wir nach einem anderen Namen suchen. Ich glaube inzwischen, dass sich das von allein regeln wird. Viele sprechen schon jetzt nur noch von der 'ARD-App' und nutzen das Wort Mediathek gar nicht mehr. ARD-App könnte sich als Name durchsetzen, denn ARD ist die Marke, die über allem steht."

Nochmals: Hmpf. Bevor die ARD die Mediathek in einer "App" aufgehen lässt, sollte sie bitte noch mal beim Vorsitzenden der Gremienvorsitzendenkonferenz oder einer anderen über alle Zweifel erhabenen Autorität anfragen, ob das gewiss flott über die Lippen gehende, aber wenig bis nichts bedeutende Behelfswörtchen nicht längst von so vielen Seiten derart gnadenlos überstrapaziert worden ist, dass es selbst altehrwürdige Tanten ... pardon: Institutionen, die sich über die Aufmerksamkeit junger Nichten freuen, nicht mehr ziert.


Altpapierkorb (freie Plätze im MDR-Rundfunkrat, Ungeimpften-Inserate, Assange, "Panik im Springer-Konzern"?)

+++ Im neuen MDR-Rundfunkrat sind noch Plätze frei. "Allerdings ringen dbb Beamtenbund und Tarifunion auf der einen und Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) sowie die journalistisch geprägten Gewerkschaften verdi (Mitglied im DGB und größte Einzelgewerkschaft in der Region) und Deutscher Journalistenverband (DJV) auf der anderen Seite um diese sechs Plätze", berichtet flurfunk-dresden.de. Wobei die Frage für Thüringen schon geklärt ist ("Dort hat der DJV Thüringen mit Unterstützung der anderen im Auswahlverfahren des Landtags einen Platz als gesellschaftlich relevante Gruppe bekommen ..."). Gerichtlich geklärt werden muss die Präsenz der AfD im MDR-Rundfunkrat. Einstweilen ist die Partei "durch das im neuen Staatsvertrag verankerte neue Berufungsverfahren und geschicktes Agieren der übrigen Parteien in den drei Parlamenten" dort nicht mehr vertreten (flurfunk-dresden.de wiederum). Was freilich zur Frage führen könnte, wie sich das Fehlen der im Osten sehr großen Oppositionspartei zur Redensart, in den Rundfunkräten seien alle gesellschaftlich relevanten Gruppen vertreten, verhält.

+++ Die gestern hier empfohlene Geschichte über auffällig viele Annoncen, "in denen ungeimpftes Personal aus dem Gesundheitswesen einen neuen Job" sucht, dreht die "SZ"-Medienseite (€) weiter. Sie hat dann auch einzelne Inserenten telefonisch erreicht.

+++ Die durch "Schüsse ins Gesicht" ermordete mexikanischen Journalistin Lourdes Maldonado Lopez ist im Bericht der "Berliner Zeitung" auf einem Foto zu sehen, das sie auf der Beerdigung des wenige Tage zuvor ermordeten Kollegen Margarito Martínez zeigt.

+++ "Hoffnungsschimmer für Assange" ("taz")? Also die Nachricht, dass die Frage, ob Großbritannien ihn an die USA ausliefern darf, vor das höchste britische Gericht kommt? Wikileaks-Sprecher Kristinn Hrafnsson bezeichnete die Entscheidung "nur als einen 'Teilerfolg', denn es werde vermutlich 'noch Monate dauern', ehe der Oberste Gerichtshof dann entscheide, sollte er den Fall aufgreifen. ... Assange gehe es 'gesundheitlich nicht gut'", schreibt Constanze Kurz bei netzpolitik.org.

+++ "Muss jetzt die Panik im Springer-Konzern ausbrechen? Die verkaufte Auflage der 'Bild'-Zeitung ist im vierten Quartal 2021 erstmals seit 1953 (!) unter die Marke von einer Million Exemplaren gefallen", freut sich Joachim Huber im "Tagesspiegel". Und Bilds Fernsehsender "sendet an nicht wenigen Tagen unter der messbaren Wahrnehmungsgrenze ..." +++ Der dort erwähnte "Journalist"-Artikel (also der DJV-Zeitschrift) steht, recht bleiwüstenartig, auch frei online. Darin u.a. interessant: was Journalistik-Professor Volker Lilienthal, der "vor gut einem Jahr auf Einladung des damaligen Chefredakteurs Reichelt tiefe Einblicke in den Alltag von Bild nehmen" konnte, sagt. Etwa: "Ich würde von ideologischem Tendenz-Journalismus sprechen", aber auch: "Der Forscher hat Bild bei seinen Besuchen als hochprofessionelles Medium mit einer vorausschauenden Themenplanung erlebt. Überall sei er auf 'freundliche, auskunftsbereite und kluge Kolleginnen und Kollegen getroffen'. Die Redaktion habe zudem geringe Zutrittsbarrieren und beschäftige sowohl ganz Junge, die ein Praktikum oder eine freie Mitarbeit als Sprungbrett nutzen konnten, als auch hochausgebildete Akademiker. Mit dem Klischee erkennbar unseriöser Boulevard-Schreiberlinge habe die Bild-Redaktion nichts zu tun".

+++ Weitere Showdowns: Der Google-Konzern, der mit fast 160 Milliarden Euro Umsatz 2020 die Liste der größten Medienkonzerne mit Abstand anführt, geht die von der EU-Kommission wegen Marktmachtmissbrauchs verhängte 2,4-Milliarden-Strafe vor dem EuGH vor, berichtet heise.de. +++ Und seitdem der Facebook-Konzern sich den zuvor schönen Namen Meta gegeben hat, kämpft er mit allen asymmetrisch-unfairen Mitteln, die Datenkraken zur Verfügung stehen, darunter juristischen, "um die griechische Vorsilbe", wie der "Standard" u.a. am Beispiel des Wiener Ladengeschäfts "Metaware" berichtet.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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