Teasergrafik Altpapier vom 10. März 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier am 10. März 2022 Die neue Boiegroup

10. März 2022, 14:00 Uhr

Ein Foto in der New York Times hat eine Debatte ausgelöst. Es geht um die Frage: Wie viel Grausamkeit dürfen Medien zeigen? In seiner Hundert-Tage-Bilanz verrät Johannes Boie doch mehr, als er möchte. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Eine Grenzüberschreitung?

Die "New York Times" hat in dieser Woche auf der Titelseite ein Foto der Pulitzer-Preisträgerin Lynsey Addario gedruckt, das eine tote ukrainische Familie zeigt. Eine Mutter mit ihren beiden Kindern, daneben ein verwundeter Mann. Die Gesichter sind zu erkennen. Und nun geht es vor allem um zwei Fragen: Sollte man so ein Foto überhaupt veröffentlichen? Sollte man nicht wenigstens die Gesichter verpixeln?

In Deutschland schreibt der Pressekodex vor, dass eine unangemessen sensationelle Berichterstattung, in der Menschen nur Objekte sind, nicht zulässig ist. In diesem Fall lautet die Frage: Überwiegt das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Menschen?

Kurt Sagatz erinnert in einem Beitrag für den Tagesspiegel an andere Aufnahmen, die den Krieg in seiner Grausamkeit zeigten, und die heute als historische Dokumente der Zeitgeschichte gelten – das Foto des tödlich getroffenen Soldaten im spanischen Bürgerkrieg, das Bild des Polizeichefs von Saigon, der einen Zivilisten erschießt, oder das Foto des toten syrischen Jungen Alan Kurdi am Strand. Das Titelbild der "New York Times" gelte manchen schon jetzt ebenfalls als "ein solches ikonisches Dokument der Zeitgeschichte", schreibt Sagatz.

Würde der Presserat das auch so sehen? Der Rat habe die Situationen in der Vergangenheit oft unterschiedlich eingeschätzt, schreibt Sagatz. Eine Beschwerde gegen das Foto eines abgeschlagenen Kopfes im Krieg in Liberia sei abgewiesen worden, die gegen die Veröffentlichung eines Bildes von der Enthauptung des Amerikaners Nick Berg nicht. Und wie sieht es diesmal aus? Das ließe sich erst nach einer Entscheidung des Rates sagen. Eine Sprecherin hält das Foto laut Sagatz für "hoch relevant", es habe "eine sehr wichtige politische Dimension".

Die Wissenschaftlerin Katharina Lobinger sagt in einem Interview mit Oliver Mark für den österreichischen "Standard", sie halte das Foto nicht per se für eine Grenzüberschreitung, in dieser Art der Darstellung, also ohne Verpixelung der Gesichter, aber schon. Lobinger:

"Für Angehörige wird es damit fast unmöglich, diese Bilder zu vergessen oder ungesehen zu machen, und sie werden dauerhaft die Erinnerung an die Verstorbenen prägen. Um dies zu veranschaulichen, hilft ein einfaches Gedankenexperiment: Fragen wir uns doch: Wie würde es uns gehen, geliebte Personen so zu sehen?"

Nicht alle Informationen müssten visuell gezeigt werden, sagt Katharina Lobinger. Man könne sich auch gut vorstellen, wie eine erschossene Person aussieht, wenn man dies lese. Auch bei Bildern wie dem von Alan Kurdi müsse man retrospektiv die Frage stellen:

"Kann diese kurzfristige Aufmerksamkeit, die kurzfristige Reaktion auf den Schock die Interessen des Opfers aufwiegen? Ich denke nicht."

In anderen Fällen kann man auch zu einer anderen Einschätzung kommen. Das Foto von der Exekution in Vietnam markiere einen Wendepunkt im Vietnamkrieg, schrieben Christoph Sator und Jochen Leffers vor vier Jahren in einem Beitrag für den Spiegel.

Dramaturgie des Schreckens

"Bild"-Chefredakteur Johannes Boie hätte vermutlich keine Skrupel, das Foto so abzudrucken, wie die "New York Times" es gezeigt hat. In einem Interview mit Hannah Knuth und Martin Machowecz (€) für die aktuelle "Zeit" sagt er auf die Frage, ob er sich überwinden müsse, die Brutalität des Krieges zu zeigen: "Nein."

In dem Gespräch geht es allerdings um ein anderes Foto, das die "Bild"-Medien abgebildet hatten. Es zeigt eine Frau, die "Bild"-Reporter Paul Ronzheimer tags zuvor ein Interview gegeben hatte, nur wenig später zerfetzte eine Explosion Teile ihres Gesichts. Die Verletzung hat "Bild" verpixelt. Auf die Frage, ob er dabei nicht die Gefahr sehe, "Menschen in ihrem Elend vorzuführen", sagt er:

"Schlimmer wäre, wenn niemand von ihrem Elend erfahren würde. Man muss die Brutalität sichtbar machen. Ich fürchte, dass Krieg sonst für viele Menschen etwas Abstraktes bleibt."

Das Detail, dass die verletzte Frau der Zeitung vorher ein Interview gegeben hat, ist nicht unwichtig, um die Wirkung zu erklären. Man kennt den Effekt aus Krimis, wo das Opfer zunächst vorgestellt wird, denn wenn das Publikum eine Verbindung zu einem Menschen aufgebaut hat, ist die Empathie größer. Das passiert hier ungeplant. Im Falle der Ukraine getöteten Familie geschieht das nun im Nachhinein.

Über einem Beitrag von Josephin Hartwig für "T-Online" sind Fotos der Mutter und ihrer beiden Kinder abgebildet, die sie lebendig zeigen, im Text stehen Details aus ihrem Leben, der Beruf der Mutter, Erzählungen von Kollegen über einen Arbeitsausflug kurz vor ihrem Tod. Das alles bringt die Geschichte näher und damit den Krieg. Aber es bringt auch ein ambivalentes Gefühl mit sich, denn wird der Voyeurismus mit all diesen Details nicht ebenfalls bedient? 

In diesem Fall scheint das im Interesse des Vaters der Familie zu sein, der genau das erlebt, was Katharina Lobinger oben schildert. Er hat das Foto seiner getöteten Frau und seiner Kinder auf der Titelseite entdeckt und erzählt die Geschichte seiner Familie nun der Zeitung (€). Im Text sagt er: "Die ganze Welt soll erfahren, was hier passiert."

Im Artikel sind private Fotos zu sehen, Bilder von schlafenden Kindern mit scheinbar banalen Details, einem Staubsauger-Roboter, Handys an der Ladestation, die zu einem Effekt führen, der in den vergangenen Tagen schon kritisiert worden ist. Hat die westliche Welt mehr Mitgefühl, weil die Menschen ihnen ähnlicher sind, weil sie ein ähnliches Leben führen?

In den zynischen Kategorien von Medien werden Geschichten durch Nähe und Gemeinsamkeiten besser. Das ist einerseits etwas, vor dem man sich in diesem Zusammenhang ekeln kann. Aber kann man sich ihm entziehen?

Wenn die Aufgabe der Medien ist, das, was im Krieg passiert, öffentlich zu machen, kann es wirkungsvoll sein, Geschichten zu erzählen, die Empathie wecken und so möglicherweise Gleichgültigkeit in Interesse verwandeln. In welchem Maße das über Gefühle transportiert wird, hängt auch davon ab, um welche Art von Journalismus es sich handelt.

Hundert Tage Boie

In dem "Zeit"-Interview mit Johannes Boie geht es gleich in der ersten Antwort um Empathie, um "Zuwendung". Das überrascht auch Knuth und Machowecz ("Wir sind erstaunt, mit Ihnen so früh über Empathie zu sprechen").

Der Anlass des Gesprächs ist das Hunderttägige des neuen "Bild"-Chefs, der zu diesem Anlass auch mit seinem alten Arbeitgeber gesprochen hat, der Süddeutschen Zeitung. Beide Medien haben sich für unterschiedliche Ansätze entschieden. Die "Zeit" eben für ein Interview, die SZ für ein Porträt, dessen erzählerischer Rahmen ein Spaziergang im Berliner Zeitungsviertel ist.

Das Interview möchte Antworten, das Porträt will auch zeigen, was dieser Boie denn eigentlich für ein Mensch ist. Beide Formate haben Stärken, aber auch die Schwächen werden deutlich.

Grundlegend anders ist schon die Atmosphäre der beiden Treffen. Im "Zeit"-Gespräch sagt Johannes Boie nach der zweiten Nachfrage zur Zeit unter Julian Reichelt:

"Wenn Sie wollen, dass ich eine Vergangenheit bewerte, während derer ich nicht bei Bild war, können wir dieses Gespräch lassen."

Der dritte Absatz des SZ-Porträts von Marlene Knobloch beginnt dagegen so:

"Er bietet sofort das Du an, sagt 'Sorry' für die 40 Minuten Verspätung. Einer seiner Reporter hatte in der Ukraine Probleme."

Wie sich das auf die Ergebnisse auswirkt, wird zum Beispiel an den Stellen deutlich, an denen es um die Zeit unter Julian Reichelt geht. Inhaltlich unterscheidet sich das Ergebnis kaum. Der "Zeit" sagt Boie:

"Natürlich bin ich in einer schwierigen Zeit für die Marke angetreten. Über die Zeit, die vor mir war, spreche ich aus Prinzip nicht."

Der SZ sagt er:

"Und über die Zeit vor mir bei Bild spreche ich grundsätzlich nicht."

Doch das Setting beeinflusst die Wirkung der Inszenierung. Das Risiko eines Porträts ist für Boie größer, denn hier gibt er mehr Kontrolle aus der Hand, das kann auch schief gehen. Er muss anders erscheinen als in einem Interview, offener, sympathischer. Das ist ihm offenbar gelungen.

Das SZ-Porträt fällt wohlwollend aus ("Boie, das sagen ehemalige Kollegen, sei schwer in Ordnung"). Das kann auf die Porträtierende als zu unkritisch zurückfallen, aber man kann darin auch den Versuch sehen, sich dem Chefredakteur der bösen "Bild"-Zeitung unvoreingenommen zu nähern. Ich tendiere zur zweiten Variante.

In der "Zeit" profitieren an dieser Stelle Knuth und Machowecz, die den "Bild"-Chef kritisch in die Zange nehmen. Aber sie können nicht kommentieren, was hier passiert, wie es im Porträt möglich ist. Das ist der Nachteil. Aber Teile des Gesprächs sprechen für sich. Sie würden sich gut für ein Interview-Seminar eignen.

Fingerhakeln im Interview

Boie möchte möglichst nichts Konkretes über die Reichelt-Zeit und die Probleme sagen, die er vorfand, als er kam. Aber wie macht man das, wenn die Interviewenden doch danach fragen?

Eine Möglichkeit ist: In Antworten immer allgemein bleiben. Wir üben das einmal.

Frage: Haben Sie eigentlich schon mal gelogen?

Antwort: Jeder Mensch hat doch schon mal gelogen.

Und jetzt Johannes Boie.

"ZEIT: Auf welche Probleme sind Sie bei Ihrem Start gestoßen?

Boie: Man stellt in so einer großen Organisation natürlich gelegentlich fest. Okay, das sollte so nicht sein. Darunter auch Kulturdinge."

Zweiter Kniff. Das Positive hervorheben. Geprägt hat dieses Genre maßgeblich der frühere italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der auf die Frage, ob er treu sei, gesagt haben soll: "Ich würde sagen, ich war oft treu."

Auf die Frage, um welche "Kulturdinge" es gehe, sagt Boie:

"Der Umgang mit Kollegen bei Bild muss immer ein anständiger sein."

Und jetzt wieder Kniff 1:

"ZEIT: Das war nicht so?

Boie: Das ist in keiner Redaktion perfekt. (…)"

Später sagt Boie auf die Frage, warum Fortbildungen für Führungskräfte, wie Springer sie nach dem Reichelt-Rauswurf angekündigt hatte, denn eigentlich nötig seien?

"Es ist immer nötig, dass Führungskräfte sich fortbilden."

Auch Hannah Knuth und Martin Machowecz arbeiten mit Tricks. Zum Beispiel mit Fangfragen. Der Klassiker hier: "Gehen Sie eigentlich immer noch fremd?"

Wer mit Ja antwortet, hat sich verraten. Wer mit Nein antwortet, auch. Knuth und Machowecz fragen:

"In einer Bild-Doku auf Amazon kann einen machtbewussten, ziemlich miefigen Männerhaufen voller Korpsgeist sehen. Wie löst man so etwas auf?"

Boie fällt nicht darauf rein. Er antwortet:

"Das ist ausdrücklich Ihre Beschreibung."

Eine generelle Schwäche der schriftlichen Formate in Deutschland ist, dass nicht zu erkennen ist, was tatsächlich so gesagt wurde, und was später im Verlauf der Autorisierung in den Text geschrieben worden ist. Dafür können die Autorinnen und Autoren nichts.

Das Problem ist: Menschen, die nicht mit dieser Praxis vertraut sind, müssen davon ausgehen, dass das, was sie da lesen, so gesagt worden ist, wie sie es aus Interviews im Fernsehen oder im Radio kennen. Tatsächlich hat aber in vielen Fällen die Kommunikationsabteilung alles noch mal glattgeschliffen. Ein veröffentlichtes Interview ist oft das Ergebnis einer Verhandlung.

Journalismus ein Elitenprojekt?

Hier kann Boie zwar nicht so sehr mit seinem Charme punkten, aber dafür ist mehr Platz für PR:

"Stark und richtig, dass Bild das getan hat."

"Bild trägt journalistisch zum Erhalt der freien Welt bei."

"Bild TV und Bild Online haben in den vergangenen Tagen herausragende Zahlen geliefert, Marktanteile steigen deutlich."

Interessant sind eher die indirekt transportierten Botschaften, zum Beispiel, wenn Boie einen Schritt des bereits vollzogenen Kulturwandels beschreibt:

"Wir akzeptieren zum Beispiel, wenn Menschen nicht mit uns sprechen wollen."

Das ist natürlich ein netter Zug. Im SZ-Porträt steht:

"Boie fragt jetzt auch mal in der Konferenz, was die anderen von einer Idee halten. Ob es andere Ansichten gebe."

Dafür, dass er eigentlich nichts über die Zeit vor ihm sagen möchte, verrät er hier doch eine ganze Menge. In diesem Porträt steht auch die nach meinem Eindruck interessanteste Aussage beider Hundert-Tage-Bilanzen. Boie sagt:

"Ohne Boulevard wird Journalismus zum Elitenprojekt, und dann wird als Nächstes Demokratie zum Elitenprojekt. Solche Gedanken habe ich immer verachtet."

Es ist natürlich eine Anmaßung, wenn der Boulevard es praktisch für sich alleine in Anspruch nimmt, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Und mit diesem argumentativen Kniff werden auch gern die Ausfälle des Boulevards schöngeredet.

Doch stimmt es schon, was er sagt. In Teilen ist Journalismus schon heute ein Elitenprojekt. Das Problem fängt allerdings ganz woanders an. Oliver David hat das in einem Text für Übermedien im vergangenen Jahr sehr eindrucksvoll beschrieben.


Altpapierkorb (Bellut, ARD-Doku über Empörung, Russland und das Internet, Katapult, Deutsche Welle)

+++ ZDF-Intendant Thomas Bellut hat heute seinen letzten Arbeitstag, dann folgt Norbert Himmler. Und was macht Bellut jetzt. "Eher wenig", hat er dem ZDF gesagt. Er sei für einen klaren Schnitt.

+++ Demokratie bedeutet: Man muss mit sehr vielen Meinungen leben. Aber gelingt das noch? Hans-Jakob Rausch hat für die ARD eine außergewöhnliche Dokumentation über die gegenwärtigen Auseinandersetzungen gedreht. Ihr Titel: "Empörung um jeden Preis – können wir noch fair streiten?" Besonders lehrreich ist der Film, weil der Medienwissehschaftler Bernhard Pörksen und der Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun das Gesehene zwischendurch immer wieder kommentieren. Pörksen sagt zum Beispiel: "Das Problem ist aus meiner Sicht die Gewissheit, dass sich der Streit nicht mehr lohnt. Und in dem Moment, in dem diese Gewissheit da ist, kann das Feindbild um so extremer wuchern. Der Kommunikationsabbruch ist in dieser Hinsicht wirklich fatal, weil dann die Eskalation unkorrigiert weiterlaufen kann."

+++ Sebastian Wellendorf hat für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" mit "Stern"-Technik-Redakteur Christian Hensen über Russlands Plan gesprochen, sein Internet abzuschotten.

+++ Michael Meyer hat sich für "@mediasres" mit der Ukraine-Berichterstatung des Magazins "Katapult" beschäftigt (Altpapier). "Katapult"-Chef Benjamin Fredrich sagt, wenn das Geld es zulasse, werde das Ukraine-Projekt dauerhaft bleiben.

+++ Die Deutsche Welle berichtet aus Riga über Russland. Den genauen Plan erklärt der Sender hier.

Neues Altpapier gibt es am Freitag.

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