Teasergrafik Altpapier vom 17. März 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 17. März 2022 "Dinge passieren nun mal gleichzeitig"

17. März 2022, 10:13 Uhr

Marina Weisband bittet, den Krieg in der Ukraine nicht aus den Augen zu verlieren, wenn irgendwann ein neuer Nachrichtenzyklus beginnt. Carolin Emcke weist auf eine "Schwachstelle des tagesaktuellen Journalismus" hin. Und Kurt Kister wertschätzt die Arbeit von Kriegsreportern. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Marina Weisbands Sorge, dass die Aufmerksamkeit abebbe

Der Krieg in der Ukraine ist und bleibt das dominierende Thema auf den Nachrichtenseiten, auf Zeitungstiteln und in Magazinen. Was auch sonst? "Der Freitag" titelt mit "Gedanken zu einem neuen Umgang mit Russland". "Die Zeit" fragt, wie es für die aus der Ukraine geflohenen Menschen weitergehe. Und im "Stern" drücken frei nach dem Motto "Promis statt Korris" unter anderem Richard David Precht und Alice Schwarzer ihre Senftuben zur Frage aus, was der Krieg anrichte.

Die Frage ist aber, wie lange der Krieg in der Ukraine Titelthema bleibt. Wann die Aufmerksamkeit abebbt. Wann die Gewöhnung einsetzt. Marina Weisband formuliert in ihrer Kolumne bei "@mediasres" vom Deutschlandfunk die Sorge, wann auch immer der Punkt erreicht sein mag, er könnte zu früh kommen:

"Die Toten des gestrigen Nachrichtenzyklus sterben ungesehen. Was heute noch ein ganzes Land den Atem anhalten ließ, wird in zwei Wochen möglicherweise nur eine kurze Meldung unter vielen anderen sein. Und genau das ist meine Befürchtung, was mit der Ukraine passieren wird. Geht der Krieg lang genug, wird er zunehmend von anderen Themen verdrängt werden. Und dann beginnen selbstverstärkende Prozesse: In Talkshows spricht man, worüber das Land nunmal spricht. Und das Land spricht darüber, worüber in Talkshows gesprochen wird. Zu jeder Zeit kann gefühlt nur ein Thema im Vordergrund stehen. Corona ist jetzt vorbei, jetzt ist Ukraine, morgen sind es Energie- und Lebensmittelpreise."

Ist das eine gerechtfertigte Sorge? Nun, ich weiß es doch auch nicht – die medialen Prozesse machen mitunter, was sie wollen. Die Erfahrung lehrt, dass Weisband nicht richtig liegen muss, aber richtig liegen könnte mit ihrer Sorge. Folgerichtig ist jedenfalls ihr Wunsch:

"Dabei ist es gefährlich, ein wichtiges Thema aus den Augen zu verlieren. Sei es Corona, Klimakrise oder der Krieg. Dinge passieren nun mal gleichzeitig. In Zeiten von Social Media müssen wir eine neue Balance finden zwischen einem initialen überwältigenden Zuviel an Nachrichten – die auch gar nicht alle geprüft und eingeordnet werden können – und einem algorithmengetriebenen Umschalten zu einem komplett neuen Thema. Lieber zwei Mal am Tag eingeordnete, journalistisch aufgearbeitete Meldungen lesen. Zwischendurch Talkshows auch zu anderen Themen machen. Dafür mehr große Formate der langfristigen Begleitung wichtiger Themen widmen."

Carolin Emckes Irritation über einen Begriff

Die langfristige Begleitung wichtiger Themen: Das ist auch ein Aspekt in einem Interview, das die "Krautreporter" dieser Tage mit der Autorin und ehemaligen Kriegsreporterin Carolin Emcke geführt haben. Sie sagt etwa, dass sie der derzeit vielgenutzte Begriff von der "Zeitenwende" irritiere, weil er von einem plötzlichen Bruch künde, wo es doch um eine längerfristige Entwicklung gehe:

"Es gibt etwas, das mich irritiert an diesem Wort der Zeitenwende. Was mich zögern lässt, ist, dass es in Reaktion auf den Angriffskrieg auf die Ukraine so ein komplettes Erstaunen gab. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Auch ich war erstaunt. Aber bei manchen Reaktionen fragt man sich: Wie haben die Leute, die jetzt von einer Zeitenwende reden, die letzten Jahre verbracht?"

Es ist etwa die gleiche Frage, die auch Marina Weisband aufwirft, wenn sie sagt:

"Ich berichte nicht erst seit drei Wochen über die Ukraine. Ich habe 2013 damit angefangen. Über die Maidan-Revolution und die russische Aggression, die ihr nachfolgte. Darum erinnere ich mich noch sehr gut an das Jahr 2014. Schon damals war die Ukraine in aller Munde. Die Revolution, Annektion der Krim… alle waren entsetzt. Dann der Krieg. Kampf um Mariupol. Und irgendwann passierte das, was immer passiert: der Nachrichtenzyklus zog weiter. Die Ereignisse zogen sich zu lang, es wurde etwas ruhiger, hierzulande wurden andere Dinge relevant. Der Krieg brodelte acht Jahre lang unbeobachtet. Kaum jemand achtete auf Putins Propaganda in dieser Zeit, auf die Entmenschlichung der Ukrainer, auf die omnipräsente Kriegsrhetorik in Russland."

Nun sind wir mit dieser Kolumne nicht unbedingt dafür zuständig, die Russlandpolitik der SPD, der Linken oder der CSU zu kommentieren. Aber dass es ein Beobachtungsdefizit gegeben habe – diese Kritik betrifft mediale Prozesse.

Emcke formuliert Kritik, die daran anschließt:

"(I)ch glaube, dass das leider oft eine der Schwachstellen des tagesaktuellen Journalismus ist: Dass der enge, kurzfristige Fokus auf einem dramatischen Ereignis liegt – aber dadurch die Strukturen, die Ideologien, die institutionellen Bedingungen, die politischen und sozialen Bedingungen von solchen Grausamkeiten, von Rassismus und Antisemitismus, zu wenig in den Blick genommen werden."

Ein Interview mit Marina Owsjannikowa

Aufmerksamkeitsspitzen, die Verstehensprozesse behindern oder an den Rand drängen können – darüber schrieb Annika Schneider gestern an dieser Stelle, als es um die breite und prominente Berichterstattung über die russische Journalistin Marina Owsjannikowa ging, die in Russlands wichtigster Nachrichtensendung mit einem Plakat gegen den Krieg protestiert hat.

"Der Spiegel" hat Owsjannikowa nun ans Telefon bekommen, was in journalistischer Logik ein kleiner Scoop ist. Der Journalist Holger Stark, der bei der Konkurrenz aus dem "Zeit"-Verlag die Chefredaktion von innen kennt, twitterte, es handele sich um eines der Interviews, um die er den "Spiegel" beneide. Es handelt sich um ein recht gutes Interview, das der breit und anderswo banalisierend erzählten Heldinnengeschichte etwas hinzufügt – nämlich etwa Owsjannikowas Antworten auf Fragen nach ihren Motiven. Sie weist etwa darauf hin, dass der russische Krieg gegen die Ukraine keineswegs plötzlich gekommen sei:

"Die Schrauben wurden hier schrittweise immer weiter angezogen: Erst konnten wir die Gouverneure (…) nicht mehr so frei wählen wie vorher. Dann kamen all die Ereignisse in der Ukraine 2014, die Instabilität, das Ausrufen der 'Volksrepubliken Donezk und Luhansk', die Vergiftung von Alexej Nawalny. Parallel schalteten die Behörden nach und nach die unabhängigen Medien aus oder blockierten sie. Der Beginn des Krieges gegen die Ukraine war der Punkt, an dem es für mich kein Zurück mehr gab."

Dennoch gilt auch für diesen Beitrag natürlich, was hier gestern über Owsjannikowa geschrieben wurde: "Die große Reichweite erzielte sie auch deshalb, weil ihre Aktion sich geradezu idealtypisch in die Funktionslogik der Nachrichtenmedien einfügt: Sie bietet eine konkrete Protagonistin, lässt sich in einem Foto erzählen und folgt dem uralten Erzählmuster 'David gegen Goliath'."

Kurt Kister wertschätzt Kriegsreporter

Ich möchte den Blick noch auf andere Journalistinnen und Journalisten lenken: auf die mindestens fünf Reporterinnen und Reporter, die im Krieg in der Ukraine getötet worden sind. Über sie schreibt Kurt Kister in der "Süddeutschen Zeitung", vor allem aber darüber, was Kriegsberichterstatter generell leisten, und er wertschätzt ihre Arbeit:

"Kriegsberichterstattung ist kein Abenteuer. Diejenigen, die es so empfinden, und solche gab und gibt es auch, gehören eher zum Tross des Krieges als zu den Medien. Sie verklären viel, allemal sich selbst, und erklären zu wenig. Allerdings sind die meisten der nicht so vielen, die 'vorne' sind, keineswegs solche Typen. Im Gegenteil, sie nehmen ein großes Risiko auf sich, weil sie das im besten Sinne des Wortes als Teil ihres Berufs verstehen. Redaktionen, auch Chefredaktionen und Verleger, sowie Leser- und Zuschauerschaft sollten diesen unabhängigen Quellen sehr dankbar sein. Sie sind ein wichtiger Teil dessen, was Journalismus ausmacht."

Zudem nimmt der früher "SZ"-Chefredakteur Kister eine wichtige Differenzierung vor, die in der Debatte darüber, in welchem Verhältnis Kriegsberichterstatter und ihre Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen in Deutschland stehen:

"Wer Leben und Gesundheit aufs Spiel setzt, macht nicht unbedingt und in jedem Fall 'besseren', gar höherwertigen Journalismus, als die, die zu Hause bleiben. Ohne die Korrespondentinnen und Reporter 'draußen' oder gar 'vorne' (ein 'hinten' gibt es in der Ukraine kaum), funktioniert die Berichterstattung aber nur mangelhaft. Eine noch so kenntnisreiche, verständige und verständliche sowie einfühlsame Betrachtung aus der relativen Ferne kann die Eindrücke aus der Nähe zwar ergänzen, aber keinesfalls ersetzen. Nicht jede Augenzeugenschaft vermittelt Wahrheit. Ohne Augenzeugenschaft aber gibt es nur noch die Herrschaft jenes so oft gehörten Satzes: 'Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage ist aus unabhängigen Quellen nicht zu bestätigen.'"

Man kann den Text, wenn man möchte, auch als Beitrag zur laufenden Diskussion verstehen, welchen Wert Kriegsreporterinnen und -reporter für die Öffentlich-Rechtlichen haben (zuletzt im Altpapier vom Dienstag). Ich weiß natürlich nicht, ob Kurt Kister empfehlen würde, möglichst viele Mitarbeitende nach Kiew, Mariupol oder auch Odessa zu schicken. Er würde denen, die von sich aus hinfahren, aber wohl danken.


Altpapierkorb (Evangelische Journalistenschule, BBC, Kriegspropaganda, RTL-Passions, Presserat)

+++ Dass die Evangelische Journalistenschule in Berlin nun "nach zwei Jahren intensiver Gespräche und vielen Protesten" endgültig geschlossen wird, kommt an dieser Stelle nun kurz. Zu kurz. Der Tagesspiegel berichtet.

+++ Dass in Russland die Hauptseite der BBC und anderer unbhängiger Medien gesperrt werden, kommt nicht völlig überraschend – aber natürlich wäre das in anderen Zeiten auch mehr als ein paar Zeilen wert. Tagesspiegel und "SZ" melden via Agenturen.

+++ Auf der "FAZ"-Medienseite beantwortet Tobias Keber, Professor für Medienrecht und Medienpolitik, Fragen zu Kriegspropaganda.

+++ Imre Grimm befasst sich für rnd.de mit der Schwierigkeit, Fakes zu erkennen.

+++ Nachdem die Sause vor zwei Jahren coronabedingt ausgefallen war, will RTL vor diesem Ostern seine Version der Passionsgeschichte zeigen (Altpapier vom Februar 2020). Die Katholische Nachrichten-Agentur nimmt’s nüchtern zur Kenntnis: Sie resümiert, was vor zwei Jahren der auch nun involvierte Thomas Gottschalk schon vor sich hingeschnarcht hat ("Ich bin in einer Zeit groß geworden, als die Geschichte noch jeder kannte") und formuliert den diplomatischen Satz: "(U)nklar ist, wie eine Fernsehinszenierung der wichtigsten Geschichte der Christenheit in Deutschland ankommt. Doch haben die Schöpfer des Events mögliche Dissonanzen von Anfang an einkalkuliert".

+++ Adam Soboczynski verwahrt sich in der "Zeit" dagegen, einen Kriegseintritt der Nato poetisch zu verklausulieren, etwa als "Schließung des Himmels", einer "fast schon kindlichen Metapher" für Flugverbotszone: "Wer das verlangt, sollte sich nicht hinter der Poesie des Himmels verschanzen, sondern die Forderung nach einem irre riskanten Kriegseintritt der Westmächte unmissverständlich erheben."

+++ Um innovative (Kriegs-)Berichterstattungansätze in verschiedenen Ländern geht es auf den Seiten des European Journalism Observatory.

+++ Der Jahresbericht des Presserats ist da (spiegel.de).

Neues Altpapier erscheint am Freitag.

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