Altpapier vom 21. März 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 21. März 2022 "Spezial"-isierung ist keine Spezialisierung

21. März 2022, 10:47 Uhr

Im linearen Fernsehen herrscht reger Sondersendungs-Wettbewerb. Ein Medienwächter plaudert angenehm scharfzüngig aus seinem Nähkästchen. Und das "Spiegel"-Medienressort führt große Interviews mit prominenten Fernseh-"Künstlern". Ein Altpapier von Christian Bartels.

Privatsender- und weitere Sondersendungen zum Krieg

All die öffentlich-rechtlichen Sondersendungen, besonders unserer ARD, werden viel beachtet (zuletzt AP vom Freitag). Überall sonst im Fernsehen wird aber auch viel sondergesendet. Guten Überblick gibt Peer Schader bei dwdl.de:

"Ganz ehrlich: meinen täglichen 20.15-Uhr-Peter-Kloeppel wieder herzugeben wird mir irgendwann ein bisschen schwer fallen. Auch wenn es weltpolitisch vermutlich ein gutes Zeichen wäre ..."

Womit er das "viertelstündige News-Update, zu dessen Beginn begrüßenswerterweise immer kurz die wichtigsten Entwicklungen des Tages erläutert werden", lobt, und erst recht die "ausgeruht moderierte halbstündige Nachrichtensendung zur besten Sendezeit", zu der die RTL-Sondersendungen sich auswachsen, wenn die deutschlandweit genormte Hauptabend-Sendezeit und die europaweit anders genormten Fußball-Anstoßzeiten es erfordern.

Außerdem streift er die "Spezial"-Sendungen der ProSiebenSat.1-Sender, in denen "Claudia von Brauchitsch und Linda Zervakis hinter zwei Moderationsröhren in einem in kurios leeren Studio ... merkwürdig steif 'Tagesschau' spielen", und die ebenfalls "Spezial" genannten Sendungen des RBB in seinem Dritten Fernsehprogramm (in denen "ein Feuerwerk der Ablenkungen" sich immerhin von der sonst beim RBB gepflegten "Grundpiefig"-keit abhebe). Schader schreibt von der "Extraisierung der TV-Nachrichten". "Spezial"-isierung in ziemlich ähnlichen Formen überall ist keine Spezialisierung, könnte man diesen Ansatz fortführen.

Wobei es einen speziellen öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanal inzwischen ja gibt. Wie sieht's bei Tagesschau24 zur üblichen abendlichen Sondersendungen-Sendezeit aus? Wenn das laufende Nachrichtenprogramm unter seinem in der Tat kuriosen Sendungsnamen "Tagesschau-Nachrichten" weiter läuft, nicht so schlecht, meint dwdl.de. Am vorigen Dienstag etwa gab es erst mehrere mehrminütige Korrespondentenberichte.

"Als 'Schwerpunkt' lief dazu die Reportage einer Journalistin vom französischen (?) Fernsehen, die in Mykolajiw eine Nacht mit den Anwohnerinnen und Anwohnern im Luftschutzbunker verbracht hatte. An diesem Abend war zumindest zu ahnen, wie sich mit Tagesschau24 das Wissen und die Erfahrungen aus dem Korrespondentinnen- und Korrespondenten-Netzwerk der ARD abschöpfen ließe – wenn sich in Hamburg denn jemand den Ruck geben würde und daraus eine abendliche Stunde der vertiefenden Berichterstattung vor Ort zu kompilieren."

Angesichts der multipel krisenhaften Weltlage ist es sicher nicht die vordringlichste, aber doch eine für die Medien wichtige ungeklärte Frage, wie sie und das Leitmedium Fernsehen darauf richtig reagieren – einerseits genug, um das große Informationsbedürfnis möglichst sinnvoll zu stillen (und ihr Publikum nicht in die sog. soz. Medien zu treiben), andererseits nicht zu wenig (schon um keine Verharmlosung zu betreiben), dritterseits auch nicht zu viel (etwa wenn nicht genug unabhängiges, zeigbares oder aussagekräftiges Bildmaterial und nicht ausreichend relevante Experten-Expertise für die zahl- und oft uferlosen Talksendungen zur Verfügung stehen).

Scharfzüngiger Medienwächter zu Netzsperren-Fragen

Das Thema Netzsperren wabert immer im mittleren Hintergrund mit und besitzt einen aktuellen Kriegs-Anknüpfungspunkt. Zumindest wurde das Verbot der staatlich russischen RT-Medien auf EU-Ebene (guter Überblick zu den formalen Gründen hier nebenan übrigens) ja wegen des russischen Angriffskriegs verhängt, und für die Infrastruktur Internet soll es auch durchgesetzt werden.

Zu Netzsperren-Detailfrage "Bringt es überhaupt etwas, Pornoportale wie xHamster zu sperren?" (vgl. dieses Altpapier) bietet der uebermedien.de-Podcast mal wieder ein hörenswertes Telefonat. Hörenswert ist es, weil Gesprächspartner Tobias Schmid zwar einer der Bundesländer-Medienwächter ist (bei der Düsseldorfer LfM, also einer der wichtigeren Landesmedienanstalten), aber nicht wie ein solcher klingt, sondern durchgehend anklingen lässt, dass sein Berufsweg auf mehreren Posten bei RTL begann und er einen unterhaltsam schärferen Tonfall beherrscht.

"Am Ende gewinnt immer der Regulierer", habe er in früheren Positionen gelernt, sagt er etwa. (Wobei: Ob Bundesländer-Regulierungsbehörden sich so wie gegen deutsche Privatsender auch gegen internationale Akteure durchsetzen können, die nicht nur das diffuse EU-Recht und das Recht von Sitzländern wie Zypern, sondern auch die Mechanismen des internationalen Internets auf ihrer Seite haben, das muss sich noch herausstellen).

Schmid zeigt durchaus Distanz zum "Gesetzgeber", an dessen in jahrelangem Beratschlagen entstandenen, bei Inkrafttreten oft schon veralteten Regeln sich die Medienanstalten halt orientieren müssen. Zur naheliegenden Frage, ob zähe Behörden-Bemühungen im dynamischen Internet überhaupt sinnvoll sind, kommt er mit einem flotten Fahrraddiebstahl-Vergleich: Nur weil die Polizei so gut wie niemals gestohlene Räder wiederbeschafft, wäre es ja keine Lösung, den Anspruch gleich aufzugeben. Dass Fragensteller Holger Klein am Ende sehr auf "Neun Live-Gewinnspiele" abhebt (so als wüsste er gar nicht, dass dieser Sender seit einem guten Jahrzehnt gar nicht mehr besteht), reagiert Schmid auch gelassen. Medienwächter müssen eben Max Webers dicke Bretter durchbohren, lässt sich seine Haltung zusammenfassen – zumindest solange der Gesetzgeber keine sinnvolleren Strukturen geschaffen hat (woran weder die gesetzgebenden Bundesländer noch die in ihnen ansässigen Anstalten echtes Interesse haben, weil sie dann weiter an Einfluss verlören).

Schließlich erwähnt Tobias Schmid auch das LfM-Angebot fragzebra.de, eine der pfiffigeren Erscheinungen im gründlich beackerten Feld der Medienkompetenz. "Stell uns deine Fragen zu digitalen Themen und Medien", heißt es dort. Was die (hier schon mal erwähnte) Hackerin Lilith Wittmann sich nicht zweimal sagen ließ:

"Ich habe bei #fragzebra, einem Service für die Medienfragen von Kindern bei der @LFMNRW (ja die, die xHamster gesperrt haben) nachgefragt, wie man DNS-Einstellungen ändert, um Netzsperren zu umgehen. Und sie haben geantwortet."

Und zwar kompetent geantwortet, wie der Thread auf Twitter dann zeigt. Was wiederum Schmids Argumentation, der zufolge es sowieso weniger gilt, 17-jährige als 10-jährige Minderjährige vor den Pornoportalen zu beschützen, nicht unbedingt entkräftet.

Das wichtigste Argument gegen Netzsperren lautet natürlich: Sie eignen sich als Zensur-Infrastruktur, die, wenn sie erst mal zur Anwendung gebracht wurde, und sei es aus guten Gründen, dann von künftigen, ganz anderen Entscheidungsträgern (oder von jetzt bereits anderswo in der EU entscheidungsbefugten Stellen) auch genutzt werden kann. Das klingt im uebermedien.de-Podcast immerhin an.

Im Fall des Messenger/Netzwerk-Hybriden Telegram, dem ja hierzulande von der Bundesinnenministerin eine Sperre angedroht wurde, wurde nun tatsächlich Abschaltung angeordnet – aber nicht in Deutschland, sondern in Brasilien. Das melden knapp heise.de/dpa und etwas ausführlicher futurezone.at. Die Lage dort ist kompliziert: Präsident Bolsonaro, der als "Populist" (heise.de) bzw. gar "rechtsextrem" (futurezone.at) bezeichnet werden kann, ist gegen diese Sperre. Brasiliens Oberster Gerichtshof verhängte sie dennoch, was also dafür spricht, dass die Gewaltenteilung in Brasilien funktioniert. Daraufhin meldete sich auch Telegram-Chef Pavel Durow, der sich ja nicht gleich um jede Regierung, die mit seiner Plattform Probleme hat, individuell kümmern kann, und

"entschuldigte sich ... in einer Instagram-Botschaft und führte ein 'Kommunikationsproblem' an. 'Im Namen unseres Teams entschuldige ich mich beim brasilianischen Obersten Gerichtshof für unsere Nachlässigkeit. Wir hätten definitiv bessere Arbeit leisten können', erklärte der Unternehmensgründer. Telegram hat seinen Firmensitz in Dubai."

Übrigens: Dubai ist eines der Vereinigten Arabischen Emirate, in die just eine aus den "Extra"- und "Spezial"-Sendungen bestens vertraute Persönlichkeit gerade reiste: Vizebundeskanzler Robert Habeck. Angesichts all der sich immerzu ereignenden, äh, Zeitenwenden ist allerdings unwahrscheinlich, dass zum deutschen Wirtschafts-/Medien-Tross auch Bußgeldbescheid-Briefträger gehören, oder dass Habeck mit einem Emir außer über Gas und Menschenrechte auch noch über Rechtshilfe bei der Durchsetzung des deutschen NetzDG verhandelt. Selbst wenn die globale Vorbildwirkung der deutschen Internetgesetze sich immer deutlicher zeigt ...

Was macht eigentlich der "Spiegel"?

"Der Spiegel" gehört, was Medienthemen im engeren Sinne betrifft, zu den nicht soo relevanten Adressen in der deutschen Presselandschaft. Aktuell allerdings bietet er einige große bzw. spektakulär klingende Interviews. Da ist erst mal der "kleine Scoop" (Klaus Raab hier), frühzeitig die enorm mutige russische Staatsfernseh-Moderatorin Marina Owsjannikowa "ans Telefon bekommen" zu haben. Dieses natürlich online first publizierte Interview steht nun auf zwei Seiten im aktuellen Heft. Inzwischen gibt es weitere Owsjannikowa-Interviews, etwa mit dem US-amerikanischen Fernsehsender ABC (vom "Standard" zusammengefasst), was sowohl eine positive Nachricht ist als auch zeigt, dass der "Spiegel" vorn dabei war.

Außerdem enthält das aktuelle Heft mal wieder eine Medienrubrik und darin ein großes Interview mit Barbara Schöneberger (€). Auf drei eng bedruckten Seiten zeigt sich: Die prominente "Künstlerin" ("Spiegel") ist klüger als der Ausstoß, der rund um ihre Person multimedial erzeugt wird (wobei auch traurig wäre, wenn sich das anders verhielte).

"Die Zuschauerperspektive ist für mich zweitrangig. Jedem bleibt freigestellt, mein 'Barbara'-Magazin nicht zu kaufen, mein barba radio nicht zu hören, nicht mit meiner Tapetenkollektion zu tapezieren und umzuschalten, wenn ich im Fernsehen erscheine.",

sagt Schöneberger absolut zurecht, und Interviewer Alexander Kühn treibt das Gespräch voran mit Einwürfen à la:

"Künstler wie Carolin Kebekus, Jan Böhmermann oder Joko und Klaas machen in ihren Sendungen Sexismus oder Rechtsradikalismus zum Thema. Anstatt nur lustig zu sein, will diese Generation von Entertainern die Welt verbessern."

Huch, hat da der "Spiegel" zu gendern vergessen? Na ja, dafür verbreitet er zumindest die Ansicht, dass jeder Mensch, der im Fernsehen auftritt, "Künstler" ist, auf Teufel komm raus. Als aktueller Anlass des großen Interviews dient übrigens Schönebergers neue große Fernsehshow in unserer ARD, "Verstehen Sie Spaß?" in inzwischen nicht mehr ganz zwei Wochen. Da ist das Sturmgeschütz ja schon wieder ganz vorn dabei!

Das dritte "Spiegel"-Medien-Interview ist kein in der Länge sehr großes, zeigt sich hinter der Bezahlschranke. Geführt ebenfalls vom Medien-Vermischtes-Tausendsassa Alexander Kühn, steht es auch gar nicht im neuen "Spiegel", sondern in der Ergänzungszeitschrift "Spiegel Geld" (in die das Schöneberger-Interview unter der Überschrift "Ich würde mich immer fürs Geld entscheiden" übrigens auch passen würde). Es kreist ums Lebenswerk eines Großen der deutschen Fernsehindustrie. Nico Hofmann erzählt, wie er einst mit Roland Suso Richter (dem inzwischen nicht zuletzt für Degeto-Donnerstagskrimis tätigen Regiekünstler) in einer WG lebte und als "so etwas wie der Herstellungsleiter, ... Croissants mit Marmelade beschmiert" hatte.

Hofmann ist trotz aller sich bald darauf einstellenden Erfolge bescheiden geblieben, erfährt man im "Spiegel"-typisch zupackend ("Vermutlich bringen Sie auch den Müll nicht selbst raus." – "Doch, das tue ich ...") geführten Gespräch. Und am Ende setzt der jugendlich gebliebene alte Fuchs einen Cliffhanger, dessen Edgy-ness jedem Ereignis-Mehrteiler mit Heino Ferch, Sebastian Koch und Nadja Uhl als Frau zwischen zwei Männern zur Ehre gereichen würde:

"Vor einem Jahr habe ich den größten Teil meines Vermögens in eine Stiftung umgewandelt, die nach meinem Tod aktiv wird. Zweck der Nico-Hofmann-Stiftung wird es sein, den Filmnachwuchs zu unterstützen. Ich habe bereits festgelegt, wer die Stiftung leiten soll. Außerdem habe ich fünf Menschen, die mir nahestehen, als Erben benannt."

"SPIEGEL: Wen denn?"

Eine knappe Hofmann-Antwort folgt noch, doch die hier zu spoilern, wäre dem "Spiegel" gegenüber unfair.

Ist das nun Journalismus auf der Höhe einer Zeit, in der Pressemedien sich mit dem Verlust ihrer Gatekeeper-Position abgefunden haben? Vielleicht. Vielleicht sucht der "Spiegel", gerade im Medienressort, aber auch mit Prominenten-Interviews aus dem Bertelsmann-Imperium (zu dem er selbst mit vorläufig 25,1 Prozent ja teilweise gehört, so wie die von Nico Hofmann geleitete Ufa und das "Barbara"-Gruner+Jahr komplett) aber auch ziemlich verkrampft sein Plätzchen.


Altpapierkorb ("SZ"-Google-Projekt, ukrainisches Fernsehen, Sonia "Russland-Versteherin", "Wintersport ist Fernsehmord")

+++ Auch wer kein "SZ"-Digitalabo hat oder sich jetzt zulegen möchte, sollte mal rasch auf sz.de/GooglesSchatz klicken, weil "Was Google über uns weiß", das neue Datenjournalismus-Projekt zum allergrößten Datenkraken, auch visuell gut aufgemacht ist.

+++ Zurück zum Topthema Krieg: Den ukrainischen Nachrichtensender U24 auf u24.ua/en hat Harald Staun für die "FAS" verfolgt: "Wie sich dort, zum einen, der absolute Ausnahmezustand abbildet, in deprimierenden Berichten von der Front, in Interviews aus den Luftschutzkellern und in dröhnenden Ermutigungsclips rund um die Uhr, und andererseits die Routinen der Fernsehberichterstattung Normalität ausstrahlen, macht den ganzen Wahnsinn dieses Krieges auf besonders gespenstische Weise anschaulich". +++ Dass in der angegriffenen Ukraine gestern "alle ukrainischen Fernsehsender zusammen"-gelegt wurden, wird auf deutsch bislang nur knapp gemeldet (tagesschau.de).

+++ Auf der "SZ"-Medienseite (€) berichtet Sonia Mikich, warum sie einst zur "Russland-Versteherin" werden wollte.

+++ Von frischem Streit um den streitbaren Deniz Yücel, und zwar in seiner Eigenschaft als deutscher PEN-Präsident, berichten Feuilletons hinter Bezahlschranken.

+++ Zur Diskussion um die Evangelische Kirche und deren Beschluss, ihre Journalistenschule zuzumachen, zuletzt in einigen Altpapierkörben erwähnt, gehört noch die Formulierung "Selbstverzwergung der evangelischen Kirche" des EJS-Leiters Oscar Tiefenthal (welt.de).

+++ Oh, gar kein Krimi heute im ZDF. "Sendetermine werden lange im Voraus festgelegt, weshalb es Zufall ist, dass Jan Josef Liefers’ sehr gelungene Regiearbeit 'Honecker und der Pastor' in einer Zeit ins Fernsehen kommt, in der das Paradoxon der Feindesliebe so anstößig und herausfordernd ist wie lange nicht" ("SZ"). +++ Nicht soo gelungen, aber immerhin knapp "davor ..., in allzu märchenhaftem Idyll zu versinken", meint die "taz".

+++ Und "Wintersport ist Fernsehmord" kommentiert dann noch launig immer Allesgucker Joachim Huber ("Tagesspiegel"). Aber sicher nicht schlechter als die meisten Fernsehkrimis, würde ich entgegnen.

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.

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