Das Altpapier am 28. März 2022 Unverzichtbar, aber für wen?
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28. März 2022, 10:03 Uhr
Einerseits "das derzeit vielleicht gefährlichste Unternehmen der Welt", andererseits eines, das "von bürgerrechtlichen Idealen angetrieben" sei: Der Messenger Telegram gehört zu den wichtigsten Informationsdiensten für die Ukrainer im Krieg. Außerdem: Die "FAS" warnt vor undifferenzierten Betrachtungen. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Ist Telegram doch nicht so verkehrt?
Wenn auf einer Medienseite der Satz "Es ist eine erstaunliche Wendung" zu lesen ist, fallen einem ein paar Dinge ein, die gemeint sein könnten. Hat die britische Regierung die BBC gelobt? Das ZDF versehentlich einen langen unformatierten Dokumentarfilm am Samstag um 20.15 Uhr ausgestrahlt? Auf der Medienseite der "Süddeutschen Zeitung" vom Samstag bezog sich der Satz auf ein Lob der deutschen Behörden für den Messengerdienst Telegram. Im Artikel heißt es, Telegram gelte zwar
"für viele Sicherheitsbehörden als das derzeit vielleicht gefährlichste Unternehmen der Welt. Über den Chatdienst können Nachrichten, Videos, Bilder völlig frei geteilt werden. Das Angebot nutzen Verschwörungsideologen, 'Querdenker', QAnon-Agitatoren. Als sich sächsische Rechtsextreme im Dezember über die mögliche Ermordung des Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) austauschten, geschah dies über Telegram".
Erst Ende vergangener Woche war der Dienst noch so beschrieben worden: "Telegram steht seit Langem in der Kritik, nur selten extremistische und verbotene Inhalte zu löschen", hieß es zum Beispiel beim Online-"Spiegel", weshalb es das Messengerunternehmen, das zwielichtigerweise keine Adresse zu haben scheint, an der es auch anzutreffen ist ("Spiegel" vom Juni), mit dem deutschen Bundesamt für Justiz zu tun bekommen hat. (Die Vorgeschichte stand etwa hier, bei tagesschau.de.)
Die Wendung, die die "SZ" nun meint, ist diese:
"Seit Beginn des Krieges in der Ukraine aber rückt nun auch die andere Seite dieses Unternehmens wieder stärker ins Bewusstsein. Telegram ist das wahrscheinlich wichtigste Medium in diesem Konflikt geworden" –
etwa weil der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj viele Follower darüber erreiche; weil sich Ukrainerinnen und Ukrainer darüber über sichere Fluchtrouten informieren würden; weil, so Ronen Steinke und Christoph Koopmann in der "SZ", der 2013 in Russland gegründete Messengerdienst "zu einer unverzichtbaren Infrastruktur für Regimekritiker geworden" sei.
Halbwegs unverzichtbar daher wohl auch für die deutschen Behörden, die – das ist die eigentlich gemeinte "erstaunliche Wendung" – mittlerweile mit dem Telegram-Chef Pawel Durow in Kontakt stünden (der sich als Russe zuletzt als Ukraine-Unterstützer geäußert hat) und ihn im Videogespräch sogar erst einmal mit Worten der Wertschätzung bedacht hätten, Wertschätzung "für Telegram, ein Unternehmen, das doch von bürgerrechtlichen Idealen angetrieben sei", wie der deutsche Digital-Staatssekretär Markus Richter ausgeführt habe.
Man nennt das wohl Diplomatie.
Telegrams ambivalente Rolle
Die "New York Times", die "Washington Post" und zuletzt etwa auch "Bild" haben einen eigenen Telegram-Kanal eingerichtet, "um Zielgruppen zu erreichen, die besonders von Fake News betroffen sind", wie Meedia vergangene Woche "Bild"-Chefredakteur Johannes Boie zitiert hat. Dass "Bild" und "Welt" ihre Fernsehinhalte mit russischen Untertiteln ausspielen (Altpapier vom Mittwoch), steht ebenfalls in diesem Kontext. Nun wurde in Russland, das sich digital immer weiter einmauert, der Zugriff auf die Website von bild.de allerdings eingeschränkt, schreiben der "Tagesspiegel", faz.net und auch bild.de selbst. Der Zugriff auf den Telegram-Kanal von "Bild" scheint in Russland allerdings noch möglich zu sein, zumindest verweist bild.de selbst darauf.
Auch wenn Telegram aber eine relevante Informationsquelle für Ukrainer und auch Russen ist, bleibt der Messenger ein – wertfrei gesagt – vieldeutiger Dienst. Detailliert hat das Matthias Schwarzer vor einer knappen Woche auf den Seiten des Redaktionsnetzwerks Deutschland herausgearbeitet.
Einerseits hat sich Telegram in Russland gegen Sperren trick- und erfolgreich gewehrt und ist deshalb, anders als Facebook, Twitter, Instagram oder Tiktok, nach wie vor nicht blockiert:
"(D)ie klassischen Medien senden Propaganda aus dem Kreml, ein neues Zensurgesetz erschwert zudem die Berichterstattung ausländischer Medien. Der Aufschwung von Telegram ist da nicht überraschend. Seit jeher positioniert sich die Plattform als unabhängig von allen möglichen staatlichen Organisationen, eine Zusammenarbeit mit Behörden wird konsequent abgelehnt. Auf Telegram herrscht nahezu grenzenlose Redefreiheit",
schreibt Schwarzer. Andererseits bedeutet das auch: "Auf der Plattform darf selbstverständlich auch der Kreml ungestört Propaganda verbreiten – und Telegram macht, im Gegensatz zu etwa Facebook, keine Anstalten, das zu unterbinden."
WhatsApp, das zum Facebook-Konzern Meta gehört, ist zwar auch noch nicht blockiert. Allerdings, schreibt Meedia.de in einem Überblick, gelte WhatsApp eher als "belanglos", und Telegram sei in den Nutzerzahlen seit Kriegsbeginn Ende Februar wohl an WhatsApp vorbeigezogen.
Dass Telegram trotz der größeren Bedeutung in Russland noch aktiv ist, kann auf mehrere Arten gelesen werden. Die eine ist, dass der Kreml nach einigen krasseren Fehlschlägen beim Versuch, den Dienst zu sperren, aufgegeben habe. Eine andere, dass er selbst über den Dienst kommuniziere und "über Telegram-Channels die Öffentlichkeit" desinformiere (stern.de). "Dass der Dienst zu Kriegszeiten immer noch aktiv ist, sieht die [ukrainische] Menschenrechtsaktivistin [Oleksandra Matwijtschuk] als Indiz dafür, dass der Kreml Telegram eher als 'hilfreich' in Sachen Propaganda einschätzt", schrieb dieser Tage auch die "FAZ". Während die russische Propaganda in der Ukraine zwar nicht mehr verfange, sei sie in Russland selbst durchaus noch wirksam, hieß es dort auch. Ob man Telegram also als zwielichtig, dubios, relevant oder ambivalent bezeichnet, ist zweitrangig. Entscheidend ist die Rolle in diesem Informationskrieg: Es ist ein nicht gesperrter Dienst. Nicht gesperrt für, hm, Gut und Böse.
Der Fokus der russischen Opposition
Wobei, Gut? Böse? Vorsicht mit solchem Vokabular und solchen Vereinfachungen!, könnte man sagen. Und würde damit auf die Linie der Medienseite der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" einschwenken, die nach meiner Wahrnehmung seit Kriegsbeginn davor warnt, die Logik des Kriegs zur Logik journalistischen und publizistischen Denkens zu machen. So auch diese Woche. Nikolai Klimeniouk dringt im "FAS"-Medienseitenaufmacher tief in einen Graubereich jenseits der Heroisierung ein, wenn er die Rolle der russischen Opposition betrachtet: "Drei wichtige Oppositionsgruppen gebe es, die von Alexej Nawalnyj, die vom einstigen Öl-Tycoon Michail Chodorkowski und die vom Ex-Schachweltmeister Garry Kasparow."
Die ersten beiden allerdings – und das seien die einflussreicheren – hätten ihren Fokus "primär auf die Korruption gerichtet", nicht auf Russlands Kriege:
"Offenbar hindert die eigene imperiale Prägung die wichtigsten Figuren der russischen Opposition daran, die Auslöschung der Ukrainer und die Zurückeroberung der einmal von Russland eroberten Gebiete als Putins eigentliche Ziele zu erkennen. Für sie ist die Ukraine vor allem ein Kollateralschaden der putinschen Habgier."
Ähnliche Beobachtungen macht Klimeniouk bei russischen Oppositionsmedien:
"Der nun vom Regime zerschlagene Fernsehsender ‚Doschd‘ wurde in der Ukraine bereits 2017 wegen seiner ukrainefeindlichen Haltung geblockt. Das wichtige Onlinemedium ‚Meduza‘ verwendet in Bezug auf die Ukraine dauernd russisches Propagandavokabular".
Hier wäre aktuell zu ergänzen, dass das ebenfalls bereits gesperrte Meduza, wie Agenturen und etwa Zeit Online berichten, "(t)rotz Warnungen der russischen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor" soeben "ein Interview mit dem ukrainischen Präsidenten" veröffentlicht hat.
Klimeniouk geht es in seinem "FAS"-Text allerdings um eine längerfristige Bewertung. Er schließt:
"Auf eine paradoxe Weise hat diese Korruptionsfixierung der russischen Opposition den falschen Eindruck der westlichen Entscheidungsträger verschärft, Putin verfolge nachvollziehbare wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen. (…) Das Völkische, das Faschistische, das Imperiale wurden nicht ernst genommen".
Auch als Fußnote zu diesem Text ist dann Harald Stauns auf derselben "FAS"-Seite erschienene Notiz zu einem Buch der Publizistin und ehemaligen Kriegsreporterin Carolin Emcke lesbar (siehe auch Altpapier vom 17. März). Darin schreibt Staun:
"In den Statements der ukrainischen Regierung wurde in den vergangenen Tagen der Aufruf immer lauter, unter den Umständen des grausamen russischen Angriffskrieges auf unnötige Differenzierungen zu verzichten: Es gäbe nur Schwarz und Weiß, Gut oder Böse, halten Wolodymyr Selenskyj und seine Leute dem Westen vor – was als Bekenntnis zur Solidarität unbedingt richtig ist, als Devise für die Geschichten, die man über diesen Krieg erzählt, aber fatal."
Altpapierkorb (Rundfunkbeitragspausenvorschlag, Presseratsentscheidung, Reportage statt Tierdoku, Studiopublikum, Oscars)
+++ Die grüne Finanzministerin von Schleswig-Holstein, Monika Heinold, hat ins Spiel gebracht, Menschen im Land in diesen Zeiten finanziell zu entlasten könne, indem man den Rundfunkbeitrag für ein halbes Jahr aussetze. Ein "GEZ-Hammer" und "spannender Vorstoß", findet die bei diesem Thema verlässlich unüberraschende "Bild", die Heinold zum Thema vernommen hat. Und Michael Hanfeld reitet sein Steckenpferd, indem er die Idee in der Samstags-"FAZ" nicht unangetan kommentiert ("…Da stünde es den Anstalten nicht übel an, da es vielen schlechter geht, nicht zu den Immerbesserverdienern zu gehören"). Bei Hanfelds Satz "Sehr schnell jedenfalls geht es in unserem Land, auch in den Schlagzeilen, worum es nach drei Talkshows immer geht: um uns selbst" musste ich angesichts der faz.net-Überschrift "Pause beim Rundfunkbeitrag" eventuell schmunzeln.
+++ Dass "Bild" nicht für den Beitrag "Die Lockdown-Macher" gerügt wurde, stand hier am Freitag. Joachim Huber findet im "Tagesspiegel", dass "der Beschluss des Presserates Fragezeichen" provoziere: "(D)as Blatt hat eindeutig Stimmung machen wollen – gegen die seriöse Wissenschaft und ihre Erkenntnisse. Das ist auch gelungen, die Szene der Corona-Lügner, pardon, der Corona-Leugner war und ist außer sich vor Freude über Artikel und Nicht-Rüge. Der Presserat hat die inkludierte Wirkungsabsicht von Artikel und Aufmachung ignoriert. Welcher Irrtum da begangen worden ist, zeigt sich schon an der Tatsache, dass sich die 'Bild'-Zeitung von ihrem Irrtum distanziert hat." (Wobei ein "Bild"-Chefredakteur selten schneller auf eine Presseratsentscheidung reagiert hat, als Johannes Boie auf diese. Das muss dann jetzt wohl der Geschwindigkeitsmaßstab sein.)
+++ "ARD zeigt am Montag Ukraine-Reportage statt Erdmännchen", meldet DWDL, und das ist keine Nachricht, die jenseits der Welt der Erdmännchen auf Empörung stoßen dürfte. Michael Hanfeld bespricht für die Abo-"FAZ" die stattdessen (nach einem weiteren "Brennpunkt") laufende Halbstundenreportage "Heimreise in den Krieg".
+++ Ob ein Talk mit Studiopublikum vor ausgestanzten Pappkartons oder vor leeren Rängen aufgezeichnet wird, danach kräht nach zwei Jahren Pandemie eigentlich kein Hahn mehr. Kein Mensch zu Hause braucht den Applaus des Publikums, um zu wissen, welches Argument, welche Pointe gut gewesen ist. Was die dpa-Recherche ("Tagesspiegel", "Berliner Zeitung") zur Frage, welche Talkshow bald wieder mit Publikum plant und welche darauf verzichtet, zeigt, ist vor allem das Selbstverständnis der Talks: "Markus Lanz" wolle künftig ohne Publikum auskommen, weil "sich ohne Publikum die Gesprächssituation zwischen Moderator und den Gästen verbessert habe". Während "hart aber fair" weiterhin auf Studiopublikum setze: "Eine gute Talkshow ist immer auch eine Arena. Der Meinungsstreit unserer Gäste wird am besten vor Publikum ausgetragen." Die Talkshow als Arena – andere würden sagen: Genau das ist das Problem.
+++ Im Saarland ist gewählt worden. Besondere mediale Vorkommnisse mag es unter Umständen gegeben haben. Mir sind aber keine untergekommen.
+++ In der Nacht zum Montag wurden die Oscars vergeben. Wer genau über den Fortgang der Verleihung Bescheid wissen will und nicht nur darüber, welcher Deutsche namens Hans Zimmer gewonnen hat, liest zum Beispiel das Liveblog von spiegel.de oder von zeit.de nach.
Neues Altpapier erscheint am Dienstag.