Altpapier vom 31. März 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 31. März 2022 Brüder im benebelten Geiste

31. März 2022, 10:48 Uhr

Was "konservative" deutsche Meinungsmarktbeschicker mit Wladimir Putin gemeinsam haben. Warum die Stadt Stuttgart die Berichterstattung über Geflüchtete aus der Ukraine behindert. Warum die deutsche Berichterstattung über Ungarn doppelmoralisch ist. Ein Altpapier von René Martens.

Die "Cancel Culture" und ihr globaler Steckenpferdreiterclub

Zu den aus medienkritischer Sicht zumindest nach Nischen-Maßstäben bemerkenswerten Aspekten der aktuellen Berichterstattung zu Russland gehören ja die offenkundig gewordenen Gemeinsamkeiten zwischen Wladimir Putin und deutschsprachigen Meinungsmarktbeschickern, die sich selbst als konservativ wahrnehmen oder mit der Selbstbezeichnung "konservativ" auf diesem Markt agieren.

Die Formulierung "sich selbst als konservativ wahrnehmend" stammt von Andrej Reisin, der sich in einem "Übermedien"-(€)-Beitrag unter anderem mit diesem Thema beschäftigt hat:

"Putin (wird) nicht müde, über den dekadenten Westen zu schimpfen. Dabei hat es ihm insbesondere die 'Cancel Culture' angetan, ein Steckenpferd liberalkonservativer Kommentatoren und Kolumnisten wie Poschardt, Fleischhauer oder Martenstein (…) Seit Jahren sind Gender-Mainstreaming und LGBTIQ-Rechte ein Hauptangriffsziel – nicht nur für Putin. Auch für den ungarischen Staatschef Viktor Orbán, die polnische PIS-Partei, die AfD, weite Teile der republikanischen Partei in den USA und andere rechtsgerichtete sowie autokratisch agierende Politiker und Parteien (…) Ein Paradebeispiel dafür, wie sehr eine sich selbst als konservativ wahrnehmende, rechtspopulistische Avantgarde diese Haltung mit Putin teilt, ist Ex-'Bild'-Chef Julian Reichelt, (…) (der) gegen alles (basht), was seiner Auffassung nach die herrschende Geschlechterordnung bedroht."

Ein Beispiel dafür war am Mittwoch im Altpapier erwähnt.

Zu den Cancel-Culture-Steckenpferdreitern gehört auch der Weltwoche-Verleger Roger Köppel, der gerade bei "Viertel nach acht" mal wieder heftig ritt (Warnhinweis: auch Martenstein ist dabei). Über das Verhältnis Köppels und dessen Blatt zu Russland schreibt Jürg Altwegg in der FAZ (€):

"Schon Anfang des Jahres hatte die 'NZZ am Sonntag' einen Auftritt Köppels bei RT scharf kritisiert: Er mache sich zum Komplizen der russischen Propaganda. Aus Anlass des Nichtverbots von RT nahm der 'Tages-Anzeiger' nun Köppels Rolle unter die Lupe. 'Er sei der letzte Realist in Europa', habe Köppel im vergangenen Juni auf RT über Putin gesagt. Interviewt wurde er von dem Journalisten Thomas Fasbender, der inzwischen regelmäßig für die 'Weltwoche' schreibt. Vergangene Woche veröffentlichte Köppel seine leicht narzisstischen "Bekenntnisse eines Russland-Verstehers".

Siehe zu dem Thema auch einen NZZ-Text von Ende Februar dazu, "wie die 'Weltwoche' im Ukraine-Krieg taumelt". FAZ-Mann Altwegg geht ebenfalls direkt auf die Kriegsberichterstattung der 'Weltwoche' ein:

"Aus dem ukrainischen Widerstandshelden Wolodymyr Selenskyj hat seine Zeitung einen 'komischen Diktator' gemacht: Mit dem Versprechen von Frieden sei er zur Wahl angetreten, 'jetzt führt er das Land in einem Krieg'", den er nicht beende, sondern anstachele."

Einen Hinweis zu Lasten der direkten Medienkonkurrenz hier zu Lande, der angesichts der in der Branche sonst weit verbreiteten Die-eine-Krähe-hackt-der-anderen-kein-Auge-aus-Mentalität durchaus erfrischend ist, kann sich Altwegg nicht verkneifen:

"Der Autor, der Selenskyj die Rolle des korrupten Schmierenkomödianten auf den 'schmächtigen' Leib zu schreiben versucht, war lange Schweiz-Korrespondent der 'Süddeutschen Zeitung'. 'Kleines Ländchen, große Klappe', höhnte er über den luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn: 'Die Maus, die brüllte'. Der 'Großstaatsmann' ('Weltwoche') hatte sich erdreistet, die Eliminierung des Tyrannen Putin zu wünschen. Wehe jedem deutschen Medium und Journalisten, die mit solchen Tönen über die kleine und verschonte Schweiz herfallen würden."

Wolfgang Koydl heißt übrigens der Ex-SZ-Korrespondent, den Altwegg nicht beim Namen nennt.

Kriegsberichterstattung und Desinformation in den 1870er Jahren und 1914

Die aktuelle Kriegslage als Anlass für informationspolitikgeschichtliche Rückblicke nehmen Sheila Mysorekar fürs ND und George Monbiot für den "Guardian". Mysorekar bemerkt:

"Der erste Krieg, der durchgängig von einem Filmteam begleitet wurde, war die mexikanische Revolution. Als der mexikanische Revolutionär Pancho Villa 1914 mit berittenen Truppen die Stadt Durango angriff, waren der – damals noch unbekannte – US-amerikanische Filmregisseur Raoul Walsh und sein deutscher Kameramann dabei. Sie filmten für die US-amerikanische Wochenschau, sozusagen als 'embedded journalists', genau wie die Kriegsberichterstatter im Irak-Krieg."

Die Autorin macht dann folgenden Schlenker in die Gegenwart:

"Die Ukrainer*innen nutzen Kulturtechniken, mit denen wir vertraut sind, und das gibt uns einen guten Zugang zu ihrem Diskurs. Die gemeinsame Ästhetik der westlichen Kulturindustrie erzeugt so ein Gefühl der Nähe und des Verständnisses. Nichts anderes machte Pancho Villa, als er US-amerikanischen Wochenschau-Regisseuren erlaubte, bei seinen Truppen mitzureiten und zu filmen."

Monbiot stellt einen anderen historischen Aspekt heraus:

"We should contest and expose the Kremlin’s lying. But to suggest that the public assault on truth is new, or peculiarly Russian, is also disinformation. For generations, in countries such as the UK there was no epistemic crisis – but this was not because we shared a commitment to truth. It was because we shared a commitment to outrageous lies. The famines engineered by the viceroy of India, Lord Lytton, in the 1870s are (…) less well-known, though, according to Mike Davis’s book Late Victorian Holocausts, they killed between 12 and 29 million people. Only when Caroline Elkins’s book, Britain’s Gulag, was published in 2005 did we discover that the UK had run a system of concentration camps and "enclosed villages” in Kenya in the 1950s into which almost the entire Kikuyu population was driven. Many thousands were tortured and murdered or died of hunger and disease. Almost all the documents recording these great crimes were systematically burned or dumped at sea in weighted crates by the British government, and replaced with fake files (…) Just as the Kremlin requires a campaign of disinformation to justify its imperial aggression in Ukraine, the British empire also needed a system of comprehensive lies."

Stuttgart, bist du noch ganz knusper?

Eigenwillige Vorstellungen von Medienfreiheit performt im Kontext des Ukraine-Krieges derzeit die Stadt Stuttgart. Vor einigen Tagen habe sie mitgeteilt, "dass sie der Presse nach dem Einzug von Geflüchteten in Notunterkünfte 'grundsätzlich keinen Zugang zu den Räumlichkeiten gewährt'". Darüber berichtet Anna Hunger in der Wochenzeitung Kontext.

Sie weist auch darauf hin, dass an der Berichterstattungsbehinderung eine ehemalige Journalistin beteiligt ist:

"Presse, welcher Art auch immer, (bringe) 'Unruhe rein', bekräftigt Susanne Kaufmann am Telefon, Sprecherin von Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) und frühere SWR-Redakteurin. Also stellt die Stadt den Medien jetzt Fotos und Videos von den bezogenen Hallen zur Verfügung, die sie beim Fotografen und Filmer ihrer Wahl beauftragt hat. Und legt auch gleich fest, wie das Material zu verwenden ist, nämlich "nur zu Zwecken einer aktuellen ... Berichterstattung".

Hungers Fazit:

"Es wird momentan eine Menge Steuergeld ausgeschüttet, um die Geflüchteten aus der Ukraine unterzubringen und ihnen ein gutes Ankommen zu ermöglichen. Das ist toll, aber es muss möglich sein, nachzuschauen, ob auch alles so klappt, wie die Stadt das behauptet. Denn wenn es Probleme gibt, wird sie ganz sicher nicht selbst damit an die Öffentlichkeit gehen. Dazu gibt es ja die Presse."

Ungarn und die Doppelmoral der deutschen Medien

Dass die Parlamentswahlen in Ungarn derzeit mediale Aufmerksamkeit bekommen, hat auch damit zu tun, dass sich durch Russlands Krieg gegen die Ukraine der Wahlkampf völlig verändert hat. Regierungschef Viktor Orbán fährt nun eine, maximal neutral formuliert: Doppelstrategie. Er ist "gegen die Invasion, aber nicht gegen Putin" (Tagesspiegel+).

In der "Süddeutschen Zeitung" ist Ungarn heute "Thema des Tages". In einem der beiden Artikel schreibt Cathrin Kahlweit (bei Blendle für 79 Cent):

"(Orbán) inszeniert sich als Retter des Vaterlands, weil, wie er wahrheitswidrig wiederholt, die Opposition die Ungarn in den Krieg hineinziehen wolle (…) Korruption, der Abbau des Rechtsstaats, superreiche Oligarchen, fehlende Medienfreiheit, das Referendum gegen 'homosexuelle Propaganda', EU-Feindlichkeit, Intoleranz - alles, womit die vereinte Opposition und ihr Spitzenkandidat Péter Márki-Zay ins Rennen gingen, erscheint plötzlich zweitranging. Die Wahlkampfmaschine der Regierungspartei kennt nur noch ein Thema: Wer sich für die Opposition entscheide, entscheide sich auch dafür, Waffen und Soldaten in die Ukraine zu schicken und Ungarns nationale Interessen aufs Spiel zu setzen. Die eine Message ist überall zu lesen, zu sehen, zu hören, überall die gleichen Aufmacher. Magyar Hírlap, regierungsnahe Zeitung, titelt 'Viktor Orbán: Es geht um Frieden oder Krieg!' (…) Auch in Interviews mit den regierungsnahen Sendern HírTV, Kossuth Rádió und M1 gibt es nur dies: 'Frieden, Sicherheit und die Zukunft unserer Kinder stehen am Sonntag auf dem Spiel.'"

In der SZ von Mittwoch hatte sich Kahlweit bereits in einem längeren Text mit den Einschränkungen der Medienfreiheit in Ungarn befasst (siehe Altpapier) - und war darin ausführlich auf die ZDFinfo-Dokumentation "Ungarn - Propaganda gegen Pressefreiheit" eingegangen.

Den von Kahlweit ausführlich gewürdigten Film habe ich für den KNA-Mediendienst (kostenpflichtiger Login erforderlich) rezensiert - und dabei medienkritische Bemerkungen des ungarischen Investigativjournalisten Szabolcs Panyi herausgestellt.

Er wirft deutschen Medien eine Art Doppelmoral vor. Diese kritisierten zwar ausgiebig die Einschränkungen der Medienfreiheit und das Ausmaß der Korruption in Ungarn, blendeten aber aus, dass deutsche Unternehmen von EU-Subventionen profitierten - und indirekt auch von der Korruption. Die ungarische Wirtschaft, so Panyi weiter, sei "praktisch ein Teil der deutschen Industrie".

Die Kritik bezieht sich möglicherweise auf Sätze wie folgende (aus dem anderen Seite-2-Text der SZ von heute):

"Orbán, Ungarns Ministerpräsident seit 2010, gilt als Schande für die EU. Er hat sich den Staat untertan gemacht und bereichert sich schamlos."

Der erwähnte Kollege Panyi hat beim Investigativportal "Direkt36" gerade Recherchen über Cyberattacken russischer Geheimdienst- und Nachrichtendienst-Leute auf die IT-Systeme des ungarischen Außenministeriums (Thread-Fassung hier) veröffentlicht - was ja noch einmal eine zusätzliche Perspektive auf das ungarisch-russische Verhältnis eröffnet. Panyi schreibt, bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 sei deutlich geworden, dass die russischen Spione "das Computernetzwerk und die interne Korrespondenz des Außenministeriums vollständig kompromittiert und sich auch in das verschlüsselte Netzwerk gehackt hatten", das zur Übertragung von "eingeschränkten" und "vertraulichen" Staatsgeheimnissen sowie Informationen, die Diplomaten nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen verwenden werden dürfen, vorgesehen sei.

Panyis Schluss:

"Die ungarische Diplomatie ist durch das Hacken der Netzwerke des Ministeriums praktisch zu einem offenen Buch für Moskau geworden. Die Russen können im Voraus wissen, was das ungarische Außenministerium denkt und plant."

Die Infiltration habe "teilweise" noch nach dem Einmarsch in die Ukraine und "während der aktuellen EU- und NATO-Krisengipfel" stattgefunden. Was Panyi auch noch schreibt: "Anzeichen" dafür, dass die ungarische Regierung gegenüber Russland öffentlich gegen die Cyberspionage protestiert hat, gebe es nicht.


Altpapierkorb ("Schutzmaßnahme medienbezogener Art gegen mediale Feinde der Demokratie", unverschlüsselter Dropbox-Link mit Abertausenden Dokumenten aus Kanzlei eines rechtsextremen Anwalts, fragdenstaat.de-Sieg gegen Bundesregierung, Phoenix mutmaßlich im im Abseits, Slapstick-Sendung bei Tagesschau24)

+++ Der Aufmacher (€) auf der FAZ-Medienseite heute: eine Replik auf die am Dienstag ebd. vom Hamburger Kultursenator Carsten Brodsda formulierte Kritik an den EU-Sanktionen gegen staatliche russische Desinformationsverbreiter (vgl. Altpapier). Jörg Ukrow, stellvertretender Direktor der Landesmedienanstalt Saarland, meint: "Dass eine wehrhafte Demokratie, die Leitbild des Grundgesetzes wie der EU ist, auch Schutzmaßnahmen medienbezogener Art gegen mediale Feinde der Demokratie ergreifen können muss, liegt nahe. Die bisherige europäische Judikatur spricht dafür, dass solche Schutzmaßnahmen nicht zwingend staatsfern – oder präziser: unionsfern – organisiert sein müssen. Denn der Erlass restriktiver Maßnahmen gegen propagandistisch tätige Akteure kann danach nicht als unverhältnismäßige Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung angesehen werden."

+++ Sebastian Erb und Daniel Schulz haben für die taz recherchiert, dass ein rechtsextremer Anwalt "Unmengen vertraulicher Akten" in einem unverschlüsselten Dropbox-Link zugänglich gemacht hat: "Ruft man den Link im Browser auf, sind ohne weitere Hürde mehr als 1.500 Ordner der Kanzlei abrufbar. In der Regel ist jedem Ordner ein Fall zugeordnet und enthält teils tausende Seiten. Das Datenleck ist auch wegen der politischen Ausrichtung des Anwalts Matthias Bauer relevant. In den Daten finden sich Unterlagen zu Presserechts-Streitigkeiten, unter anderem mit der taz. Brauer vertritt etwa den rechtsextremen Verein Ein Prozent, die rechtsextreme Identitäre Bewegung, rechte Burschenschaften und nach eigenen Angaben in mehr als 100 Fällen Fraktionen, Parteigliederungen und einzelne Po­li­ti­ke­r:in­nen der AfD – auch in parteiintern Auseinandersetzungen. Einzelne rechte und rechtsextreme Personen vertritt Bauer auch persönlich wegen unterschiedlicher Straftaten. Auch die Daten der mutmaßlichen Opfer stehen nun offen im Netz."

+++ "Wir durften das von Beamten erstellte Gutachten zu Krebsrisiken beim Einsatz von Glyphosat veröffentlichen, das wir 2018 nach dem Informationsfreiheitsgesetz erhalten hatten. Anders als die Bundesregierung argumentierte, war die Veröffentlichung kein Verstoß gegen das Urheberrecht" - mit diesen Worten bringt die Plattform fragdenstaat.de ihre Freude über eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Ausdruck.

+++ Dass "vor allem die ARD" den gemeinschaftlich mit dem ZDF betriebenen und in der kommenden Woche ein Jubiläum feiernden Sender Phoenix "ins Abseits" manövriere, meint Michael Hanfeld (FAZ).

+++ Und wie eine Prime-Time Sendung im inhaltlich entfernt verwandten Programm Tagesschau24 am Dienstag immer wieder in Slapstick-Einlagen abglitt, weil das technische Personal daran scheiterte, "Schalten" innerhalb des Studios unfallfrei über die Bühne zu bringen - das beschreibt schließlich Boris Rosenkranz für "Übermedien".

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

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