Das Altpapier am 11. April 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 11. April 2022 Sensation im Landgericht?

11. April 2022, 09:54 Uhr

Ein Gerichtsurteil könnte Facebook deutlich höhere Kosten für Inhalte-Moderation bescheren. Das ZDF bekommt im Herbst eine Chefredakteurin, und Axel Springer zwei Vorständinnen. Ein Schauspieler ist gestorben, über den sich mehr schreiben lässt, als dass er in "Tatort"-Folgen mitspielte. Außerdem: die aktuell inflationärsten Journalismus-Begriffe. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Der Krieg der Bilder geht weiter

Der Krieg läuft weiter und überschattet alles, und weiter wird darüber geschrieben:

"Eigentlich, so möchte man protestieren, endet die Würde des Menschen nicht mit seinem Tod; und dass, wenn die Bilder der Leichen, die im Schmutz der Straßen liegen, von Millionen begafft werden, das ganz bestimmt nicht im Sinn dieser Würde ist. Eigentlich sollte man diese Bilder überhaupt nicht zeigen – und wenn doch, dann aus der Ferne, verpixelt, unkenntlich gemacht und durch hohe Hürden vor nur flüchtigen Blicken verborgen. Was aber, seit es Smartphones und soziale Netzwerke gibt, nahezu unmöglich ist. Und was nutzte es der Würde, könnte man gegen solche Bilderskepsis sagen, wenn die Leichen im Schmutz lägen und niemand erführe von den Morden".

zeigt sich Claudius Seidl heute vorn im "FAZ"-Feuilleton hin- und hergerissen. Zeugt es von einer Art Optimismus, dass ein im gedruckten Original unbebilderter Artikel in den "Kampf der Bilder" eingreifen möchte? (Die Online-Fassung enthält allerdings ein Foto, aber ein anderes).

Überschattet vom Krieg läuft der übliche Medienbetrieb auch weiter, z.B. in den Gerichtssälen.

Bemerkenswertes Facebook-Urteil pro Renate Künast

Große Worte fielen zum Ausgang eines Landgericht-Prozesses am Freitag in Frankfurt am Main. Das Urteil "könnte große Auswirkungen auf die Inhaltemoderation haben", schreibt Anna Biselli bei netzpolitik.org. Es sei "ein Meilenstein für unsere Demokratie, den Kampf gegen Rechtsextremismus und für alle Nut­ze­r*in­nen im Netz", der "Wirkungen über Deutschland hinaus haben" werde, zitiert die "taz" Grünen-Veteranin Renate Künast. Gar von einer "sensationellen Urteilsentscheidung" im "Facebook-Grundsatzprozess" schreibt die (von der Alfred-Landecker-Stiftung getragene) gGmbH HateAid, die den Prozess mit führte. Sie beschreibt auch griffig, was das Urteil bewirken dürfte, wenn es rechtskräftig wird. Exemplarisch ging es um eines der Zitate, die Künast fälschlich zugeschrieben (welches, steht in der Landgerichts-Pressemitteilung) und über viele sog. soz. Medien so vielfach geteilt wurden, dass es zum "Meme" wurde – einem sich unabhängig von irgendwelchen ursprünglichen Kontexten weiterverbreitenden Internet-Inhalt:

"Facebook muss alle identischen Memes, die zum Zeitpunkt des Urteils auf der Plattform vorhanden sind und ein Foto von Renate Künast, ihren Namen sowie das nachweisliche Falschzitat beinhalten, suchen und löschen."

Das Neue ist, dass sich das ausdrücklich auch auf "kerngleiche Memes" bezieht:

"Alle Reposts dieses Falschzitats zu finden und zu melden, ist für Betroffene ein unmögliches Unterfangen. Aber genau das forderte Facebook bisher von Betroffenen: Sie mussten jedes einzelne geteilte oder erneut hochgeladene Posting selbst suchen, finden und manuell bei der Plattform melden. Das kann zu einer Lebensaufgabe werden."

Die vielleicht kundigste Einschätzung der Urteils-Folgen, als Beteiligter gewiss befangen, aber keineswegs trocken (auch weil zwischendurch ein Hund auftaucht), gibt der Würzburger Rechtsanwalt Chan-jo Jun auf Youtube sowie im Rahmen eines Twitter-Threads. "The Künast ./. Facebook case certainly does deserve international attention", twittert er etwa. Im deutschsprachigen Thread argumentiert er:

"User und Opfer können nun ... mit einer einzigen Meldung an #Twitter #Instagram oder #Youtube verlangen, dass diese die kerngleichen Rechtsverletzungen plattformweit finden, bewerten und ggf. löschen."

Das für Facebook nicht im geringsten, aber für deutsche Verhältnisse recht hohe Schmerzensgeld von 10.000 Euro mache es "für Prozessfinanzierer interessant, diese Fälle aufzugreifen und verstärkt zu verfolgen", was für Plattformen  wiederum den Anreiz bilden könnte, der bisher fehlte, "um wirklich Content-Moderation aufzubauen", sagt Jun im Youtube-Video. Das vom Facebook-Konzern sonst gern angeführte Argument, eine Überprüfung abgewandelter Texte auf gleichen Kern wäre "wirtschaftlich unzumutbar", gilt nun nicht mehr. Also sofern der Meta-/Facebook-Konzern nicht in Berufung geht.

In früheren Fällen geäußerte Befürchtungen, dass von solchen Löschungen auch Postings "die das Meme als Falschzitat identifizieren", betroffen sein könnten, "etwa journalistische Berichte oder Fact-Checking-Beiträge", erwähnt der eingangs verlinkte netzpolitik.org-Artikel.

Personalien I: ZDF-Chefinnen

In den Führungsetagen großer deutscher Medien-Unternehmen ist die Zahl der Frauen gestiegen. Erstens beim ZDF, das sich vielleicht nicht als Unternehmen beschreiben würde, aber in der mediadb.eu-Top Ten vertreten ist. 

"Nadine Bilke, Bettina Schausten, Anne Gellinek und Frank Zervos - das ist ein starkes Team für ein starkes ZDF", lässt sich der ebenfalls noch neue Intendant Norbert Himmler zitieren (mit feinem Gespür dafür, dass das ZDF in allererster Linie Krimi-Sender ist). "Selten war die Verschwiegenheit auf dem Lerchenberg im Vorfeld der Bekanntgabe von Spitzenpersonalien größer", schrieb dwdl.de am Freitag. Was dann ohne große, bei früheren Chefposten-Entscheidungen durchaus übliche Kabalen ablief, entspricht den Erwartungen und den Karriere-/Beförderungs-Usancen, also der "guten alten rheinhessische Rochadentradition" (spiegel.de).

Schausten, die im September Chefredakteur Peter Frey nachfolgt, wenn der in Pension geht, war ja schon lange stellvertretende Chefredakteurin. Während die "FAZ" die Personalien vorläufig nur vermeldet, kommentierte die "SZ" sie bereits umfassend: Claudia Tieschky lobt Schausten als "extrem schwer zu beeindruckenden Polit-Profi", der/die "frühe Rückschläge ... sportlich weggesteckt" habe. Ein Selbstläufer sei ihre Wahl aber nicht gewesen:

"Nach der Kampfkandidatur der ARD-Hauptstadtleiterin Tina Hassel gegen den damaligen Programmdirektor Himmler bei der Intendantenwahl im vergangenen Juli, die Himmler nur dank ihres Rückzugs vor dem dritten Wahlgang gewann, hatten einige ein Komplott befürchtet: Hassel könnte für dieses Platzmachen mit dem ZDF-Chefredakteursposten 'abgefunden' werden."

Der Weg Bilkes, die aus der ZDF-Neo-Programmdirektion in die des großen ZDF aufsteigt wie zuvor auch Norbert Himmler, zeige, dass Neo weiterhin "die Impulse, um das ZDF-Hauptprogramm zu modernisieren", liefern soll. Was natürlich nur gilt, wenn man die im ZDF besonders brachiale Hardcore-Formatierung mit "Modernisierung" nicht zu positiv beschrieben findet. Wer die Entscheidungen traf bzw. absegnete, spricht die Agenturen-Meldung des "Tagesspiegel" an: der ZDF-Verwaltungsrat. Diesem 12-köpfigen Entscheider-Gremium gehört das Altpapier-bekannte Fernsehrats-Mitglied Leonhard Dobusch noch nicht an. Er wird es erst ab Juli verjüngen (wie Steffen Grimberg in der "taz" beschrieb). Die aktuellen, dafür an Lebenserfahrung umso reicheren Mitglieder sind hier zu finden.

Neben Martin Stadelmaier, der einst als Staatssekretär des medienwichtigen Bundeslands Rheinland-Pfalz wichtig war, nun im Ruhestand aber "freiberuflich tätig" ist (und damit zu den sog. Staatsfernen  gezählt werden kann ...), ist Markus Söder dabei. Also der bayerische Ministerpräsident, der am Donnerstag im großen "Zeit"-Streitgespräch mit der ARD-Vorsitzenden "dem Hauptprogramm des ZDF ... nicht allzu viel Bedeutung beizumessen" schien (Altpapier).

Was in der Formate-Fülle nervt

Da wir gerade bei Modernisierung/Formatierung von Fernsehen waren:

"Ein:e Reporter:in vor der Kamera führt durch den Film, trifft andere Menschen und spricht mit ihnen über ihre persönliche Geschichte: Leben mit Schizophrenie, freiwillig in den Krieg oder wohnen im 'Hotel Mama'. Allein 'funk', das Angebot für junge Menschen von ARD und ZDF, verfügt mit 'STRG_F', 'Y-Kollektiv', 'Die Frage', 'follow me.reports', 'exactly' oder 'Reporter' über zahlreiche Formate, die auf den ersten Blick ähnlich sind: die Recherche wird als Bildebene inszeniert und die Journalistin wird zur Protagonistin ihres eigenen Beitrags."

So beginnt ein weiterer lesenswerter uebermedien.de-Artikel Andrej Reisins, sozusagen über die "Fetischisierung von 'Echtheit'" in sehr zahlreichen flott montierten, meist dröhnenden, oft öffentlich-rechtlichen Bewegtbild-Formaten. Für solche Selbstinszenierungen investigativ auftretender Reportage-"Hosts" hat Reisin allerhand prägnante Beispiele. Ein wenig leidet der Artikel vielleicht darunter, dass "Strg_F"-Redaktionsleiter Dietmar Schiffermüller als Gesprächspartner vor allem Konkurrenz-Formate kritisiert. Doch dessen Aussage, dass "Recherche" und "investigativ" "derzeit die zwei inflationärsten Begriffe im Journalismus" sind, verdient Aufmerksamkeit.

Und "inflationär" wiederum ist ein ziemlich guter Begriff, um weite Teile des Angebots, mit dem Öffentlich-Rechtlichen hybrid sowohl in ihren eigenen, jung gemeinten linearen Programme als auch noch mehr "Channels" in Mediatheken, auf Youtube und anderswo im Internet füllen. Reisin schließt:

"Viele Formate haben aufgrund der eng getakteten Uploads, die der YouTube-Algorithmus bevorzugt, einen enormen Themenverschleiß. So kommt es zu vielen Dopplungen: Das Thema Transsexualität haben fast alle aufgezählten Channels behandelt, auch Klimarettung, Prostitution, Drogenkonsum, LGBT, Rassismus, Gesundheit und Krankheiten sind Dauerbrenner. Den Öffentlich-Rechtlichen wird gerne vorgeworfen, sich insgesamt überproportional um die Themen und Sichtweisen eines eher linken, eher großstädtischen Publikums zu kümmern. Bei diesen Formaten lässt sich das kaum abstreiten ..."

Personalien II: Springers Vorstand

Handel ist sicher kein schlechter Nachname für eine Managerin (auch wenn das Narrativ "Wandel durch Handel" derzeit eher nicht mehr gilt). Ab Mai wird auch der Konzern Axel Springer zwei Frauen in seinem dann fünfköpfigen Vorstand haben. Ulrike Handel übernimmt "das nationale Mediengeschäft mit den Marken Bild und Welt". Den neu ersonnenen Vorstandsbereich "Talent & Culture" wird später im Jahr mit Niddal Salah-Eldin ein mit 36 Jahren sogar noch junges echtes Eigengewächs übernehmen. Schließlich hatte Salah-Eldin, bevor sie vorübergehend zur dpa ging, zur starken Reichweite der alten Medienmarken-Tante "Die Welt" in vielen Internetkanälen beigetragen.

Zugleich wird mit Stephanie Caspar eine Frau dann den Vorstand verlassen. Während die "SZ" die PM-Formulierung vom "besten gegenseitigen Einvernehmen" übernimmt, bezeichnet die "FAZ" Caspar als "Befürworterin" Julian Reichelts, also des inzwischen sehr ehemaligen "Bild"-Chefredakteurs. "Was wie eine sorgfältig vorbereitete Personalrochade aussieht, ist indes eine Hauruckaktion", meint das "Handelsblatt" und will eher andeuten, dass Caspar selber "mit der Führungskultur im Haus" "haderte". Wobei der nochmals verschobene "Milliarden-Börsengang" des Job-Portals Stepstone, also eines der wichtigen, großen Nicht-Journalismus-/Medien-Geschäftsfelder bei Springer, auch mit reinspiele.

Weiteren Berichterstattungs-Stoff dürfte der Springer-Vorstand in den kommenden Monaten liefern.

Nachrufe auf Menschen von der Nordsee

"'Tatort'-Schauspieler gestorben'  – ist sozusagen die Minimallösung oder der Agenturen-Basisdienst für Nachrufe. Aktuell, aus naturgemäß traurigem Anlass zu finden zum Beispiel ... hier, bei spiegel.de aber auch. Schließlich dürfte im vergangenen halben Jahrhundert jeder hauptberuflich auch vor Fernsehkameras schauspielernde Mensch auch mal in einer "Tatort"-Folge mitgewirkt haben.

Oft ziemlich gut sind die Nachrufe der "FAZ". Wenn Sandra Kegel über den mit nur 60 Jahren verstorbenen Uwe Bohm schreibt, scheint sie "die Konturen des sommersprossigen Jungen aus 'Nordsee ist Mordsee'", den Bohm mit vierzehn unter der Regie seines späteren Adoptivvaters Hark Bohm spielte, noch vor dem innere Auge zu haben. In der längeren Zeitungs-Fassung ruft sie dann noch ein Körperteil vor Augen: den Hintern, der 1987 "nackt und prall auf einem sieben Meter hohen Plakat des Künstlers Gottfried Helnwein über dem Eingang des Hamburger Schauspielhauses" prangte, wozu der dann "25-jährige Bohm ... über seine Schulter blickte", und zwar "rotzig und wild". Da ging es um das von Peter Zadek inszeniertes Rockmusical "Andi". Auf Bohms eigene Augen hebt dagegen Christine Dössel in der "SZ" ab ("Mit seinen schwarzen Knopfaugen stierte er in Weiten und Abgründe, vor denen andere erschrecken"), und schlägt von da auch einen konstruktiven Bogen zu Bohms "Tatort"-Rollen.

Als gebürtiger Bremerhavener ebenfalls von der Nordsee stammte Jürgen Reents. An den aus der Politik, zunächst von den Grünen, nach der politischen Wende 1989/90 zum "Neuen Deutschland" gewechselten Ex-Chefredakteur erinnert das "ND", das aus diesem ja wurde. Da zeigt sich gut, wie die Linke tickte und in Teilen sicher noch tickt ("Er hatte zwar Marx gelesen wie die Ex-DDR-Kollegen, kannte aber andere Zitate als sie"). "Reents war einer der klügsten Menschen aus dem Westen des seit 1990 tatsächlich neuen Deutschland", ruft Jan Feddersen in der "taz" dem "habituellen Hippie" nach.


Altpapierkorb (Me Too, Leistungschutzrecht, Datenkraken-"Big Lake", ARD)

+++ Noch ein Landgerichts-Urteil, zwar im Streit zwischen einem südhessischen Ashram und dem Hessischen Rundfunk, aber ergangen in Hamburg, ist großes Thema der "SZ"-Medienseite (€). Es geht um HR-Produktionen namens "Just Love" (als Podcast noch, teils umgeschnitten, verfügbar), und "Fallstricke in der Berichterstattung über Vorwürfe sexuellen Missbrauchs". +++

+++ Nochmals Meta/Facebook: Die Privatmedien-Verwertungsgesellschaft Corint Media macht das Bundeskartellamt darauf aufmerksam, dass der Plattformkonzern auf ähnliche Leistungsschutzrecht-Ansprüche von Presseverlagen wie die, die er in Deutschland ablehnt, in Frankreich längst eingegangen ist ("FAZ"). +++

+++ Der jüngste "Ökosystem"-Euphemismus des Plattformkapitalismus heißt "Big Lake". Was für Datenkraken sozusagen passt. TM: Google/Alphabet (heise.de). +++

+++ Sollte sich die ARD für kompetente externe Programm-Beratung interessieren, wäre auch Peer Schader (dwdl.de) zu haben. +++

+++ Und "eine der wildesten Geschichten im internationalen TV-Geschäft", in der außer einer internationalen ProSieben-Firma auch die ehemaligen ARD-Enkeltochterfirma Telepool sowie Will Smith, bekannt u.a. aus Berichten über die diesjährige Oscar-Zeremonie, dabei wären, bietet dann noch dwdl.de. +++

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Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.

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