Altpapier vom 29. April 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier am 29. April 2022 Der grenzenlose Marktplatz

29. April 2022, 11:55 Uhr

Hat Elon Musk das mit der Redefreiheit nicht richtig verstanden? Hat er schon kurz nach der Übernahme eine wenige Tage alte Klausel verletzt? Und: Warum es nicht gut ist, sich die Arbeitsbedingungen im Lokalen schön zu reden. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Zehn Gedanken zu Twitter

Der Social-Media-Watchblog schreibt in seinem Newsletter (Zugriff nur mit Abo): "Elon Musk ist der neue Donald Trump: der Typ, über den wir nie mehr als drei Sätze schreiben wollten, der aber seit drei Wochen unser Briefing dominiert." Ganz so schlimm ist es bei uns noch nicht, aber seit Dienstag ist Musk auch im Altpapier jeden Tag vorgekommen. Gestern ging es ausschließlich um ihn und seinen Plan, Twitter zu kaufen, um damit was eigentlich zu machen?

In seinem seinem Debattenbeitrag "Zehn Gedanken zu Twitter und Elon Musk" zitiert der Watchblog Musk mit dem Satz: "Ich interessiere mich nicht im Geringsten für den wirtschaftlichen Aspekt." Das Zitat gehört zu Punkt zwei: "Niemand kann seriös vorhersagen, was Musk mit Twitter vorhat." Dass Musk unterwegs die Lust verliert und doch noch aussteigt, halten die Autoren nicht für so unwahrscheinlich. Im Newsletter heißt es:

"Musk und Twitter haben sich auf eine schnuckelige Storno-Gebühr von einer Milliarde Euro geeinigt. (…) Zur Erinnerung: Musks Vermögen schwankt zwischen 250 und 300 Milliarden Euro. Er hat schon deutlich verrücktere Dinge getan."

An der Börse herrscht offenbar vor allem Angst davor, dass Musk sich von Teilen seiner Tesla-Anteile trennen wird, um die Twitter-Übernahme zu finanzieren. Die Nachrichtenagentur dpa meldet heute Morgen (hier beim Handelsblatt), dass die Sorge nicht ganz unbegründet war. Musk werde sich von Tesla-Aktien im Wert von vier Milliarden Euro trennen.

Dazu macht vielen Elon Musks Verständnis von Redefreiheit weiterhin Sorgen. Der Social-Media-Watchblog schreibt in Punkt drei: "Musks Vorstellungen von einem Markplatz der Ideen sind naiv."

Was waren noch gleich Musks Vorstellungen? Ach ja: Was nicht mit dem Gesetz in Konflikt steht, soll erlaubt sein. Wie auf einem öffentlichen Platz in der Stadt eben. Doch dem steht eine Erfahrung der vergangenen Jahre gegenüber: "Grenzenlose Redefreiheit endet fast immer in grenzenlosem Hass."

Der Social-Media-Watchblog schreibt:

"Belästigungen und Beleidigungen, Pöbeleien und Spam sind oft nicht illegal, aber wenn man sie zulässt, ist das auf Dauer Gift für den Diskurs. Jede Online-Community braucht Regeln und Content-Moderation. Sonst endet sie wie Gab, Parler, Gettr oder Truth Social – und selbst diese vermeintlichen Free-Speech-Plattformen haben schnell Community Standards eingeführt, weil sie merkten, dass es ohne nicht geht."

Ist Twitter wie Starbucks?

Die Medienprofessorin Siva Vaidhyanathan erklärt in einem Beitrag für den Guardian, warum Elon Musk ihrer Meinung nach das mit der Meinungsfreiheit nicht so ganz verstanden hat. So steht es auch in der Überschrift: "Elon Musk versteht die Meinungsfreiheit – oder Twitter – überhaupt nicht."

Musk gehe es um die freie Meinungsäußerung. Aber Twitter sei eben kein Platz in der Stadt, auf dem Menschen frei und ungehindert ihre Meinung sagen. Sie schreibt:

"Only town squares are town squares. They are public for a reason. And they are local. In America, they are supposed to be forums for open, unfettered expression. They have no rules of decorum. They have no interest in maintaining order to keep advertisers happy or their users comfortable. They are exceptional places. And they are non-commercial."

Twitter dagegen sei gleichzeitig ein Werbeunternehmen und ein Forum für Meinungsäußerung. Daher seien die Regeln so angelegt, dass sie sowohl die kommerziellen Interessen als auch die Wünsche der Werbetreibenden berücksichtigen, wie auch die der Menschen, die den Dienst berücksichtigen.

Vaidhyanathan:

"Twitter, like every Starbucks, McDonalds, shopping center, and radio station, has other obligations and interests. Those spaces must maintain order, decorum, cleanliness, and comfort to keep revenue flowing and customers or audiences happy. That’s why the US constitution protects us only from the censorious power of government, not the needs of private entities to restrict expression that might harm their core missions. US law, Musk might be frustrated to learn, not only allows but encourages digital platforms to moderate the content that flows across them."

In der Zwischenzeit ist Elon Musk mit seinem Verständnis von Redefreiheit schon wieder angeeckt, wie unter anderem die FAZ berichtet. Musk attackierte die Twitter-Chefjuristin Vijaya Gadde, dann übernahm seine Troll-Armee und überkübelte Gadde mit Beschimpfungen. Der frühere Twitter-Vorstandschef Dick Costolo schrieb: "Was ist hier los? Sie machen eine Managerin des Unternehmens, das Sie gerade gekauft haben, zur Zielscheibe von Belästigungen und Bedrohungen." Und später: "Mobbing ist keine Führungsstärke." (Übersetzung FAZ)

Interessant ist das, weil die Übernahmevereinbarung zwischen Twitter und Musk "eine etwas ungewöhnliche Klausel" enthält, nach der  Musk "nur über die Transaktion twittern darf, wenn er das Unternehmen und seine Vertreter dabei ‚nicht verunglimpft’", schreibt die FAZ. Hat er dagegen also jetzt verstoßen? An der Stelle vielleicht noch mal der Hinweis auf die andere Klausel mit der Milliarde die fällig wird, wenn das Geschäft doch noch platzt – und auf den Kommentar des Social-Media-Watchblogs: "Er hat schon deutlich verrücktere Dinge getan."

Dramatische Lage im Lokalen?

Vor zwei Wochen ging es im Altpapier um die ernüchternden Erfahrungen, die Sebastian Dalkowski im Lokaljournalismus gemacht hat. Jetzt antwortet Jürgen Overkott in einer Replik, ebenfalls für das DJV-Magazin "Journalist". Überschrift: "Ist die Lage wirklich so dramatisch?" Und wir wissen: Wenn in der Überschrift eine Frage steht, dann lautet die Antwort in den meisten Fällen: Nein. Das ist jedenfalls Overkotts Empfindung.

Objektiv ließe sich die Einschätzung "dramatische Lage" sicherlich rechtfertigen. In der Bildunterschrift steht unter einem Selfie, das Overkott reingereicht hat: "Jürgen Overkott kümmert sich um die Renovierung der Redaktionsräume in Balve." Betreibt er dort vielleicht auch noch eine Paketannahmestelle? Erledigt er nebenbei das Controllling für den Verlag? Verkauft er viellelicht sogar Zeitung? Wir wissen es nicht. Im Text schreibt Overkott:

"Ich bin Alleinredakteur; der Stellenplan war einst deutlich größer. Erscheinungstäglich schrubbe ich 1,8 Seiten. Online geht extra. An manchen Tagen fühlt sich der Job so an, als stünde bei der Tour de France 21-mal Alpe d’Huez an, hintereinander."

Jürgen Overkott beschreibt, wie er aus diesen widrigen Umständen das Beste macht – wie er versucht, Nachteile in einen Vorteil zu verwandeln.

Das ist bewundernswert. Ein Mensch, der seine Aufgabe liebt, der nicht jammert, sondern einfach das macht, was möglich ist. Etwas anderes wird vielen, die unter diesen Bedingungen im Lokalen arbeiten, auch nicht möglich sein, wenn sie trotzdem zufrieden bleiben möchten. Das ist tatsächlich eine Haltung, die in Lokalredaktionen meiner Erfahrung nach weit verbreitet ist.

Das ist einerseits gut, andererseits ist es ein Problem, denn wer sich die Umstände schön redet, wer sagt "Na ja, aber irgendwie bekommen wir es ja doch noch hin", der legitimiert die Umstände damit. Das kann schnell zu dem Gedanken führen: Wenn sich unter diesen Bedingungen doch noch gute Arbeit machen lässt, dann lässt sich ja vielleicht noch ein wenig am Stellenplan drehen. Und wenn der Jürgen nicht, meckert, warum dann die anderen?

Man muss feststellen: Wenn ein Alleinredakteur 1,8 Seiten am Tag "schrubben" muss – und das ist der Alltag von vielen Menschen, die im Lokaljournalismus arbeiten – dann lassen sich die Seiten zwar noch mit Text füllen, gute Ideen und schöne Texte mögen die Widrigkeiten kaschieren. Aber guter Journalismus ist unter diesen Bedingungen nur dann möglich, wenn Menschen ihre Freizeit und ihre Wochenenden opfern. Guter Journalismus braucht Zeit, in der einfach nichts geschrieben oder produziert werden muss. Zeit für Gespräche, die am Ende nicht gleich in einem Text münden. Zeit zum Lesen, um überhaupt zu verstehen, mit was man sich da gerade beschäftigt. Zeit zum Denken.

Wahrscheinlich ist es gesünder, sich mit Umständen, an denen sich wohl nichts ändern lassen wird, abzufinden. Doch die andere Perspektive ist: Verlage, die Menschen unter diesen Umständen arbeiten lassen, beteiligen sich selbst tatkräftig daran, diesen Beruf für junge Menschen unattraktiv zu machen.

Journalistisches Gründungsfieber

Es gibt allerdings Auswege. Nie war es so leicht, ein Journalismus-Unternehmen zu gründen. Michael Meyer berichtet für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" über diesen Trend. Alexandra Borchardt, Honorarprofessorin für Medieninnovation an der TU München, spricht in dem Beitrag über die Abwägung der Vor- und Nachteile einer Anstellung in einem großen Medienhaus. 

"Und da fällt die Bilanz bei vielen zunehmend negativ aus. Also es sind zunehmend weniger finanzielle Spielräume in den Verlagen. Manch einer oder manch eine wird auch nicht so wertgeschätzt mit ihren Ideen. Und ja, in so einem Verlag hat man eben auch immer diese großen bürokratischen Hürden, hierarchischen Hürden, das passiert ganz von selbst. Viele Abstimmungswege und einfach nicht die nötige Agilität."

Agilität. Das ist dann leider auch wieder das – das muss man der Ehrlichkeit halber sagen – was in neu gegründeten Firmen schnell dazu führt, dass Arbeit und Privatleben immer mehr ineinander verlaufen.

An Aufgabenfeldern mangelt im Journalismus jedenfalls nicht. Wo wären Lücken? Alexandra Borchardt:

"Klimajournalismus, alles, was mit Technologie zu tun hat. Und investigative Recherche ist natürlich auch eine Art Fachgebiet, wo man sehr viel Know How reinstecken muss, was sich nicht unbedingt selbst finanziert. Es gibt, wenn man überlegt, eine ganze Menge Lücken."

Zu diesem Lücken würde ich auch das Lokale zählen. Marvin Schade, der mit seinem Medienmagazin "Medieninsider" selbst eine Lücke ausgefüllt hat, berichtet über das Lokalprojekt Karla in Konstanz (€), dessen Gründer Michael Lünstroth unter anderem sagt:

"Es gibt eigentlich keinen hintergründigen Journalismus mehr, der sich intensiv mit Kommunal- und Stadtpolitik befasst. Einfach, weil es im Netz nicht sonderlich gut geklickt wird."

Hier sind wir wieder bei dem Problem mit den 1,8 Seiten, die pro Tag geschrubbt werden müssen. Über die Kommunal- und Stadtpolitik und Stadtpolitik berichten bedeutet: Sitzungen vorbereiten, Unterlagen lesen, Gespräche führen, Sitzungen nachbereiten, offene Fragen klären. Die gängige Praxis ist: Unterlagen überfliegen, Diskussionen in Ratssitzungen in "Er sagt, sie sagt"-Manier abpinnen. Das ist immerhin etwas, bleibt aber weit hinter dem zurück, was möglich wäre und möglich sein sollte. Das Karla-Team aus Konstanz will nun über ein Crowdfunding 80.000 Euro zusammenbekommen, berichtet Schade.


Altpapierkorb (CNN+, Thilo Mischke, Science Media Center, Post-Cookie-Zeitalter, Falschmeldung, Grimme-Online-Award, Mexiko, Gute Nachrichten von Pro Quote)

+++ Bleiben wir bei Neugründungen. Doris Simon berichtet für "@mediasres" über das Bezahlangebot "CNN+", das nun einen Monat nach dem Start schon wieder eingestellt wird. Laut CNBC hatten 10.000 Menschen den Dienst abonniert.

+++ Und noch einmal zu den Bedingungen, unter denen Journalismus gemacht wird. Julia Gundelach hat mit Thilo Mischke für das Magazin W&V-Magazin über Journalismus gesprochen. Auf die Frage, mit welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen er in seiner Arbeit am häufigsten konfrontiert ist, sagt er: "Zeit! Wir brauchen als investigative Journalisten Zeit. Und natürlich auch Geld."

+++ Twitter meldet 14 Millionen neue Konten und damit den stärksten Nutzerzuwachs seit Jahren, berichtet unter anderem dpa (hier bei Horizont). Mit dem bevorstehenden Eigentümerwechsel hat das noch nichts zu tun. Es sind Zahlen aus dem ersten Quartal. Bei Facebook ist immer noch Puls feststellbar. Die Nutzerzahlen seien im ersten Quartal wieder gestiegen, meldet der Spiegel.

+++ Donald Trumps anfänglicher Rohrkrepierer "Truth Social" scheint nun doch etwas Fahrt aufzunehmen. Das Netzwerk sei nach einem miserablen Start plötzlich die meistgeladene App im Apple Store, schreibt die "Zapp"-Redaktion bei Twitter. Blöde Situation für Donald Trump: Wenn er nach Elon Musks Übernehmen doch wieder zurückkehr, tut er seinem eigenen Netzwerk damit keinen Gefallen. Laut dem Handelsblatt will er nicht zurück. Aber wie wir wissen: Das kann sich minütlich ändern.

+++ Der Journalist Volker Stollorz hat das "Science Media Center" gegründet, das eine Lücke zwischen Journalismus und Wissenschaft ausfüllen will. Yannick Ramsel berichtet für die "Zeit" (€).

+++ Torsten Kleinz schreibt für Übermedien (€) über fehlende Strategien für das "Post-Cookie-Zeitalter".

+++ In dieser Woche meldeten viele Medien den Tod des Spielerberaters Mino Raiolo. Die Meldung war falsch. Frederik von Castell hat sich für Übermedien (€) mit der Frage beschäftigt, wie es dazu kam.

+++ Die Nominierungen für den Grimme-Online-Award stehen fest, berichtet unter anderen die FAZ (€). Nominiert sind viele Podcasts. Altpapier-Kollege Christian Bartels ist Teil der Jury.

+++ Anna Mundt und Lisa Maria Hagen haben für das NDR-Medienmagazin "Zapp" mit Angehörigen von Journalistinnen und Journalisten gesprochen, die in Mexiko ermordet worden sind. Allein in diesem Jahr waren es acht.

+++ Und zum Schluss noch eine gute Nachricht. Die zweite Pro-Quote-Studie zur Geschlechtergerechtigkeit in den öffentlich-rechtlichen Sendern ist erschienen, berichtet Jörg Häntzschel auf der SZ-Medienseite: "An der Spitze des Rankings stehen danach der RBB mit 57,4 Prozent und die Deutsche Welle mit 50,8 Prozent. Nachdem der durchschnittliche Frauenmachtanteil aller öffentlichen Sender 2018 noch bei 37,7 Prozent lag, sind es mit 43,4 Prozent jetzt deutlich mehr."

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.

Neues Altpapier gibt es am Montag.

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