Altpapier vom 3. Mai 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 3. Mai 2022 Schneller schlechter

03. Mai 2022, 10:13 Uhr

Auf der neu erschienenen Weltkarte der Pressefreiheit sieht es so dunkelrot wie noch nie aus. Die Datenschutzbehörde aus dem medienfreiheitlich vorbildlichen Irland bekam einen wichtigen Negativ-Preis. Außerdem: Wem die Domains ard.social und zdf.social gerade gehören. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Die neue Rangliste der Pressefreiheit

Irgendwas ist immer, auch täglich der Tag mindestens einer, meist mehrerer Kuriositäten. Inzwischen eingependelt hat sich der 3. Mai, außer als u.a. "Paranormal Day", auch als Tag der Pressefreiheit. Diverse Preisverleihungen zeigen das. So geht der Freedom of Speech Award der Deutschen Welle nun an die ukrainischen Foto- bzw. Videojournalisten Evgeniy Maloletka und Mstyslav Chernov, die "als letzte ... aus der von der russischen Armee inzwischen fast vollständig eroberten Stadt Mariupol" berichtet haben.

Überdies verschoben die Reporter ohne Grenzen die Veröffentlichung ihrer jährlichen Rangliste der Pressefreiheit, die zuletzt immer im April erfolgte, in den Mai. Seit heute morgen um 6.00 Uhr ist sie freigeschaltet.

Beim Blick auf die Weltkarte zeigt sich die neue Farbe grün, die für "Gute Lage" steht. Wo es grün wird, wenn man genau hinsieht: nördlich von Flensburg, Niebüll und Sylt. Die skandinavischen Länder, sofern man Dänemark hinzuzählt, dazu an weiteren Rändern Europas, Estland, Portugal und Irland leuchten pressefreiheitsmäßig grün. (Wobei schon mal Erwähnung verdient, dass eine wichtige, leider europaweit wirksame Behörde Irlands gerade ebenfalls einen Preis bekam, um den es weiter unten gehen wird).

Der Rest Mittel- und Westeuropas ist ziemlich gelb eingefärbt, was für "zufriedenstellend" steht. Das gilt auch für Deutschland, mit der der ausführliche deutsche Kommentar der ROG/RSF natürlich beginnt. Wegen "so viel Gewalt gegen Medienschaffende wie noch nie" hat Deutschland sich leicht, um drei Plätze, verschlechtert und steht nun auf Rang 16:

"Für diese Entwicklung sind drei Gründe zentral: eine Gesetzgebung, die Journalistinnen und Journalisten sowie ihre Quellen gefährdet, abnehmende Medienvielfalt sowie allen voran Gewalt bei Demonstrationen. Die Zahl der gewaltsamen Angriffe lag mit 80 von RSF verifizierten Fällen so hoch wie noch nie seit Beginn der Dokumentation im Jahr 2013. Bereits im Vorjahr war mit 65 Fällen ein Negativrekord erreicht worden. ..."

Deutlich präsenter als die wenigen Fleckchen grün (deren mit Abstand größter, Grönland, nicht als einer der 180 Staaten oder wegen schmelzenden Eises, sondern als Teil Dänemarks so gefärbt ist), erscheint auf der Weltkarte die schlechteste, neuerdings dunkelrot gefärbte Kategorie "sehr ernste Lage" – einerseits weil zu dieser Kategorie mehr Länder denn je gehören, nämlich 28, andererseits wegen der Größe solcher Länder, die schon länger zu den ausgewiesenen Feinden der Medienfreiheit zählen. Auch wenn sich einer neuen, "der komplexen Medienwirklichkeit angepassten" Methodik wegen Platzierungen "nur sehr bedingt mit denen der Vorjahre vergleichen" ließen, haben ganz unten Eritrea und Nordkorea nur miteinander die Plätze getauscht. Das riesengroße China auf Platz 175 rückte rein rechnerisch sogar um zwei Plätze nach oben – nicht, weil sich dort irgendetwas verbesserte, sondern weil sich die Freiheits-Lage in Myanmar und im Iran noch schneller verschlechterte, also beide asiatischen Staaten weiter nach unten rückten.

Da die Liste nicht monatsaktuell gestaltet ist, sondern im Gegenteil das komplette abgeschlossene Vorjahr beleuchten soll, hat sich das kriegführende Russland, in dem "seit dem groß angelegten Angriff auf die Ukraine ... praktisch keine Pressefreiheit mehr" besteht, bloß auf Platz 155 verschlechtert, wo es unmittelbar hinter zwei Nachbarstaaten, Belarus und Aserbeidschan, steht.

Lichtblick Liechtenstein? Absteiger Großbritannien

Auch Aufmerksamkeit verdienen die Entwicklungen innerhalb Europas im engeren Sinn. Die Niederlande fielen wegen des nicht politisch, sondern kriminell motivierten Mordes am Investigativjournalisten Peter de Vries aus den Top Ten (in die übrigens Liechtenstein vorrückte und damit sozusagen die Fahne der deutschen Sprache hochhält). Schlechtestplatziertes EU-Mitglied ist nicht mehr Bulgarien, sondern Griechenland, das auf Platz 108 zwei Plätze hinter der Ukraine rangiert, in der die Medienfreiheits-Lage – wie gesagt vor dem russischen Angriffskrieg – auch nicht glänzte. Aus den Top Ten prominent herausgefallen ist außerdem ein traditionsreicher, aber zweifelhafter Rechtsstaat: Großbritannien fiel auf Platz 24.

Worauf wir hier anspielen, ist nicht etwa das Urteil gegen einen deutschen ehemaligen Tennisspieler und Mediendarling, sondern ein finsterer Fall, in dem sich seit Jahren nichts bewegt und, wie ausdrücklich zu befürchten steht, über Jahrhunderte wenig bewegen soll. Julian Assange drohen im Anschluss an seine Folterhaft in London 175 Jahre in US-amerikanischen Gefängnissen. "Warum interessiert sein Schicksal so wenige Medien?", kommentierte gerade Julia Encke in der "FAS" und zitierte dabei Assanges Anwältin Jennifer Robinson, die zur "Berliner Zeitung" sagte: "Ich kann nicht verstehen, warum viele Medien nicht erkennen, dass es um sie geht und dass Assange nur der Anfang ist".

Immerhin, dem Eindruck, viele Medien erkennten nicht, dass Assange nur der Anfang ist, wirkt heute noch einer entgegen. Günter Wallraff ist's in der "taz" (bzw. gedruckt einer Beilage der taz Panter Stiftung zum heutigen Pressefreiheits-Tag). Wallraff rührte zuletzt im Februar (Altpapier) die Trommel für Assange. Das heutige Interview macht u.a. darauf aufmerksam, dass Außenministerin Baerbocks Außenpolitik allenfalls relativ wertegeleitet ist. Außerdem erneuert Wallraff seinen Vorschlag, dem tief im Osten eingekerkerten Alexei Navalny und den mitten im Westen eingekerkerten Assange

"gemeinsam den Friedensnobelpreis zu verleihen. Ich halte sie für zentrale Pole in ihrem jeweiligen System, an denen sich zeigt, wie diktatorische Regime, aber auch formale Demokratien wie die USA zurückschlagen, wenn unangenehme Wahrheiten offengelegt werden. Das wäre ein wirkmächtiges politisches Signal."

Vergleichbares zu vergleichen, auch wenn es sich unter unterschiedlichen Vorzeichen ereignet – auch das muss zur unteilbaren Medienfreiheit gehören. Gerade auch dafür sind die Rangliste sowie die detaillierten Erläuterungen der Reporter ohne Grenzen wertvoll. (Und dass Medienfreiheit vieles aushalten können muss und auch kann, glossierte hier nebenan gerade auch Steffen Grimberg unter der Überschrift "Die Freiheit der Echsen" im Rahmen des frisch erschienenen MDR-Schwerpunkts zum selben Thema...)

Ein Negativpreis aus Bielefeld

Viele Preise wurden gerade vergeben. Zum Beispiel, ebenfalls im Zeichen der Medienfreiheit, in Rheinland-Pfalz' Berliner Vertretung der ganz neue Roman-Brodmann-Preis für Dokumentarfilme (ausführlicher Veranstaltungsbericht bei mmm.verdi.de), zum Beispiel am Freitag in Bielefeld. Da wurde eine gute Preisträger-Mischung ausgezeichnet: die Bundesdruckerei GmbH sowie bei Endkunden beliebte Marken wie der Bezahldienstleister Klarna und der Essenslieferdienst Lieferando. Sie erhielten die diesjährigen BigBrotherAwards von Digitalcourage e. V..

Da handelt sich also um Negativpreise. Klarna aus (dem medienfreiheitlich ja vorbildlichen) Schweden bekam einen, weil "sie alles unternehmen, um möglichst tief in die Privatssphäre ihrer Kund.innen einzudringen", wie Negativ-Laudator padeluun es formulierte, Lieferando "für die unzulässige Totalkontrolle ihrer beschäftigten 'Rider'" und die Bundesdruckerei "für die unsinnige Verwendung und Beförderung von Blockchain-Technik, welche nicht nur energiefressend ist, sondern auch Konsequenzen für den Datenschutz haben kann." Dass er knapp und präzise formuliert, zählt zu den Vorzügen des Digitalcourage-Vereins (der einst ja FoeBuD hieß).

An dieser Stelle noch mehr Beachtung verdient der "Lebenswerk"-Award für die irische Data Protection Commission "für ihre umfassende Sabotage des europäischen Datenschutzrechts". Dass Plattformkonzerne aus Kalifornien, aus China aber auch, nämlich

"Google, Apple, Facebook und WhatsApp, Microsoft und LinkedIn, Adobe, Tiktok, Airbnb, Tinder, Twitter, Dropbox, Yahoo und so weiter"

nach eigenem Belieben (oder auch gemäß Vorgaben ihrer nationalen Regierungen) EU-weit Nutzerdaten tracken und verknüpfen, wo immer sie wollen weiter speichern und zu minimalen, ebenfalls EU-weit gültigen Steuersätzen zu Geschäften aller Art weiterverwerten dürfen, verdanken sie Irlands Datenschutzbehörde. Es lohnt sich, den ausführlichen Begründungstext zu lesen, der dann mit vier "Was ist zu tun?"-Ideen endet.

Fundierte Kritik an, neue Ideen für ARD & ZDF

"Als überzeugte Anhängerin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, ÖRR, der uns von den Briten nach der Zeit des Nationalsozialismus und der gleichgeschalteten Medien dankenswerterweise übereignet wurde, bin ich davon überzeugt: Nie war er so wichtig wie heute."

Hat da Bundespräsident Steinmeier ein Grußwort zur Konferenz der Gremienvorsitzenden formuliert? Nein, auf diesen Satz folgt ein "aber", und das ganze Interview ist lesenswert. Sabine Rollberg, die in den vergangenen Jahren recht regelmäßig im Altpapier erwähnte, dabei schon länger ehemalige Redakteurin aus goldeneren Zeiten des WDR gab es der sehr linken Tageszeitung "Junge Welt" (worauf Heiko Hilker in seinem Newsletter aufmerksam machte). Lesenswert ist es, weil Rollberg viele Probleme öffentlich-rechtlicher Medien kenntnisreich und fundiert anspricht.

Es geht zum Beispiel um den üppigen Einsatz von Untermalungsmuzak im Fernsehen ("Die Sender wollen unbedingt Emotion erzeugen, da bauen sie offenbar eher auf die Musik als auf die Bilder ..."), sowie um die Aufsichtsgremien, die als einzige befugt wären, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten zu kontrollieren:

"Den Gremien, deren Aufgabe es ist, die Sender zu überwachen, fehlt der Einblick, die Innensicht. Offiziell dürfen sie sich gar nicht mit Redaktionen austauschen. Gremien müssten professionalisiert werden, sie sollten instandgesetzt werden, um der Geschäftsleitung Paroli zu bieten. Vielen Gremien genügt es, in der Nähe der Medienprominenz zu sein."

Und um den europäischen Kultursender Arte, der gerade zu seinem 30-jährigen Jubiläum ansetzt, in der deutschen Sender-Praxis aber auch zu viel Überdruss beiträgt, geht es. Rollberg sagt:

"In jeder Haushaltsgebühr sind ja jeweils circa 85 Cent für Arte enthalten. Das ergibt eine beachtliche Summe, für die Arte-Programm von ARD und ZDF geschaffen werden soll. ARD und ZDF betrachten diese Summe aber als stilles Zubrot für sich, denn sie produzieren damit höchst selten besonders europäische oder avantgardistische Programme für Arte. Im Gegenteil, sie produzieren mit dem Arte-Geld für ihr eigenes Programm und lassen es nur vorher von Arte ausstrahlen. So hat man zunehmend den Eindruck, überall dasselbe zu sehen."

Wobei Rollberg keineswegs alle Öffentlich-Rechtlichen-Kritik teilt, sondern Chancen für schnelle Verbesserungen sieht, wenn in den Anstalten "ein freiheitliches Denken Einzug hält".

"Setzt euch für freie, nicht von Algorithmen dominierte Berichterstattung ein. Aufmerksamkeit ist heute eine harte Währung und man sollte eine gute Berichterstattung nicht zugunsten von Aufmerksamkeit und dem Ziel, sich nicht angreifbar zu machen, aufgeben. Ehrlichkeit ist, was zählt."

Da spricht nun nicht mehr Rollberg, sondern Leah, eine nicht mit Nachnamen genannte Co-Administratorin eines Mastodon-Servers im Fediverse. Was das nun wieder ist? Leicht vereinfacht gesagt: Soziale Medien, die diese Bezeichnung verdienen könnten und nicht kalifornischen Milliardären staatsnahen chinesischen Konzernen gehören. Mehr erklärt bei netzpolitik.org ein Hoffnungsträger aus den Anstalten-Aufsichtsgremien: Leonhard Dobusch, der noch im Fernsehrat, ab Sommer im kleineren, wichtigeren Verwaltungsrat des ZDF sitzt und seine "Neues aus dem Fernsehrat"-Reihe mit einem Interview mit zwei Fediverse-Mitmachern fortsetzt. Unter anderem bietet der mitinterviewte Admin Daniel ARD und ZDF an, die Domains ard.social oder zdf.social zu übernehmen (die erst mal er sich reservierte, bevor es kommerzielle Unternehmen tun).

Besser als Facebooks Instagram, Tiktok oder Googles Youtube strategie- bis besinnungslos um immer neue rundfunkbeitrags-finanzierte Extra-Inhalte zu bereichern, wäre das wohl. Schon weil, grundsätzlich gesehen, öffentlich-rechtlicher Rundfunk nie so wichtig wie heute war.


Altpapierkorb ("übervereinfachte Realitätswahrnehmungen", Facebooks Nutzerdaten, "Versammlungsfreiheitsgesetz", Journalismus-Politik-Symbiose)

+++ "Selbst wenn es mal um Afrika geht, geht es nur um uns", hieß einer der Altpapier-Jahresrückblicke 2021, der von Klaus Raab. Das bestätigt sozusagen eine neue, von der Otto-Brenner-Stiftung aus dem aktuellen Anlass einer bevorstehenden Bundestagsdebatte in Kurzform vorab publizierte Studie über "Die Sahel-Einsätze der Bundeswehr im öffentlichen Diskurs". Lutz Mükke, Medienjournalist und Afrikanist, konstatiert darin u.a., dass über den Bundeswehreinsatz in Mali Korrespondenten "aus Kapstadt, Paris, Berlin und Rabat, also 2400 bis 6000 km entfernt von Bamako/Mali", berichten und  "übervereinfachte Realitätswahrnehmungen".

 +++ Wären Irlands Datenschützer von ihren theoretischen Aufgaben nicht plangemäß völlig überfordert, müssten sie vice.com-Veröffentlichungen nachgehen, denen zufolge "Facebooks Datenschutzteam" gar nicht nachvollziehen kann, wohin überall Facebook-Nutzer-Daten abgesaugt werden (netzpolitik.org).

+++ "Wieso schafft Facebook noch einen Monat nach den Gräueltaten von Butscha nicht, wozu es nach einer Schießerei in Amerika lediglich Stunden braucht?", fragt die "FAZ"-Medienseite heute.

+++ Einen der "weltweit ... letzten unabhängigen russischsprachigen Kanäle", den in Berlin ansässigen Pay-TV-Sender ostwest.tv, stellt der "Tagesspiegel" vor.

+++ Was der Pressefreiheit in Deutschland auch nicht hilft: das neue "Versammlungsfreiheitsgesetz" der rot-rot-grünen Berliner Landesregierung, dem gemäß Versammlungsleiter nach eigenem Belieben Pressevertreter von Demonstrationen ausschließen und polizeilich entfernen lassen können. Das bei einer propalästinensischen Demonstration mit antisemitischen Vorfällen aufgetauchte, kürzlich im Altpapierkorb angesprochene Problem vertieften der dort erwähnte Jasper Prigge (mmm.verdi.de) und Andrej Reisin für uebermedien.de.

+++ Björn Böhning, einst einer der wichtigeren SPD-Medienpolitiker, ist jetzt Chef des deutschen Filmproduzenten-Lobbyverbands und wird auf der "SZ"-Medienseite interviewt (€).

+++ Und dass die "Symbiose von Journalismus und Politik im Washingtoner Ökosystem" der Medien-Glaubwürdigkeit in den USA nicht gut tut, beschreibt Konrad Ege bei "epd medien".

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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