Das Altpapier am 15. Juni 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 15. Juni 2022 Buch des Jahres

15. Juni 2022, 14:21 Uhr

Was eint "Bild", "B.Z." und Beatrix von Storch? Hat Hendrik Streeck eine eigenartige Vorstellung von der Welt des Journalismus? Wie verhält sich die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien in Sachen PEN I/PEN II? Ein Altpapier von René Martens.

Springer und ein "Bomben-Buch"

Die britische "Financial Times" wählte "How to blow up a pipeline" von Andreas Malm 2021 zu einem der Bücher des Jahres im Bereich "Klima und Umwelt", die "New York Times" empfahl es in einer Sammelbesprechung von drei Büchern, die "neue Wege bieten, über Umweltkatastrophen nachzudenken". Im Altpapier fand Malms Buch auch schon mal Erwähnung.

Es bietet sich an, mit diesen Worten ein bisschen auszuholen, denn "How to blow up a pipeline" (deutscher Titel: "Wie man eine Pipeline in die Luft jagt") ist in Deutschland gerade im, äh, Gespräch. Ausgangspunkt ist eine beschwingte, von Ausflugsstimmung geprägte Insta-Story Luisa Neubauers, entstanden am Rande des diesjährigen Copenhagen Democracy Summit (eingebettet beim "Volksverpetzer"). Im Zusammenhang mit der East African Crude Oil Pipeline sagt sie dort, Bezug nehmend auf Malm, lachend: "Right now, we are planning how to blow up (…)". Im Untertitel findet sich dann der vervollständigte Satz. Neubauer macht aber sogleich klar, dass es darum gehe, den Bau dieses Projekts zu stoppen. Die Fertigstellung ist für 2025 geplant.

Oder, um es mit dem erwähnten "Volksverpetzer" zu sagen:

"Da es die Pipeline nicht gibt, kann man sie auch buchstäblich unmöglich wörtlich physisch ‚in die Luft jagen‘. Offensichtlich. Also hat Luisa Neubauer offensichtlich nicht das gemeint, oder? Sie stellt im Satz danach noch mal klar, dass es um die Verhinderung einer GEPLANTEN Pipeline geht."

"Ein Aufschrei" (Julia Trippo, ND) kam dennoch von "Bild", Beatrix von Storch (und deren Quatsch-Multiplikatoren bei "Die Welt") sowie natürlich den "üblichen bekannten Hobbylosen auf Twitter" (ND again). Heute sprechen "Bild" und die Schwester "B.Z." von einem "Bomben-Buch" - was man theoretisch als superlatives Lob interpretieren könnte, hier aber natürlich ganz anders gemeint ist. Gleich drei Supernasen wollen den Eindruck erwecken, das Buch liefere eine Art Bombenbau-Anleitung. Die erwähnte FT hatte in ihrem Bestenlisten-Text allerdings betont:

"This book does not include a step-by-step guide to blowing up a pipeline. Nor is it a call for all-out eco-terrorism."

Und auch die New York Times schrieb in ihrer Besprechung, "dass es hier keine tatsächlichen Anweisungen gibt, wie man etwas in die Luft jagt".

Was Malm aber durchaus tut: Er stellt in Frage, "ob der weitreichende Pazifismus" der Klima-Bewegung "zielführend" sei, wie es der "Volksverpetzer" zusammenfasst. Beziehungsweise: "Er ist ein bisschen verächtlich gegenüber denen, die strategischen Pazifismus als Lösung anbieten" ("New York Times"). Und Leute, die sich "verächtlich" über Pazifismus äußern, sind derzeit ja nicht in der Minderheit (aber vielleicht schweife ich hier auch ab).

Auf der Website von Malms deutschem Verlag Matthes & Seitz ist zu seinem Buch derzeit vermerkt: "vergriffen, wird nachgedruckt". Angesichts des von Springers Leuten verursachten Wirbels sollte der Verlag vielleicht versuchen, die Nachdruckauflage zu erhöhen.

Gut, dass dieser Entwurf geleakt wurde

Journalisten profitieren oft davon, dass jemand Entwürfe von Gesetzen, Gesetzesnovellierungen, Richtlinien u.ä. an sie "durchsteckt". Letzteres tun in der Regel Beteiligte, die ein Interesse daran haben, dass ein Entwurf nicht in der vorliegenden Form umgesetzt wird - und sich erhoffen, dass eine öffentliche Vorab-Kritik Verbesserungen in ihrem Sinne bewirkt. Insofern war es eher ein alltäglicher Vorgang, als in der vergangenen Woche Christina Berndt in der "Süddeutschen Zeitung" auf den Entwurf einer Stellungnahme einging, den der "Sachverständigenausschuss nach § 5 Absatz 9 Infektionsschutzgesetz" Ende Juni der Bundesregierung vorlegen soll. Berndts Kritik in kürzester Kürze (also ohne auf die Details einzugehen):

"Literaturstellen werden im Bericht (…) mitunter falsch wiedergegeben … Zudem hinken die Vergleiche (…) Manche Themen werden geradezu frappierend einseitig beleuchtet."

Der notorische Top-Checker Hendrik Streeck, der selbst im Sachverständigenausschuss sitzt, kritisierte daraufhin:

"Geleakte Arbeitsentwürfe durch anonyme Kritiker kritisieren zu lassen – so funktioniert Politik, aber dass Wissenschaftsjournalismus bei der @SZ so agiert, ist immer noch erstaunlich für mich."

Das wiederum greift nun Marcus Anhäuser bei wissenschaftskommunikation.de auf:

"Dass Streeck 'erstaunt' ist (um nicht verärgert schreiben zu müssen), dass Wissenschaftsjournalismus sich der Methoden bedient, die er nur in der 'Politik' verortet ('geleakte Arbeitspapiere', 'anonyme Kritiker', zeugt von einer eigenartigen Vorstellung von der Welt des Journalismus. Als wäre der Wissenschaftsjournalismus irgendwie abgetrennt vom System des Journalismus."

Vor allem:

"Es geht um einen Report aus einem von der Politik eingesetzten Gremium, aus dem unmittelbar politische Entscheidungen folgen werden, mit Konsequenzen für uns alle im Herbst und Winter. Wenn dann aber droht, dass ein solch wichtiges Organ wie der Sachverständigenausschuss zur Beurteilung der Coronamaßnahmen keine gute Arbeit abliefern wird, dann ist das ganz sicher relevant genug, dass Medien das frühzeitig thematisieren müssen. Und nicht erst, wenn der Bericht zusammengestellt und veröffentlicht ist."

Und angesichts dessen, dass man sich derzeit nicht einmal ausmalen muss, was "im Herbst und Winter" sein wird, weil die aktuelle Welle beängstigend genug ist - zumal es "die erste ohne Schutzmaßnahmen" ist, wie die Virologin Jana Schroeder gestern bei Markus Lanz konstatierte (zitiert nach n-tv.de) -, ist der Leak vielleicht erst recht wichtig.

Populistisches Presse-Narrativ?

Die Auseinandersetzungen im "alten" PEN Deutschland, die im Rückzug des Kurzzeit-Präsidenten Deniz Yücel gipfelten, waren oft Thema im Altpapier (etwa hier und hier), der Ende der vergangenen Woche zusätzlich gegründete PEN Berlin, wo der "Welt"-Autor Yücel nun als eine Hälfte einer "Board"-Doppelspitze fungiert, bisher nicht. Das FAZ-Feuilleton widmet sich dem PEN Berlin bzw. dem "PEN Yücel" (Andreas Platthaus am Freitag) bzw. der Tatsache, dass es in Deutschland nun PEN I und PEN II gibt, mit einer gewissen, sagen wir mal: Ausdauer. Die Schriftstellerin Petra Morsbach (Mitglied im PEN I) schrieb in der FAZ-Ausgabe von Montag (Blendle-Link):

"Ist das (..) in der Presse verbreitete Narrativ vom 'aufrichtigen Präsidenten' Yücel, der den 'Kleingeistern' des alten PEN zum Opfer fiel, nicht populistisch? Yücel ist ein charismatischer und eloquenter Mann, aber 'aufrichtig'? Was ist mit seiner Kampfrhetorik und der Neigung, Gegner zu beleidigen? Ist per se ein 'Kleingeist', wer diesen Stil missbilligt? Jana Hensel schließt in der 'Zeit' aus der unbeirrten Loyalität seiner vormaligen Präsidiumskollegen, dass Yücel integer sei. Aber starke Gefolgschaft finden Charismatiker schon durch Intensität und schlichte Parolen. Die Frage ist, wie sie mit Kritikern umgehen. Yücel wollte um­standslos seine Widersacher aus dem Prä­sidium entfernen; auch das ist bei Heilsbringern ein bekanntes Muster."

Und heute schreibt Morsbachs Kollege Bernhard Schlink (Mitgliedschaft wird nicht erwähnt, wahrscheinlich PEN I) in einem ebenfalls kostenpflichtigen Text:

"Sicherlich werden sich der PEN und die Berliner Gründung um die staatliche Förderung der Hilfe für verfolgte Autoren streiten – soll der Staat danach entscheiden, in welchem Verein bekanntere Namen versammelt oder höhere Auflagen erreicht oder mehr Hilfsarbeit geleistet wird?"

Es geht um rund 690.000 Euro pro Jahr, die das PEN I derzeit von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) für sein "Writers in Exile"-Programm erhält. Wobei: "Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedrohung weltweit soll diese Unterstützung 2022 noch ausgebaut werden, indem das Programm um weitere drei Stipendienplätze aufgestockt wird." Das schrieb mir die Pressestelle der BKM am 17. Mai auf Anfrage.

Eine Antwort darauf, wie sich "der Staat" bzw. die BKM in der von Schlink beschriebenen Frage verhalten könnte, habe ich vor rund einem Monat in einem "epd medien"-Tagebuch angedeutet.


Altpapierkorb ("Digital News Report 2022", Rundfunkbeitrags-Zahlungsmoral, Literatur-Newsletter)

+++ Der diesjährige "Digital News Report" des Reuters Institute for the study of journalism kam heute Morgen hier rein gerauscht, aber da er 164 Seiten umfasst, habe ich noch keinen intensiven Blick darauf werfen können. In den "Key findings", die Autorinnen und Autoren der Studie in einem Thread präsentieren, erwähnen diese den wachsenden Hang zur Nachrichtenvermeidung: "38% in our global sample say they often or sometimes avoid the news (up from 29% in 2017). The number of avoiders has doubled in Brazil (27% to 54%) and Great Britain (24% to 46%) over five years."

+++ Andere Zahlen, bessere Zahlen: Über eine steigende "Zahlungsmoral" freut sich jedenfalls Bernd Roßkopf, "Bereichsleiter Finanzen und Services" beim Beitragsservice von ARD, ZDF und Deutschlandradio. "Die Zahl der Erinnerungen, Mahnungen und Vollstreckungsverfahren ist im Corona-Krisenjahr 2021 nicht etwa gestiegen, sondern 'deutlich rückläufig', genauer gesagt: um 11,5 Prozent gegenüber 2020 gesunken." Das schreibt der "Tagesspiegel", der bei der Präsentation des Beitragsservice-Jahresberichts in Köln dabei war.

+++ Welche Literatur-Newsletter aus welchen Gründen zu empfehlen sind und inwiefern ein Abonnement eines solches Newsletters eine "parasoziale Interaktion" erzeugt, erzählt Stefan Mesch in der Sendung "Lesart" (Deutschlandfunk Kultur).

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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