Das Altpapier am 16. Juni 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 16. Juni 2022 Wir hatten doch schon so oft alles gesehen

16. Juni 2022, 10:30 Uhr

"Big Brother", "DSDS" und "Promis unter Palmen" waren nicht das Ende der Fernsehunterhaltungsgeschichte: Netflix besteigt "mit einem äußerst robusten Zynismus" das nächste Level. Und: Die Nachrichtennutzung mag stabil bleiben – aber das Interesse daran sinkt. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Die nächste zynischste Show ever

Nachdem Zlatko in den "Big Brother" gezogen waren, dachten wir, wir hätten alles gesehen. Als Dieter Bohlen junge Menschen quälte, dachten wir, wir hätten nun hoffentlich alles gesehen. Als sich erwachsene Männer Tennisbälle in den Schritt schießen ließen, dachten wir, wir hätten alles gesehen. Als Richter Schill als Kandidat bei Sat.1 herumturnte, dachten wir, wir hätten nun bitte wirklich alles gesehen. Aber nach dem, was jetzt kommt, ist es so weit: Die Fernsehgeschichte ist zu Ende.

Ganz sicher. Jedenfalls so gut wie.

Okay, "so gut wie vorbei" vielleicht nicht wirklich im Sinn von: Danach kann nicht mehr viel kommen. Aber doch im Sinn von: Was sollte das denn bitte sein?

Denn das steht an:

"Yesterday Netflix announced what it billed as the biggest reality show in the history of television: (…) a 10-part gameshow where 456 competitors from around the world will gather together for a chance to win $4.56m",

schreibt der britische Guardian. Und natürlich schreibt das nicht nur der, sondern auch eine Menge deutschsprachige Medien schreiben das. Eine englischsprachige Zeitung zu zitieren, ist aber cooler, weil das die Sache größer aussehen lässt und die Spannung ins schier Unerträgliche steigert. Hier nun der Titel dieser laut Netflix größten Reality-Show der Fernsehgeschichte: "Squid Game: The Challenge".

Ja wirklich, "Squid Game", die weltweit sehr erfolgreiche südkoreanische Netflix-Serie über eine Spielshow soll als Spielshow umgesetzt werden. Das hat überhaupt nichts mit den sinkenden Abozahlen von Netflix zu tun, also "nichts" eher so im Sinn von "alles". Aber egal, die Idee ist jedenfalls MEGA… Wobei – irgendwas kann hier eigentlich nicht ganz stimmen: War es in der Serie "Squid Game" nicht so, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf das hohe Preisgeld spekulieren, dann aber feststellen, dass alle, die nicht gewinnen, dummerweise auch nicht lebend aus der Sache rauskommen?

Wie gut, dass es die Deutsche Presse-Agentur gibt, die holt uns wieder runter, auch sprachlich: "Ganz so riskant wie die Spiele in der Serie soll die Game-Show aber nicht ablaufen", schreibt sie. Nicht ganz so riskant. Das heißt also: fast so riskant! Gut, "fast" hier im Sinn von: völlig ungefährlich für Leib und Leben. ("Vorsorglich betont Netflix schon mal, dass alle Mitspielerinnen und Mitspieler 'unversehrt' bleiben werden", heißt es bei DWDL.de.) Aber ansonsten dürfte in der Spielshow wirklich alles ungefähr eins zu eins sein wie in der Serie. Und so gehen die Medienjournalisten dieses Planeten angesichts der Ankündigung des neuen Höhepunkts der Fernsehgeschichte ehrfurchtsvoll auf die Knie. Also, "auf die Knie" eher im Sinn von: Sie gehen gebückt. Aber immerhin.

Wobei – na gut, die eine oder andere Sinnfrage wird hier und da möglicherweise schon aufgeworfen. Etwa von Joachim Huber im "Tagesspiegel" ("Pervers, oder?"). Oder von Oliver Kaever, der die Netflix-Idee beim "Spiegel" online insgesamt sogar nur mittelgut findet. Mittelgut im Sinn von richtig idiotisch:

"Muss man wirklich noch einmal betonen, dass 'Squid Game' vor allem ein äußerst beängstigender, stilistisch brillant überspannter Kommentar auf eine Form des Kapitalismus ist, der Menschen als gesichtsloses Vieh betrachtet, das gemolken werden muss? (…) (D)ie ausgedachte Spielshow, die in der Serie als Vehikel für eine Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen dient, aus ihrem künstlerischen Kontext zu lösen und Realität werden zu lassen, zeugt von einem äußerst robusten Zynismus",

schreibt er und ahnt schon, dass das Ende der Fernsehgeschichte damit noch nicht erreicht ist: "Dass den Teilnehmern zumindest körperlich kein Haar gekrümmt wird – das muss ja nicht so bleiben, oder?"

Das Nachrichteninteresse nimmt ab

Eine Meldung, die am gestrigen Mittwoch ebenfalls die Runde machte, ist die, dass zwar nicht die Nutzung, aber doch das Interesse an Nachrichten in Deutschland sinke. Das geht aus dem "Reuters Institute Digital News Report" hervor. "57 Prozent gaben demnach hierzulande an, äußerst oder sehr interessiert an Nachrichten zu sein. Im vergangenen Report 2021 waren es noch 67 Prozent. Auch in den Vorjahren war der Anteil höher als jetzt. Rückgänge seien in allen Altersgruppen zu verzeichnen", heißt es via "dpa" bei faz.net.

"In der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen interessieren sich nur ein knappes Drittel (31 Prozent) für Nachrichten, ein Minus um sage und schreibe 19 Prozentpunkte. Zwei Drittel der Befragten (65 Prozent) verfolgen sogar eine Vogel-Strauß-Taktik und versuchen zumindest gelegentlich, Nachrichten aus dem Weg zu gehen, zehn Prozent tun dies sogar regelmäßig."

News Avoidance heißt das Ganze im Informiertensprech und hieß auch vor einem Jahr schon so, und natürlich fragt sich, woran das liegt. Wer sich an einem Besinnungsaufsatz versuchen möchte, könnte darüber nachdenken, ob es womöglich irgendetwas bedeutet, dass Unterhaltungs- und Nachrichtenangebot auf dem Smartphone zusammenfließen. Es könnte sein, dass am Ende eines solchen Aufsatzes die Erkenntnis steht, dass wir uns zwar eigentlich mehr auf die richtigen Themen konzentrieren sollten, aber huch, ein Kätzchen!

Denkbar ist allerdings auch, dass der Rückgang des Interesses etwas mit den Nachrichten zu tun hat. Die Zahlen wurden vor dem Ukrainekrieg erhoben, allerdings während der Pandemie. Sascha Hölig vom Leibniz-Institut für Medienforschung, Hans-Bredow-Institut, das für den deutschen Teil der internationalen Studie verantwortlich ist, wird zitiert mit der Aussage: "Wir sehen, dass eine gewisse Themenmüdigkeit eingetreten ist." Zum Beispiel bei Corona. "Viele Menschen fühlen sich von der schieren Menge der Nachrichten erschöpft".

Wofür die Redaktionen nichts könnten. Allerdings ergänzt der Evangelische Pressedienst in seiner Zusammenfassung des Reuters-Institute-Reports, "(i)nsbesondere junge Menschen" hätten "mitunter Schwierigkeiten, Nachrichten zu verstehen". Und Medienforscher Hölig (der zwischen Interesse und Nutzung unterscheidet) sagt im Deutschlandfunk:

"Wenn neue, wichtige Themen auftauchen, steigt das Interesse wieder massiv an, etwa zu Beginn des Kriegs in der Ukraine. Aber mit der Zeit nutzt sich das ein wenig ab und Menschen werden zunehmend genervt, weil sich alles nur noch darum dreht."

Das sei eher eine Themenmüdigkeit als eine generelle Nachrichtenmüdigkeit. Im "dpa"-Interview schickt er zudem den Aufruf an Medienhäuser mit, "Nachrichten so zu gestalten, dass sie in den Lebensalltag der jungen Menschen anschlussfähig sind". Yo.

Dass die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" gerade bekannt gegeben hat, dass auch sie nun ihren eigenen TikTok-Kanal starte und "künftig auch hier mit dem gewohnten Qualitätsjournalismus präsent sein" werde, ist in dem Sinn gewiss eine gute Nachricht. Okay, "gute Nachricht" selbstredend im Sinn von: Es ist eine Nachricht. Wir wollen hier ja niemanden dazu erziehen, irgendetwas gut zu finden.

(Mehr zu den Trendthemen Erziehungsjournalismus, oder besser: Erziehungsjournalismusbehauptungsjournalismus sowie TikTok: im Altpapierkorb.)


Altpapierkorb (Berliner PEN, Ulrike Guérot, Johannes Boie, TikToks Sog, "Gladbeck: Das Geiseldrama")

+++ In der Wochenzeitung "Freitag" geht es um den neuen Berliner PEN (im Altpapier zuletzt am Mittwoch), der nicht der in Darmstadt beheimatete PEN ist (und auch nicht das "PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland", das seinen Sitz derzeit ebenfalls in Deutschland hat). Im "Freitag" (derzeit nicht frei online) kritisiert Jörg Magenau die Zweitgründung, denn "zwei nationale PEN-Zentren sind nicht besser als eins, weil Spaltung immer eine politische Schwächung ist". Und er schreibt: "Literatur, wenn sie etwas taugt, beruht weniger als die Publizistik auf Meinungen, weil sie nicht proklamiert und für wahr hält, sondern Erfahrungen beschreibt und dadurch andere, fremde Lebenswelten und Denkweisen sichtbar werden lässt: Literatur als gesellschaftliches Laboratorium; der Dienst an der Sprache als zentraler Bestand der Menschlichkeit. Dass auf der Mitgliederliste des neuen PEN Berlin Publizisten dominieren und Literaten oder gar Dichter in der Minderheit sind, ist demnach kein gutes Zeichen."

+++ Zwei Mitglieder des neuen PEN – Jan Fleischhauer und Simone Buchholz – vertreten in einem Doppelinterview andere Positionen. Buchholz sagt: "Vielleicht konnte man sich in den 1990er Jahren zurücklehnen und sagen, wir müssen uns nicht einmischen. Ich kann mit politischer Zurückhaltung in der Kunst nichts anfangen. Und ich möchte, dass immer mehr sagen, ich habe ein Mikrofon, ich spreche da auch rein für all die, die nicht gehört werden." (Für die Transparenz: Ich habe für die "Freitag"-Ausgabe ein Quiz zur PEN-Geschichte beigesteuert.)

+++ In der "Zeit": ein Text über ein Treffen Ijoma Mangolds mit der Professorin für Europapolitik, Publizistin und auch Medienfigur Ulrike Guérot, "die in der öffentlichen Wahrnehmung von einer postnationalen Europa-Visionärin zur querdenkerischen Maßnahmenkritikerin und schließlich zur Putin-Versteherin geworden" sei. Eine, sagen wir, herausfordernde Begegnung, weil ihre Texte mittlerweile – und dafür ist sie schon selber verantwortlich – von Leuten wie Björn Höcke für gut befunden werden; "dabei ist sie Fleisch vom Fleische genau jenes akademisch-liberalen Milieus, das sie jetzt wie einen Paria behandelt", so Mangold. Was sein Text vermittelt, ist die Haltung, dass ein schnell gesenkter Daumen kein Debattenbeitrag ist; dass man es sich nicht zu einfach machen darf mit den Urteilen, auch wenn man ein Muster zu erkennen meint. Aber wenn er am Ende schreibt: "Vielleicht muss Ulrike Guérot das Verhältnis zwischen Meinungsstärke und Sorgfalt künftig etwas feiner balancieren" – dann stolpere ich schon etwas über das Wörtchen "etwas".

+++ Zum Trendthema Erziehungsjournalismusbehauptungsjournalismus: Gerade erst hat die "Welt" einen Gastbeitrag veröffentlicht, in dem den Öffentlich-Rechtlichen (in deren Kosmos auch diese Kolumne erscheint) vorgeworfen wird, sie würden Kinder "im Sinne einer ideologisch motivierten Agenda" "umerziehen" (Altpapier). Nun erzieht "Bild"-Chefredakteur Johannes Boie die Hörerinnen und Hörer des "OMR-Podcasts" zu Öffentlich-Rechtlichen-Kritikerinnen-und-Kritikern. Er sagt: "Natürlich gehört zu 'Bild' und zum Boulevard von 'Bild' dazu, dass wir emotionalisieren, dass wir zuspitzen, dass wir starke Thesen haben." Aber, so seine starke These: "Nö, wir erziehen nicht, das überlassen wir den Öffentlich-Rechtlichen, die das ja in ganz vielen Sendungen mittlerweile machen. Das würde überhaupt nicht zu uns passen. Wir möchten, dass sich unsere Leserinnen und Leser ihre Meinung selbst bilden können."

+++ Warum "Bild" nicht bei TikTok sei, sagt Boie auch. "Für Johannes Boie und Bild ist das soziale Netzwerk hingegen aktuell ein absolutes No-Go, weil es aus China komme, so fasst omr.com zusammen, was er sagt: "'Das habe ich nicht auf dem Handy, das bespielen wir mit Bild nicht.'"

+++ TikToks Sog versucht derweil der NDR zu erklären: "Laut einem Bericht der Analysefirma 'data.ai' haben Deutsche Nutzende im letzten Jahr im Schnitt 23 Stunden im Monat auf Tiktok verbracht. Das sind mehr als 45 Minuten am Tag – doppelt so viel wie bei WhatsApp oder Instagram", heißt es bei zapp.de, wo man sich im Rahmen eines 11-minütigen Films auf "die Suche nach Antworten begeben" hat – also Antworten auf die Frage, woran das wohl liege. Eine Antwort: an der Swype-Bewegung, mit der man die Videos weiterwischt und die einem vorgaukele, man habe die Kontrolle. "Diese Wischbewegung nach oben, die ähnelt eindeutig so einem Ziehen an so einem Hebel von so einem einarmigen Banditen", sagt der Software-Designer Felix Möbus im Film. Wer auf Bällebadbilder steht, wird auch auf seine Kosten kommen.

+++ Ich hatte angenommen, dass sich filmische Bearbeitungen des Geiseldramas von Gladbeck mit dem ARD-Zweiteiler von 2018 erst einmal erledigt hätten. Nun gibt es bei Netflix eine weitere Dokumentation, von Volker Heise. Frederik von Castell hat den Regisseur für "Übermedien" interviewt, wobei – auch in Fragen – die Qualitäten von Heises Arbeit deutlich werden.

Neues Altpapier erscheint am Freitag.

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