Das Altpapier am 21. Juni 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 21. Juni 2022 Woche der nativen Diven

21. Juni 2022, 10:40 Uhr

Die RTL Group feiert eine "Woche der Vielfalt" – und distanziert sich bei der Ausstrahlung einer aufgezeichneten Show noch schnell von einem der Beteiligten. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Pride Week ist wichtig

Es ist gut, dass ein Regenbogen schon lange andere Assoziationen hervorruft als den ollen Johannes Mario Simmel. Der Privatsender Vox lässt die Spektralfarben momentan im Minutentakt blitzen. In Zusammenarbeit mit dem Mutterkonzern, der RTL Group, hat man zum Beispiel bei dem enorm konsum- aber auch sehr menschenfreundlichen, als Einkaufs-Dokusoap getarnten Querschnitt-der-Gesellschafts-Psychogramm "Shopping Queen" seit gestern eine "Pride Week" ausgerufen, die sozusagen wie der Hintern in die Chaps zum internationalen Pride Month Juni passt. Und die mit Leserkommentaren wie "Wieviel Prozent der Bevölkerung sind denn gay - wieso mach man so ein Aufhebens darum?" unter einer Ankündigung im Münchner Boulevardblatt tz die Antwort auf die Frage gleich mitliefert: So lange es solche Kommentare gibt, ist das "Aufhebens" notwendig. (Und danach übrigens auch – wieso nicht?).

Etwas differenzierter führt die taz aus, warum das großangelegte Feiern der Diversität nicht nur schön, sondern auch vonnöten ist, lässt bei der Aufzählung von Straftaten gegen queere Menschen allein in diesem Monat nochmal den Fall mit dem "Welt"-Text und der "Sendung mit der Maus" Revue passieren (hier und hier einige Altpapiere dazu), weist auf viele, viele andere Fälle hin, und kommt zu dem Schluss:

"Was das bedeutet? Alles Einzelfälle? Das Bild ist diffus, aber selbst als Einzelfälle machen diese Ereignisse deutlich: Diese Gesellschaft ist noch nicht so weit, wie sie sein sollte. Party machen und mit Regenbogenfahne wedeln sollten nicht vertuschen, dass Queers auch in der westlichen Welt noch immer gefährlich leben. Der Pride-Monat, die Christopher Street Days und Demonstrationen sind notwendig."

Einkaufen ist genderfluid

Beim Vox-Format "Shopping Queen" werden also seit Montag erstmalig fünf schwule Männer zum gemütlich-neoliberalen Einkaufsbummel losgeschickt. Wobei man der Vollständigkeit halber anfügen muss, dass tatsächlich schon viele, viele lesbische Frauen dort mitmachten, auch Hetero-Paare durften bereits gemeinsam konsumieren gehen. Schwule Männer aber noch nicht. (Und dass, nebenbei, das Wochen-Einkaufs-Motto "Tasche" lautet, weckt süße Erinnerungen an die anscheinend sehr effektive, aber irgendwie auch putzig klingende "Ermittlungsgruppe Tasche" der Berliner Polizei, die vor ein paar Jahren jede Menge Pickpockets in den Wahnsinn trieb, wirklich wahr.)

In der gesamten Sendergruppe fährt man das Thema breiter, auch die Dating-Show "Erste Liebe" (die ebenfalls früher nie ausschließlich heteronormativ war, aber mehrheitlich) lässt eine Woche lang Frauen Frauen und Männer Männer daten, und überhaupt hat man sich für die so genannte "Woche der Vielfalt" mit einem Discounter und einem riesengroßen, internationalen Konsumgüter-Konzern zusammengetan, und eine "crossmediale Kampagne" ausgerufen, in deren Pressemitteilung die enigmatischste   Marketing-Vokabel "nativer Kampagnenbaustein" lautet. Mit Olivenöl hat das anscheinend nichts zu tun, sondern mit dem Vorkommen in allen möglichen "Ad Specials", wobei Sendungen wie Shopping Queen ja eigentlich eh eine Art "Ad Special" sind.

Doofe Witze sind doof

Eine neue Sendung namens "Viva la Diva", eine extra für die genannte Woche von einem holländischen Originalformat kopierte, an einen paillettengetränkten Mix aus RuPauls Drag Race und einer robusten Jeckensitzung erinnernde "Promi-Rate-Show", bei der sich sechs männliche "Promis" (zwischen Fußballer und Moderator) bis zur Unkenntlichkeit in Drag werfen, um dann, erstaunlicherweise moderiert vom bodenständigen Koch Tim Mälzer, von einer Jury als beste "Queen" ausgezeichnet zu werden, also eine Art Dragqueen-"Was bin ich?" mit ausschließlich prominenten Überraschungsgästen, wartete dabei mit einer Merkwürdigkeit auf.

Denn am Ende wurde mit dem Comedian Faisal Kawusi jemand ausgezeichnet, dessen Äußerungen Sat 1 im Frühjahr dazu gebracht hatte, die Zusammenarbeit mit ihm zu beenden, nachdem mehrere Dinge passiert waren. Zur Erinnerung: Es ging unter anderem um einen geschmacklosen Witz zum Thema k.o.-Tropfen, den die Influencerin Joyce Illg auf Instagram gemacht hatte, daraufhin hatte sich alles in alter social media-schnell-Senf-dazu-Eskalations-Manier hochgeschaukelt, auch Kawusi hatte gefrotzelt, wurde zurückgepfiffen, wurde dann richtig sauer, entschuldigte sich etc. etc. etc. Die ganze Chose kann, wer will, hier nachlesen, zusammengefasst von dwdl.

RTL ist spät dran

Aber das ist nur ein Teil der angekündigten Überraschung. Viel seltsamer ist nämlich, dass RTL sich nun wiederum ganz schnell ebenfalls von Kawusi distanzierte. Bei Twitter schrieb der Sender:

"Wir distanzieren uns von den Aussagen, die Faisal Kawusi im April auf Social Media getätigt hat. 'Viva la Diva' wurde bereits im März 2022 aufgezeichnet. RTL steht für Vielfalt und Toleranz ein…"

Und das Irre ist: Genannter Tweet kam erst gestern. Was man ja nun einfach nicht nachvollziehen kann. Denn wenn die Sendung im März aufgezeichnet wurde, dann war die ganze Geschichte doch lange vor der Ausstrahlung gestern Abend bei RTL bekannt. Und es bleibt die große, mysteriöse Frage, wieso RTLs Distanzierung von dem seit März RTL-intern feststehenden Gewinner der Show am Tag der Ausstrahlung kommt, und dann als kleiner Tweet. Wollte man abwarten, ob sich jemand aufregt? Hatte man gehofft, dass keiner etwas merkt? Lag es an Verträgen?

Dass übrigens auch der Klimabewegungsspötter und sich als verpiefter 50er-Jahre-Schenkelklopf-Humorist ("Wenn meine Freundin Schuhe kauft… ich wäre froh wenn sie solche Geräusche mal beim Sex machen würde!") generierende Mario Barth als Gast-Queen in einem der Drag-Kostüme steckte, macht die Sendung, die angetreten war, um Toleranz und Diversität zu feiern, nicht glaubwürdiger. Dann doch lieber Priscilla, Königin der Wüste. Da steckt mehr Witz und Wahrheit drin, und die Fummel sind auch schicker.


Altpapierkorb (... mit einer sprachlosen Alice Weidel, dem Treffen der G7 Medienminister, einer fragwürdigen Kooperation und populistischen Kampfbegriffen)

+++ Über ein bemerkenswertes ARD-Interview mit Alice Weidel berichten mehrere Medien, hier beispielsweise das Redaktionsnetzwerk Deutschland, hier die Berliner Zeitung: Weidel wurde vom Reporter mit rechtsextremen Aussagen des AfD-Vorstands und ein paar weiteren Eigenheiten, zum Beispiel dem Verteilen von Waffen-SS-Fan-Magazinen konfrontiert.

+++ Die FAZ schreibt über ein anscheinend recht fazitfreies Treffen der G7 Medienminister und -innen. Die dazugehörige dpa-Meldung in der Süddeutschen klingt dagegen so, als ob dort doch etwas beschlossen worden wäre.

+++ Einer fragwürdigen Kooperation der dpa mit der EU nimmt sich dafür netzpolitik.org an.

+++ Und der Tagesspiegel kommentiert "Woke-Attacken" von Fynn Kliemann und Judith Sevinc Basad.

Neues Altpapier kommt am Mittwoch.

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