Das Altpapier am 1. Juli 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Das Altpapier am 1. Juli 2022 Keine Korinthenkackerei

01. Juli 2022, 09:07 Uhr

Die Berichterstattung über das Selbstbestimmungsgesetz ist gut, die Formulierungen lassen dagegen noch oft zu wünschen übrig. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Wehmutbrüder

Wir starten mit einem kurzen, das komplexe Thema zunächst einmal gutmütig umschiffenden Exkurs: Glücklicherweise bin ich nicht die Einzige, die jahrelang den "Wermutstropfen" mit dem "Wehmutstropfen" verwechselt hat. Es klingt beides plausibel, zudem macht der Wermutstropfen den Martini erst rund – wieso sollte man als geübte Martinitrinkerin etwas Negatives mit ihm assoziieren?! Nicht mal die besserwisserische Rechtschreibprüfung meines Schreibprogramms beschwert sich, sondern lässt das Wort "Wehmutstropfen" immer genauso stehen, weder wird es rot unterkrickelt, noch blau unterstrichen. Da, jetzt grade schon wieder nicht! Pah! Aber ich habe trotzdem inzwischen verstanden, dass es sich beim bitteren Beigeschmack einer an sich schönen Sache um den Wermutstropfen handelt, der vom galligen "Artemisia absinthium", dem Wermutkraut stammt.

Und der Wermutstropfen der breiten und medienübergreifenden Berichterstattung über die Eckpunkte des neuen Selbstbestimmungsgesetz, das das alte, damals so genannte "Transsexuellengesetz" ersetzen soll, ist eine Unsicherheit bei der Benutzung der Begrifflichkeiten.

Schön ist: Die ZDF-Redaktion setzt einen Bericht zum Thema zwar in die 19-Uhr-heute-Sendung – nach Beiträgen über die Nato, die problematische Energieversorgung, die Arbeitsmarktentwicklung, kostenpflichtige PCR-Tests und die Bilanz des 9-Euro-Tickets.

Doch weniger schön ist: Schon zu Beginn des Beitrags zeigt sich, dass man bei den Formulierungen, die – genau wie das neue Gesetz – einen gerechten und menschenwürdigen Umgang spiegeln sollten, noch immer zu schwimmen scheint. Ich sammle mal:

"Schon sehr früh fühlte sie sich nicht wohl in ihrem Geschlecht"

heißt es im Off-Text des Beitrags in Bezug auf eine trans Frau, und geht weiter mit: 

"Sie kam als Junge zur Welt, konnte aber mit den Erwartungen, die daran geknüpft sind, nicht leben".

Fettnäpfchen

Dabei hat unter anderem n-tv bereits 2016 unter dem Titel "So vermeiden Sie Fettnäpfchen" diesen Leitfaden veröffentlicht, der sich unter anderem auf Veröffentlichungen der "Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität" dgti bezieht, und in dem man unter der Überschrift "Problematische Formulierungen" folgendes lesen kann:

  • "im falschen Körper geboren": ist die landläufige Phrase, um Transgender zu beschreiben. Allerdings lehnen nicht alle Transgender ihre Körper ab und wenn, dann häufig nur Teile davon, wie zum Beispiel die Geschlechtsmerkmale.

  • "war früher ein Junge": Viele Trans-Männer würden wohl eher von sich sagen, dass sie früher auch schon Jungs waren - und Trans-Frauen eben Mädchen.

  • "wurde als Mädchen geboren": Nur weil eine Person bei der Geburt als Mädchen einkategorisiert wird, muss sie noch lange kein Mädchen sein.

Also. Bitte nicht "Sie kam als Junge zur Welt" sagen, wenn man meint, dass die Dame früher für ein Junge gehalten wurde.

Etwa später fällt der Satz:

"Mit 17 zog sie vom Land nach Berlin, (…), entschied sich für eine Geschlechtsumwandlung."

Gnagnagna! Dass es sich nicht um eine Geschlechtsumwandlung, sondern um eine Geschlechtsanpassung bzw. -angleichung handelt, das müsste man doch inzwischen mitbekommen haben. Sogar Wikipedia macht das schon lange richtig, menno.

Die ARD hat sich bei der Betextung ihres prominent als Aufmacher platzierten 20-Uhr-Tagesschau-Beitrags mehr Mühe gegeben. Allet schick.

Beim Spiegel steht allerdings über diesem (€) wie ich finde richtigen und in seiner Kritik an den noch immer währenden klaffenden Lücken des Entwurfs notwendigen Text die Zeile:

"Neue Regelung für Transsexuelle"

Pathologisierung

Damit ignoriert jemand (vermutlich die Redaktion, die Autor:innen machen die Überschriften und Untertitel meines Wissens nicht selbst, sie trifft also keine Schuld) die lange Diskussion um den Begriff "transsexuell". Hier ein Ausschnitt aus der Erklärung des Büros zur Umsetzung von Gleichbehandlung, bug-ev.org:

"Die Nutzung von 'transsexuell' zur Beschreibung von trans* Personen durch cis Personen, wird wegen des historischen Kontexts häufig als diskriminierend angesehen und von trans* Personen abgelehnt. Ab den 1950er Jahren war 'Transsexualität' von der Medizin und Psychologie als Krankheit definiert und als solche in der internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD) gelistet. Diese Einordnung beförderte die Stigmatisierung von trans* Personen. Aufgrund von jahrelangem Aktivismus der trans* Community, die verdeutlicht, dass ihre Identität nicht als krank anzusehen ist, wird die WHO 2022 den Namen der im ICD 10 vermerkten Diagnose 'Transsexualität' in 'Geschlechtsinkongruenz' ändern und nicht mehr als psychische Krankheit pathologisieren. Damit wird dann die Identität als trans* medizinisch als eine Frage der 'sexuellen Gesundheit' definiert."

Darum heißt es doch auch "Selbstbestimmungsgesetz"! Und wem jetzt das Wort Korinthenkackerei im Kopf herumgeistert, der hat Marco Buschmann und Lisa Paus und sämtlichen Menschen, die schon lange für Menschenrechte kämpfen, nicht zugehört.

Good old Sapir-Whorf

Und überhaupt, wo wir gerade dabei sind, und dieses Thema doch immer sooooo viel Spaß macht (mir jedenfalls…), kommt hier einer meiner aktuellen Lieblingsartikel zum Thema Sprachsensibilität, vom Linguisten Guy Deutscher bereits 2010 veröffentlicht im New York Times Magazine. Herr Deutscher wälzt darin mal wieder die linguistische Frage, ob die Sprache das Denken beeinflusst (die alte, immer wieder faszinierende Sapir-Whorf-Hypothese). Er verneint dies. ABER stellt fest:

"Some 50 years ago, the renowned linguist Roman Jakobson pointed out a crucial fact about differences between languages in a pithy maxim: 'Languages differ essentially in what they must convey and not in what they may convey.' This maxim offers us the key to unlocking the real force of the mother tongue: if different languages influence our minds in different ways, this is not because of what our language allows us to think but rather because of what it habitually obliges us to think about."

Genau! Und damit gibt es den Zusammenhang eben doch. Hier noch ein weiterer Ausschnitt aus seinem Text, zur Abwechslung auf Deutsch:

"Die geistigen Angewohnheiten, die uns in unserer Kultur seit unserer Kindheit anerzogen wurden, formen unsere Orientierung in der Welt und unsere emotionale Reaktion auf Objekte, die unsere Wege kreuzen. Und die Konsequenzen jener (kulturellen Angewohnheiten) gehen vermutlich weit über das hinaus was bisher in Experimenten herausgefunden wurde; sie könnten auch deutlichen Einfluss auf unsere Überzeugungen, Werte und Ideologien haben."

Die Angewohnheiten formen die Orientierung und die Reaktion! Darum ist es wichtig, Geschlechtsanpassung statt -umwandlung zu sagen, und transgender statt transsexuell. (Meine Rechtschreibprüfung kennt "transgender" nicht und unterkrickelt es rot! Bezeichnend! "Korinthenkackerei" dagegen kennt sie!) Abgesehen davon hat sich und wurde Sprache übrigens immer schon verändert und angepasst. Was absolut knorke ist, um mal einen aus der Mode gekommenen Begriff zu benutzen. Denn das spiegelt die notwendige und faktische Veränderung der Gesellschaft.


Altpapierkorb (... FAS am Samstag, Generation "weichgekocht", BBC an Johnsons Leine, des Bundeskanzlers Patzigkeit)

+++ Was es gebracht hat, das Erscheinungsdatum von Sonntagszeitungen auf Samstag vorzuziehen, darüber macht sich der Tagesspiegel Gedanken. Irre: es hat auch mit der Sonntagsruhe der Post zu tun, es heißt:

"Insgesamt sei die Umstellung des Erscheinungstages der 'FAS' sehr gut angenommen worden, es seien einige positive Effekte erzielt worden. 'Durch die Umstellung hat sich das Verbreitungsgebiet vergrößert, sodass wir die Haushaltsabdeckung auf fast 90 Prozent steigern konnten.' Kunden, die die 'FAS' vorher per Post am Montag bekommen haben, werden jetzt am Samstag beliefert. 'Zudem können wir durch die Umstellung eine erhebliche Kostenersparnis in der Zustellung verbuchen.'"

+++ In der Süddeutschen: Ein Interview mit Thomas Gottschalk, mehr oder weniger definiert er die Generation Snowflake als "weichgekocht". Den Ruf hat sie auf jeden Fall schon lange weg.

+++ Die taz beobachtet die Entwicklung der BBC unter dem Druck des konservativen Boris Johnson. Hilfe!

+++ Und Übermedien analysieren in einem Podcast Olaf Scholzs vielfach zu Irritationen führende, patzige Reaktion auf die Frage, ob er die Sicherheitsgarantien nennen könne, die die G7 der Ukraine versprechen könnten. "Das war’s." (O-Ton Scholz)

Neues Altpapier kommt am Montag. Schönes Wochenende!

0 Kommentare

Mehr vom Altpapier

Kontakt