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Das Altpapier am 4. Juli 2022Der Niedergang der Schlagzeile

04. Juli 2022, 10:00 Uhr

... hängt mit der "Pseudowissenschaft Suchmaschinenoptimierung" zusammen. Die Deutsche Welle ist nun auch in einem NATO-Partnerland verboten. Außerdem: Ein "Kult"-Sidekick ist gestorben. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Wie die Suchmaschine die Presseverlage marginalisierte

Nicht herausragend wahrscheinlich, dass Menschen, die montagmorgens eine immer gewisse Zeit erfordernde Medienkolumne anklickten, gleich auf einen Longread aufmerksam gemacht werden wollen, der (wenn man diesbezüglichen Firefox-Prognosen glaubt) selber 34-40 Minuten Lesezeit erfordert. Nützt aber nichts. Auf Alexander Fantas ursprünglich auf englisch in der European Review of Books, nun bei netzpolitik.org erschienenen Essay müssen Sie zumindest ein Lesezeichen setzen und ihn lesen, wenn's passt.

Fanta schlägt nicht einen großen Bogen, sondern verknüpft mehrere langlaufende Linien zwischen der abgeschlossenen, aber älteren Menschen noch erinnerlichen Medien-Epoche, als Redakteure "Scheren, Papier und Fässer mit Klebstoff" nutzten, "um ausgedruckte Textspalten auf die Magazinseiten zu kleben", als also gedruckte Zeitungen noch schnelle Leitmedien waren, mit der Gegenwart. Heute erscheint Springer-Chef Mathias Döpfner "wie ein lokaler Häuptling, der versucht, seinem neuen digitalen Herrscher Zugeständnisse abzuringen". Seinerzeit konnten Verlags-basierte Konzerne wie Springer oder derjenige Rupert Murdochs noch politische Kampagnen und pfiffige oder provokante Schlagzeilen einen Unterschied machen.

"Das Zeitalter der Suche hat den Niedergang der Schlagzeile auf der Titelseite und ihrer politischen Bedeutung eingeläutet",

lautet eine der Thesen Fantas, der also seine regelmäßigeren Altpapier-Lesern bekannte, gemeinsam mit Ingo Dachwitz verfasste Brenner-Stiftungs-Studie  "Google, der Medienmäzen" fortsetzt. Das "Zeitalter der Suche" und den Grund der gigantischen Marktmacht des Suchmaschinen-basierten Google-Konzerns charakterisiert er so:

"Große und kleine Publikationen unterwerfen sich heute der 'Suchmaschinenoptimierung', einer seltsamen neuen Disziplin im Journalismus. Die Redaktionen stellen eigene Teams ein, die mehr oder weniger zutreffende Vermutungen darüber anstellen, wie man die Suchalgorithmen von Google für sich nutzen kann. Die Pseudowissenschaft der Suchmaschinenoptimierung hat dazu geführt, dass sich Journalisten und Redakteure bemühen, Überschriften und Zwischenüberschriften mit so vielen Schlüsselwörtern wie möglich zu füllen, um nicht unauffindbar zu sein ... "

Inzwischen leidet sogar die Google-Suche unter all der Suchmaschinenoptimierung (Altpapier). Doch die Marktmacht des Konzerns ist unter vielem anderen durch scheinbar großzügig verteilte Almosen zementiert. Auch dafür nennt der Essay viele Beispiele, etwa dass der gerade oft zitierte "Digital News Report" (Altpapier; aktuell ausführlich "Telepolis", knapp ein "Tagesspiegel"-Interviewpartner) des Oxforder Reuters Institute  "mit einem jährlichen Zuschuss von 1,3 Mio. Pfund von Google finanziert wird". Warum Googles Marktmacht ein noch weiter wachsendes Problem darstellt, obwohl sich der Konzern ja nicht damit aufhält, gelegentlich geäußerte Kritik an ihm zu unterdrücken?

"Die Bedrohung, die von Google ausgeht, ist nicht in erster Linie eine Gefahr für die redaktionelle Unabhängigkeit, sondern für die wirtschaftliche Autonomie der Medien. Google lebt von einem Nachrichten-Ökosystem mit verschiedenen Quellen, die alle Futter für seine Suchmaschine und mehr Online-Flächen zur Platzierung von Werbung liefern. Wenn es dem Medienpluralismus im herkömmlichen Sinne schadet, so tut es dies hauptsächlich unbeabsichtigt, indem es mit seinen strategischen Geschenken überwiegend etablierte Verleger begünstigt."

Ansätze, Gogles Macht einzugrenzen, falls die Politik in Form der Gesetzgeber ernsthaft daran interessiert sein sollte, gäbe es:

"Heute verfügt Google über eine praktisch unvermeidliche Infrastruktur für den Kauf und Verkauf personalisierter Anzeigen, einschließlich der weltweit meistgenutzten Online-Werbebörse AdX, auf der Verlage Platz auf ihren Websites an Kunden versteigern können. Damit ist Google sowohl Verkäufer als auch Vermittler in Online-Werbebörsen, ein Arrangement, das die Rechtswissenschaftlerin Dina Srinivasan in der Stanford Technology Law Review mit dem Insiderhandel an der Börse vergleicht."

Wobei das Interesse daran nicht groß ist, in EU-Europa schon gar nicht. Was besonders am Sitzland-Prinzip liegt und daran, dass Googles EU-Sitz Irland durch seine "besonders 'wirtschaftsfreundliche' und chronisch unterfinanzierte Aufsichtsbehörde" dafür sorgt, "dass mehrere große Untersuchungen zum Missbrauch der Privatsphäre durch Google und Facebook beinahe stillstehen."

Damit genug zitiert, wir wollen den keineswegs ausschweifenden Artikel hier nicht zusammenfassen. Ergänzen lässt sich a) noch der tagesaktuelle Hinweis, dass in den USA neuer Streit um Tiktok, die einzige nicht-amerikanische, sondern chinesische Plattform, aufkommt. Weil Tiktok offiziell bestätigte, dass "Mitarbeiter in China ... auf US-Nutzerdaten zugreifen" können, fordert die Federal Communications Commission Apple und Google auf, Tiktok aus ihren App-Stores zu entfernen. (Schließlich sind Googles Mobil-Betriebssystem Android und sein Appstore ebenfalls zementierte Macht ...). In Europa dagegen "lotet" die zuständige Datenschutzbehörde "seit einem knappen Jahr", ob Tiktok "die Vorschriften für Drittländer beachtet" (heise.de). Es handelt sich um die irische DPC, die gewiss geduldig weiterloten wird, solange Tiktoks EU-Sitz in Dublin verbleibt.

Apropos netzpolitik.org verdient b) noch rasch Erwähnung, dass der Blog nun seinen Co-Chefredakteur neben Anna Biselli verkündet hat. Der von den "Blättern für deutsche und internationale Politik" kommende Daniel Leisegang wird's ab August sein.

Deutsche Welle, Türkei, NATO

Oh, eine Auszeichnung für die Deutsche Welle. Das dürfte dem zuletzt selten in positiven Kontexten aufgetauchten Auslandssender gut tun:

"Die Kolleg*innen der @dw_turkce und @VOATurkce dürfen diese Maßnahme als Auszeichnung werten – als einen jener Preise, die das Erdoğan-Regime für unabhängigen Journalismus vergibt. 1/6",

twitterte Deniz Yücel. Was der streitbare Präsident eines der mehreren deutschen PEN-Clubs meint, ist allerdings kein Preis, den man sich ins Regal stellen kann, sondern sozusagen der Preis, den unabhängiger Journalismus in immer mehr Staaten zahlen muss. Die Deutsche Welle, die ihr Publikum ja vor allem übers Internet statt über klassischen Rundfunk erreichen möchte, bekam (wie die Voice of America) nun auch in der Türkei ihre Internet-Angebote verboten. Der "Tagesspiegel" hat dazu eine Übersicht in FAQ-Form.

Etwas deutlicher darauf hin, dass es nominell um eine Lizenzen-Frage geht, weist etwa die "SZ": Die DW hätte eine Lizenz beantragen sollen, was sie aber nicht wollte und konnte, da sie sich schon durch den Antrag Zensurwünschen unterworfen hätte. Und "Lizenzen sind auch in Deutschland die übliche Praxis für alle Anbieter von Inhalten mit einer bestimmten Reichweite". So hatte ja die Medienanstalten-Kommission ZAK im Februar dem russischen Staatssender  RT wegen einer fehlenden Lizenz untersagt, was dann ja im Gegenzug dazu führte, dass DW-Angebote in Russland (dessen Regime an völlig andere Bedingungen formal ebenfalls Lizenzen knüpft) verboten wurden. Das könnte nochmals zur Frage führen, ob der aus vordigitaler Vergangenheit stammende Ansatz, Lizenzen an Sender zu vergeben, in Deutschland nicht einfach aufgegeben werden sollte. Russische Staatsmedien wurden ja quasi mit Kriegsbeginn außerdem von der EU verboten. Eine andere Frage aber drängt mehr: Ist die denn Türkei nicht, ganz im Gegensatz zu Russland, ein NATO-Partner?

Ist sie, und nach der allgemeinen Erleichterung darüber, dass auf dem NATO-Gipfel vergangene Woche die Aufnahme der neuen Mitglieder Schweden und Finnland flutschte und nicht wie befürchtet an der Türkei scheiterte, verdient die hier gestellte Frage "Bringt die NATO-Erweiterung türkische Exiljournalisten in Gefahr?" Aufmerksamkeit.

Diese Frage steht im Raum, zumindest wenn man sie nicht auf Journalisten beschränkt und zu den hinteren Politik-Seiten überregionaler Tageszeitungen blättert. "SZ"-Korrespondent Kai Strittmatter berichtet, dass in Schweden diskutiert wird, ob die vom Erdogan-Regime und regimetreuen Medien behauptete Zusage, 73 angebliche "Terroristen" allein aus Schweden ausgeliefert zu bekommen, zutrifft, oder Schweden und Finnland gemeinsam eine geringe Zahl zusagten. Konkreter berichtete die "FAZ", was Cemil Aygan, der für die schwedischen "bürgerlichen Moderaten als Kommunalpolitiker aktiv" war, aber auf einer türkischen Auslieferungs-Wunschliste steht, im schwedischen Fernsehen dazu sagte.

Offenkundig klafft auseinander, was Regierungsvertreter der Türkei bzw. der Beitrittskandidaten ihren jeweiligen nationalen Medien so sagen. Hoffentlich behalten die deutschen Berichterstatter, von denen viele ja tun, "als wäre sie schon zum Wehrdienst eingezogen" (Friedrich Küppersbusch, Altpapier vom Do.), solche Themen im Blick. Die NATO bietet zweifellos viele Vorteile, zumal in Zeiten, in denen Kriege wieder mitten in Europa stattfinden. Ein Verein, dem ausschließlich demokratische oder zumindest Rechts-Staaten angehören, ist sie gegenwärtig nicht.

Shireen Abu Akleh nochmals, William "Kult" Cohn

In diesem Abschnitt geht es um – äußerst unterschiedliche – Todesfälle.

An einem der Konfliktherde, die ziemlich aus dem deutschen Blickfeld gerieten, tut sich was, meldet die "FAZ" via AFP: "Im Fall der im Westjordanland getöteten Journalistin Shireen Abu Akleh hat die Palästinenserbehörde die Kugel an rechtsmedizinische Gutachter aus den USA übergeben". Die Al-Dschasira-Journalistin, eine palästinensische Christin mit US-amerikanischer Staatsbürgerschaft, wurde im Mai beim Berichten in schusssicherer Weste erschossen (Altpapier). Die Klärung, ob von israelischer oder palästinensischer Seite, scheiterte bislang daran, dass palästinensische Stellen die Kugel nicht israelischen Stellen übergeben wollten. Siehe auch haaretz.com (auf englisch).

"Plötzlich und unerwartet", aber im Alter von 65 Jahre ohne Gewalteinwirkung gestorben ist William Cohn, der "Kultsprecher", wie t-online.de titelte. Die "FAZ" übernahm das Attribut "Kult-" in ihrem Online-Nachruf unter der Überschrift "Der Mann mit der unvergesslichen Stimme":

"Im Talkformat 'Roche & Böhmermann' stellte er die Gäste vor, wo seine Beliebtheit 2012 begann, als er mit dicker Helmut-Kohl-Brille auftrat. Seine pointierten Texte, bissigen Kommentare und witzigen Einlassungen konterkarierten sein Äußeres - neben der Brille die knallbunten Pullover und die selbstbewusst zur Schau getragene Halbglatze - trugen zu seiner Popularität bei und machten ihn zur Kultfigur."

Zugleich enthält der faz.net-Artikel (zumindest für Menschen, die Datenabfluss zu Meta/Facebook nicht blockieren) einen Link zum von Böhmermann per Instagram-Story veröffentlichten Abschiedstext. "Der ehemalige 'Neo Magazin'-Sidekick war zuletzt auch Sprecher einer bekannten 'Simpsons'-Figur", weiß dwdl.de, und Kurt Sagatz schreibt im "Tagesspiegel":

"In Kolumbien war William Cohn in einer Musikerfamilie aufgewachsen. Von dort ging es nach Wien, wo er sich für eine Karriere als Schauspieler und Sänger entschied. Er studierte Gesang und Schauspiel in München, Wien, Los Angeles und St. Petersburg",

sodass man gern mehr erfahren würde über die Karriere, die schließlich als "Kult"-/Ex-Sidekick endete.


Altpapierkorb (Ataman-Kritik, "Berater-Inflation", nachdenkseiten.de, WDR & "Bild", "Intimacy Coordinators", Sommerpause)

+++ "Ataman ist die falsche Wahl", heißt ein Kommentar (€) auf der "SZ"-Meinungsseite. Die Publizistin Ferda Ataman, von der hier zuletzt wegen eines Streisand-Effekts die Rede war, soll Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung werden. Doch sie "vertritt ihre Positionen zu Migrationsthemen seit Jahren immer wieder mit maximaler Polemik", schreibt Peter Fahrenholz. +++ Dazu passt auf der nächsten "SZ"-Seite der Artikel "Die Berater-Inflation" über die immer noch mehr zusätzlichen Beauftragten-Posten, die der Bundestag (der selber ja der größte Bundestag aller Zeit ist, weil die letzte Merkel-Regierung eine Wahlrechtsreform nicht hinbekam oder hinbekommen wollte ...) schafft. Beim Antidiskriminierungs-Thema liege "die Gefahr, dass es statt eines mehrstimmigen Miteinanders ein rivalisierendes Durcheinander gibt, ... auf der Hand."

+++ Große Diskussion auch um die Nachdenkseiten. In der "taz" plädiert Matthias Meisner gegen die Aufnahme Florian Warwegs in die Bundespressekonferenz. Der "frühere Online-Chef des russischen Propagandamediums RT Deutsch ... arbeitet seit Juni für den vom früheren SPD-Politiker Albrecht Müller herausgegebenen Blog Nachdenkseiten". Die BPK könne so zur "Bühne für Verschwörer" werden. +++ Ausführliche Kritik an einer u.a. vom Familienministerium finanzierten, hier bereits erwähnten "Gegneranalyse" der nachdenkseiten.de ("als Träger von Ideologie, Schar­nier für Verschwörungstheorien und Agenda-Setzer der radikalen Systemopposition") formulierten Harald Neuber und Sabine Schiffer bei "Telepolis".

+++ "Dass die ARD und allen voran der WDR den Bild-Brei oft heißer essen, als er gekocht wird", exemplifiziert Steffen Grimberg am aktuellen Beispiel des 70. "Bild"-Zeitungs-Geburtstags in der "taz".

+++ "Ernüchternd, nein ... erschütternd", findet Joachim Huber ("Tagesspiegel") eine Studie des Bundesverbands Schauspiel, derzufolge "über die Hälfte der weiblichen Befragten" beim Drehen intimer Filmszenen "mindestens einmal Übergriffiges erlebt" haben, was für "über 20 Prozent der männlichen Befragten" auch gelte. Der Verband sieht nun "im Einsatz von sogenannten 'Intimacy Coordinators' einen gelungenen Lösungsansatz." +++ Dass die Schauspielerinnen Jutta Speidel und Janina Hartwig auf dem Filmfest München "über den neuen Beruf des Intimacy-Coaches lästerten (Speidel: 'Es gibt nichts Überflüssigeres. Aber besser wird es an den Sets ohnehin gerade nicht')", liest man am Rande eines launigen Klaas Heuer-Umlauf-Interviews der "FAZ".

+++ Und in der ARD beginnt sozusagen die große Sommerpause. Talkerin Sandra Maischberger beginnt ihre wegen einer Corona-Infektion früher als geplant ("Tagesspiegel"), und das nachrichtliche "Nachtmagazin" pausiert im Juli und August durchgehend: "Hintergrund ist demnach der angekündigte weitere Ausbau von 'Tagesschau24' ..." (dwdl.de).

Neues Altpapier gibt's aber wieder am Dienstag.

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