Das Altpapier am 19. Juli 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 19. Juli 2022 Die Verzweiseitigung der Debatten

19. Juli 2022, 10:25 Uhr

Wetter führt zu allerhand Wetterjournalismus. Kulturbeiträge sorgen dagegen offensichtlich für Umschaltreflexe. Harald Martenstein packt ein "heißes Eisen" an. Und Samira El-Ouassil benennt, was das Problem an Polarisierung ist und was nicht: Man müsse zwischen der themenbezogenen und der gruppenbezogenen Polarisierung unterscheiden. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Das Wetter

Vielleicht ist es Ihnen aufgefallen: Es ist gerade etwas wärmer draußen. Beginnen wir daher heute mal mit dem Wetter – die "Tagesthemen" machen das ja auch, wie Cornelius Pollmer in der "Süddeutschen Zeitung" in einer beneidenswert coolen Übersichtsglosse über den grassierenden Wetterjournalismus notiert, der nicht überall auch Klimajournalismus ist.

"'Ausnahmsweise', sagte Tagesthemen-Moderator Helge Fuhst zu Beginn der Sendung am Sonntag, werde man in den kommenden Ausgaben gleich zu Beginn einen 'Blick aufs Wetter' werfen. Frage an Fachfrau Claudia Kleinert also: 'Wo ist die Hitze zu erwarten?'"

Nun, wo? In Kühnhaide im Schwarzwassertal jedenfalls wohl nicht, dort habe es der "Freien Presse" zufolge am Wochenende Bodenfrost gegeben, "minus 1,5 Grad Celsius waren am Sonntagmorgen gegen 7.15 Uhr gemessen worden", zitiert Pollmer; während es bei der "Bild"-Zeitung um Glut-Prognose und Schwitze-Schlacht geht.

Schöne Idee, so ein Überblick. Und gut auch, dass der Hinweis nicht fehlt, dass es der von Menschen befeuerte Klimawandel ist, der immer häufiger extreme Wetter- und Weltereignisse befeuere. Der Medienjournalismus der späten 1990er, der gewiss amüsant war, der sich aber, verglichen mit heute, ein Häuchlein intensiver mit der Betrachtung medialer Oberflächen beschäftigte, stünde derzeit vielleicht etwas schräg in der Landschaft.

Gut ist vor allem, dass sich in der ARD sich nach den Diskussionen über die Frage, ob ein "Klima vor 8" nicht wichtiger wäre als "Börse vor 8", die Position durchsetzen könnte, dass man den "Börse"-Nachfolger "Wirtschaft vor 8" nicht nur nebenbei, sondern sehr explizit als Klimasendung verstehen kann, wie Anja Kohl gestern zeigte.

Bemerkenswert an der Wetterjournalismus-Nachberichterstattung ist aber auch – und hier kommt nun dwdl.de als Quelle ins Spiel –, wessen Wetterbericht viele Zuschauerinnen und Zuschauer nicht mitbekommen haben: den des "heute journals" vom Sonntag, DWDL zufolge jedenfalls. Es geht im Artikel um neue Einschaltquotendaten, die zeigen würden, dass eine spürbare Zahl bereits kurz vor Ende der Sendung einem Umschaltreflex gefolgt sei.

"Erklären lässt sich das damit, dass das 'heute-journal' wie üblich vor Wochenausblick und Wetter noch einen Kultur-Beitrag einstreute. Dreieinhalb Minuten lang ging es um ungewöhnliche Brahms-Interpretationen, was das 'heute-journal' bis zum Ende des Beitrags (…) rund neun Prozent seiner Reichweite kostete."

Schade. Ungewöhnliche Brahms-Interpretationen sind relevant. Aber Brahms hat eben nicht "Layla" komponiert oder was die Leute sonst so am Kulturfernsehen dranhielte. "Das Lied der Schlümpfe" meines Wissens auch nicht.

Triggerbasierte Interaktionen

Harald Martenstein hat einmal einen langen Text über Reaktanz geschrieben, und diesem Text zufolge schreibt er manchmal das Gegenteil von dem, was er für die Mehrheitsmeinung hält:

"Manchmal schreibe ich Sachen, die ich nicht wirklich denke. Mehr so aus dem Bauch heraus. Wenn alle das Gleiche sagen, bekommt man Lust, dagegenzuhalten."

Das ist möglicherweise ein bisschen kindisch, aber kindisch sind viele, die Triggerthemen in Medien kommentieren; Martenstein vertritt in dem Fall also keine Minderheitenposition. In seiner neuesten Kolumne im "Zeit Magazin" schreibt er nun darüber, wie er reagieren würde, falls sein Sohn mit 14 eine Frau sein wollte. An einer Stelle geht es auch darum, dass ihn das Thema anziehe, und das ist der Aspekt, den ich für eine Medienkolumne interessant finde:

"Dieses Thema gehört zu den heißen Eisen. Jede Person, die dazu etwas anderes schreibt als 'Gebt alles frei, kein Problem!', muss damit rechnen, als 'transphob' eingestuft zu werden. Das kennt man inzwischen, zu manchen Themen soll es keine Debatte geben. Mich ziehen diese Themen leider an wie die Motte das Licht, klar, eines Tages wird die Motte verbrennen."

Zu lesen, was Martenstein über heiße Themen schreibt, gefällt vielen Leuten. Das unterstelle ich zumindest, denn eine gewisse Popularität kann man ihm nicht absprechen. Das Problem an dieser Passage ist, dass er einen wesentlichen Aspekt auslässt, der aber nicht ausgelassen werden kann, sofern man wissen will, wie das Eisen heiß werden konnte. Was nämlich auch stimmt, ist, dass, wer etwas anderes schreibt als "Es gibt nur zwei Geschlechter", damit rechnen muss, als "Transgender-Ideologe" bezeichnet zu werden.

Was sich durch all die reflexartig geführten Debatten zu emotional besetzten Themen zieht, die in den vergangenen zehn Jahren geführt wurden, ist die fast verlässlich falsche Behauptung, es gehe einseitig zu; "alle" würden "das Gleiche" schreiben, und deshalb müsse man nun mal "dagegenhalten", schon weil die anderen mit ad-hominem-Angriffen arbeiten würden, während man selbst seelsorgerhaft nur das Wohl aller Mitglieder der Gemeinschaft im Blick habe. Es gibt so viele, die mit ihren eigenen Kampfbegriffen dagegenhalten wie "'woke' Trans-Ideologie" oder "Umerziehung". Will jeder einzelne behaupten, David zu sein, der einsam gegen Goliath kämpft?

So wie ich das sehe, geht es bei praktisch allen Themen, die ich Interaktionstriggerthemen nennen würde, zweiseitig zu. Nicht 50:50 im quantitativen Verhältnis vielleicht, das mag schwanken. Qualitativ aber sehr wohl. Die Verzweiseitigung vieler Debatten ist das Problem, nicht ihre Einseitigkeit. Wirklich dagegenzuhalten hieße dann doch, Fragen zu stellen; zu versuchen, das Problem zu durchdringen; Leuten zuzuhören, die sich – nicht zwangsläufig aus persönlicher Betroffenheit, aber das wäre ein möglicher Ansatz – gut auskennen; nochmal nachzufragen; also in die Eistonne zu steigen und dem 768. Meinungsbeitrag keinen weiteren folgen zu lassen, sofern man nicht viel zur Erhellung beitragen kann.

"Zu manchen Themen soll es keine Debatte geben", schreibt Harald Martenstein. Ja nun. Da ist die Intention von lauten Teilgruppen sicher richtig beobachtet. Man kann nicht nur, aber besonders gut auf Twitter beobachten, wie schnell eine Kontroverse in eine Beschimpfungsorgie umschlagen kann. Das allerdings ist keine Strategie, die jemand exklusiv hat.

Und ob diejenigen, die Veränderungen ablehnen, an einer Debatte über die Sache wirklich das gesteigerte Interesse haben, das sie zu haben behaupten – daran könnte man eh nochmal ein Fragezeichen setzen. Wer will denn keine Debatte: die, die nicht mal nachdenken, was jemand wirklich gemeint haben könnte, bevor sie losledern? Die, die Geschlecht unter Verweisen auf Seeanemonen binär verstehen? Die, die nichts anderes akzeptieren, als das, was sie selber kennen, denn es ging ja früher auch ohne?

Ich habe die Begriffe "Interaktion" und "Trigger" in eine Suchmaschine eingegeben und stieß auf einen Text, in dem es um Marketingkonzepte geht: Die "Zukunft des Marketings" liege "in der triggerbasierten Interaktion", heißt es da. Ein Hauptproblem der Debatten, die wir über emotional aufgeladene Themen führen, ist wohl, dass wir es mit Instrumenten tun, die sich kaum von denen des Marketings unterscheiden. "Während Villabajo noch schrubbt, wird in Villariba schon gefeiert", sagt uns die Werbung. Und wer was anderes sagt, ist blöd. Journalismus wäre es aber doch, wenn man in Villabajo nachfragt, aus welchem Grund man dort lieber ein anderes Spülmittel benutzt.

Es gibt mehrere Arten der Polarisierung

Nun ja, werden Sie nun vielleicht sagen: "Eine liberale Demokratie zeichnet sich zwangsläufig durch Polarisierungen aus." Und wenn Sie sogar exakt diese Formulierung verwenden, dann haben Sie wahrscheinlich Samira El-Ouassils "Spiegel"-Kolumne gelesen, die "Mehr Polarisierung wagen!" überschrieben ist. Sie schreibt darin genau das: Es gibt widerstreitende Interessen und Perspektiven, und dann muss eben gestritten werden. Aber:

"Es gibt verschiedene Formen der Polarisierung. Es lässt sich zwischen der themenbezogenen und der (…) affektiven bzw. gruppenbezogenen unterscheiden. Eine themenbezogene Polarisierung, wie im Falle der demokratischen Pluralität, ist struktureller Teil heterogener Gesellschaften. Eine gruppenbezogene Polarisierung verhindert jedoch politische und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, indem sie geistige Opponenten zum Feind erklärt."

Letztere ist demnach das Problem. Das allerdings ist tatsächlich eines. Denn:

"Hier wird die diskursive Aufgeladenheit, in welcher unterschiedlichste gesellschaftspolitische Themen verhandelt werden, zum Treiber einer gesellschaftlichen Aushöhlung, die über die Verteufelung des gedanklichen Kontrahenten funktioniert. Egal ob die pandemischen Maßnahmen, der Krieg oder"und da wären wir wieder beim Thema"aktuell die Debatten über das Geschlecht sowie den Begriff 'woke' (was auch immer damit gemeint ist) – die Meinungen können im Widerstreit sein, aber sie dürfen nicht zu einer Entmenschlichung derer, die sie äußern, führen."

Und damit nun zu den anderen Themen des Tages im…


Altpapierkorb (RBB, "embedded" mit der russischen Armee, Journalismus auf Plattformen)

+++ Der "Mauschel-Verdacht", wie es die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" nennt, die Vorwürfe also, mit deren Aufklärung der Rundfunk Berlin-Brandenburg beschäftigt ist (zuletzt im Altpapier vom Montag), sind auch heute Thema in jener Zeitung sowie in der "Welt" und im "Tagesspiegel". Die Arbeiten am geplanten Digitalen Medienhaus des RBB in Berlin werden demnach "vorläufig ruhen", wie der Sender zitiert wird. Intendantin Patricia Schlesinger habe das damit begründet, dass keine Prozesse fortgesetzt werden sollen, "deren ordnungsgemäßer Beginn gerade öffentlich in Frage gestellt wird", bis die Vorgänge aufgeklärt seien.

+++ Der "Tagesspiegel" hat mit Winand Wernicke gesprochen, der für das ZDF – nach längeren Diskussionen darüber, ob man eine Einladung des russischen Verteidigungsministeriums annehmen soll, wie er sagt – die heikle Aufgabe übernommen hat, als Reporter im Donbass embedded die russische Armee zu begleiten. "Auflagen, dass man mit bestimmten Personen nicht reden durfte oder ähnliche Dinge, hat die russische Seite nicht gemacht. Aber Busse, Routen, Drehorte hat die russische Seite ausgesucht."

+++ "Das Verhältnis zwischen Öffentlich-Rechtlichem Rundfunk (ÖRR) und Social-Media-Plattformen ist kompliziert", hieß es kürzlich im Altpapier, als es um eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung ging, "Journalismus in sozialen Netzwerken. ARD und ZDF im Bann der Algorithmen?". Studienautor Henning Eichler sagt im Interview mit dem European Journalism Observatory: "Von Redaktionen hieß es in den Interviews, sie müssten sich extrem schnell den neuen Algorithmen anpassen. Gelingt das nicht, ist im Extremfall ein journalistisches Format in Gefahr. Der Algorithmus priorisiert das Format so schwach, dass es keine relevante Reichweite mehr erzielt. Das zeigt die direkte Abhängigkeit von den Plattformen…"

+++ … Während dwdl.de mit zwei ZDF-Leuten, Eckart Gaddum und Andreas Grün, darüber spricht, was die Abhängigkeit von Plattformen für das journalistische Arbeiten bedeute. Gaddum sagt etwa: "Auch dort gelten unsere journalistischen Gebote wie Ausgewogenheit, Gründlichkeit usw... Außerdem gehört unsere Loyalität nicht den Plattformen, sondern dem Publikum. An dessen Erwartungen orientieren wir uns. Das ist im Fernsehen auch nicht anders. Und wenn die Karawane weiterzieht, dann ziehen wir mit. Von Facebook haben wir uns hier und da schon verabschiedet." 

Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.

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