Das Altpapier am 25. Juli 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 25. Juli 2022 Extremwetter ist keine Sportart

25. Juli 2022, 10:53 Uhr

Warum die ständige Berichterstattung über "Rekordwerte" bei den Temperaturen kontraproduktiv sein könnte. Warum es angemessen ist, das Grauen des Krieges zu ästhetisieren. Warum "Being Jan Ullrich" ein "Fernsehmärchen" ist und keine Annäherung an einen Sportler. Ein Altpapier von René Martens.

Rekorde, Rekorde, Rekorde

Wie man über die Themen Hitze und Klima so berichtet, "dass die Adressaten die Bedrohungen ernst nehmen, aber gleichzeitig so, dass man keine Panik verbreitet", war gerade erst am Donnerstag Thema im Altpapier. Diese Frage wird sich in diesem Sommer (und in den kommenden Sommern) ja immer wieder stellen. Mit einer wichtigen Nuance der Extremwetter-Berichterstattung befasst sich nun Novina Göhlsdorf im FAS-Feuilleton: "Die verbreitete Angewohnheit, Temperaturanstiege in Rekordwerten zu verkünden oder sie als User gebannt im Liveblog zu verfolgen", treibe "die Schau- und Schauderlust an Katastrophenszenarien" an, kommentiert sie. Nun sind solche Rekordwerte natürlich relevant, aber nicht unbedingt für den Normalbürger. Göhlsdorf schreibt:

"Für die Klimaforschung sind Spitzenwerte bedeutsam, weil ihre Verrechnung vom einzelnen Wetterereignis zu einem brauchbaren Klimawissen führt."

Ihr Fazit:

"Im Begriff des Rekords und in der medialisierten Rekordjagd steckt der Gedanke von Wettbewerb, Leistungssteigerung, Erfolg. Und im täglichen, sogar stündlichen Blick auf die 'geknackten' Rekorde die heimliche Hoffnung darauf. Dieses sonderbare apokalyptische Ranking wird mindestens so sehr genossen wie befürchtet und simuliert ein Spiel, das keines ist."

Wir haben es hier mit einem noch relativ neuen Kapitel der Sportifizierung des Journalismus zu tun, also, grob gesagt, der unschönen Sitte, mit dem Blick von Sportberichterstattenden Themen zu betrachten, denen man damit nicht im Geringsten gerecht wird. Siehe dazu auch: Politikjournalistinnen und -journalisten, die "so tun, als wären Umfragewerte für den Politik- und Nachrichtenjournalismus so relevant wie Wettkampfergebnisse für den Sportjournalismus" (Altpapier).

Um mal ins tendenziell Kalauerhafte abzugleiten: Nur weil es sowohl Extremsport als auch Extremwetter gibt, ist Extremwetter noch lange keine Sportart.

Mit anderen Aspekten der Klimaberichterstattung beschäftigt sich Christian Stöcker in seiner aktuellen "Spiegel"-Kolumne:

"Die Prediger des 'Weiter so' (versuchen) den zweifelsfreien Zusammenhang zwischen mehr Extremwetter und Erhitzung weiterhin ständig in Zweifel zu ziehen (…) Das ist eine – natürlich absolut selbstzerstörerische – Propagandamaßnahme, die funktionieren kann, wie eine britische Überblicksstudie zeigt. Daraus folgt: Sowohl verantwortungsbewusste Medien als auch Politiker müssen der immer noch virulenten Propaganda wesentlich entschlossener entgegentreten. Die Fossilbranchen sind bereit, die Zukunft der Menschheit aufs Spiel zu setzen. Es wird Zeit, sie entsprechend zu behandeln."

Nur weil nichts dafür spricht, dass (zumindest hiesige) Medien die Fossilbranchen "entsprechend behandeln" werden, spricht nichts dagegen, es zu fordern, würde ich sagen. Eine darüber hinaus gehende "To-do-Liste für deutsche Institutionen, deutsche Medien und die Politik" enthält der Text auch noch.

Dass "gerade jüngere Klimajournalisten sich darüber beschwerten, dass "ihnen oft Aktivismus und die Verletzung journalistischer Normen vorgeworfen wird, wenn sie häufiger als bisher über die Klimakrise berichten wollen" - das hat Wolfgang Blau Mitte der vergangenen Woche in einem Interview mit dem Center for Journalism Ethics konstatiert, das an der University of Wisconsin angesiedelt ist:

Vor allem älteren Journalistinnen und Journalisten ruft Blau daher zu:

"Der Journalismus verdankt dem Aktivismus viel, und Journalisten sollten nicht abwertend über Aktivismus sprechen. Ohne die Arbeit von Aktivisten vergangener Generationen hätten wir keine Meinungsfreiheit, kein Wahlrecht und keine Pressefreiheit. Aktivismus und Journalismus sind beide wertvoll."

Blau betont aber auch:

"They are just not the same."

In Sachen "War porn"

Was ist eigentlich "war porn"? Als vor acht Jahren ein Buch unter diesem Titel herauskam, waren damit vor allem besonders brutale Bilder gemeint - wie unter anderem aus einem damaligen "Spiegel"-Gespräch mit dem Buchautor Christoph Bangert hervorgeht. Wenn dagegen der Fotograf Ron Haviv vorwurfsvoll mit diesem Begriff konfrontiert wird, dann ist eher das Gegenteil gemeint, nämlich ästhetisierte Kriegsbilder. Das legt er in einem Gespräch mit dem neuen "Spiegel" (€) dar. Der 57-jährige, der "in den vergangenen 30 Jahren mehr als 100 Länder" bereiste und zuletzt auch aus der Ukraine berichtete, sagt über seine Arbeit:

"Die Ästhetik ist sehr wichtig. Ich will, dass der Betrachter über Licht, Farben und Komposition eine emotionale Beziehung zum Foto entwickelt. Gerade wenn der Gegenstand heikel ist, will ich, dass man nicht wegschauen kann (…) Nehmen Sie einen toten Körper. Sie können den fotografieren wie in einer Leichenhalle. Sie können aber auch versuchen, eine Geschichte zu visualisieren. Indem Sie nur eine Hand zeigen. Oder Schmutz auf der Haut. Sodass der Betrachter unbedingt mehr über diesen Toten wissen will. Wessen Hand ist das? Was ist passiert?"

Woraufhin Interviewer Hauke Goos fragt, ob "man das Leid anderer künstlerisch gestalten" darf. Haviv sieht es so:

"Ich werde oft dafür kritisiert (…) (Dann) heißt es: Das ist (…) Kriegspornografie. Wie kannst du es wagen, heißt es dann, das Grauen zu ästhetisieren? Das sei respektlos den Opfern gegenüber. Ich bin komplett anderer Meinung. Jedes Jahr wird weltweit eine Billion Fotos gemacht. Wie sticht man da heraus? Das geht nur über Emotionen."

Autoren als Komplizen

"Gründlich, beeindruckend"; "kritisch, aber mitfühlend"; "preisverdächtig"; "zeigt eindrucksvoll, warum es lohnt, in guten Journalismus zu investieren" - so haben in den vergangenen Wochen beispielsweise die "Süddeutsche", die FAZ (€), der freie Sportjournalist Florian Reis und die unter anderem Sportjournalismus lehrende Hochschulprofessorin Jana Wiske die ARD-Dokuserie "Being Jan Ullrich" von Ole Zeisler und Fritz beurteilt.

Anne Rabe ("54 Books") hat eine ganz andere Sichtweise auf die Serie entwickelt. Zunächst sah sie es wie die Mehrheit jener, die sich bisher zur Serie geäußert haben:

"Die Erzählung, der ich in 'Being Jan Ullrich' gefolgt bin, ist (…) die Erzählung einer Niederlage und eines gefallenen Heldens. Eingängig beim ersten Ansehen und so verführerisch in ihrer Erzähltechnik und -logik, dass ich geneigt war, Zeisler und Fritz zu glauben."

Doch dann hörte sie den Podcast zur Serie, in der die Macher sich zu den Hintergründen äußerten, bekam den Eindruck, "dass da irgendetwas nicht stimmt", und schaute sich die Mammutproduktion noch einmal an. Für den Leser ist das natürlich ein außergewöhnlicher Glücksfall. Außergewöhnlich insofern, als Journalisten normalerweise nicht die Zeit haben, sich eine fünfteilige Serie zweimal anzugucken. Rabe war aber aus zwei Gründen besonders motiviert, zum einen, weil sie, sehr vereinfacht gesagt, Jan-Ullrich-Fan war, zum anderen, weil sie als Drehbuchautorin arbeitet und ein berufliches Interesse daran hat, dramaturgische Funktionsweisen zu durchdringen. Rabe schreibt:

"Als ich nun alles ein zweites Mal sehe, ist mir das, was ich da sehe, unangenehm. Man hat Jan Ullrich, einen realen Menschen, zu einer Figur gemacht, zu jemandem, der in das Bild passt, das sich am besten verkaufen lässt. Jan Ullrich wird die Projektionsfläche für die perfekte Geschichte, das perfekte Rad-Duell, den perfekten Fall nach einem schnellen, hohen Flug (…) (Die) Autoren (…) machen im Grunde das, was viele mit Jan Ullrich immer schon gemacht haben."

Rabes vielleicht härtester Vorwurf:

"Sie machen sich dabei vielleicht sogar zu Komplizen eines der größten Verbrecher, den der Radsport in den 90er und 00er Jahren gesehen hat – Lance Armstrong."

Warum? Das lässt sich hier kaum zusammenfassen, Rabes Text hat knapp 40.000 Zeichen. Nur so viel:

"Am Ende der dritten Folge darf Armstrong noch einmal die Einschätzung abgeben, dass Ullrich sein Talent nicht genutzt hätte. Aber stimmt das so? Wann ist es denn genug? Einmal die Tour zu gewinnen, reicht nicht? Es hätten schon die überirdischen zehn Mal sein müssen, zu denen er, so die Behauptung Armstrongs, in der Lage gewesen wäre? (…) Aber wo steht denn geschrieben, dass ein Tour de France Sieg nicht reicht? Wem gegenüber ist Ullrich Rechenschaft schuldig, was seine Dopingvergehen betrifft? Uns Zuschauer*innen, die wir immer noch zusehen, auch wenn es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass Spitzensport im Allgemeinen und Radsport im Speziellen ohne Doping ablaufen würde? Den Reportern, die jegliche journalistische Distanz aufgaben, um auch ein großes Stück vom fetten Kuchen abzubekommen? Seinen Teamkollegen und Chefs, die in das gleiche System involviert waren und davon auch profitiert haben? Oder geht es am Ende gar nicht um Jan Ullrich, sondern bloß darum eine Geschichte zu erzählen?"

Das Fazit der "54 Books"-Autorin:

"Jan Ullrich wird (hier) (…) Objekt, zur Fiktion, zur dramatischen Figur. Als Gefangener der Urteile über ihn, der Archivmaterialien und Projektionen. Diese zweieinhalb Stunden Fernsehmärchen sind keine Annäherung an den Sportler, kein Versuch, ihn zu verstehen. Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn die Autoren Zeisler und Fritz ein anderes Format gewählt hätten? Ein fiktionales, eines, das durch seine Form nicht behauptet, eine Art Wahrheit zu erzählen? Es wäre ehrlicher gewesen."


Altpapierkorb (Patricia Schlesinger, "Babylon Berlin", Ulrike Guérot) 

+++ Am Dienstag hielt es Patricia Schlesinger, die Intendantin des RBB, für eine gute Idee, nicht für eine Stellungnahme einer Hauptausschuss-Sitzung des brandenburgischen Landtages zur "RBB-Affäre" ("Berliner Zeitung", €) zur Verfügung zu stehen. "Mit Rücksicht auf das Compliance-Verfahren wolle man derzeit keine weiteren öffentlichen Stellungnahmen abgeben, 'auch um dem Vorwurf vorzubeugen, wir wollten das Verfahren beeinflussen'", zitierte die "Süddeutsche" dazu einen Sprecher (siehe auch Altpapier von Mittwoch). Wenige Tage später hat Schlesinger nun aber doch sehr öffentliche Stellungnahmen abgegeben, nämlich unter anderem in einem Interview mit dem "Tagesspiegel". Das sei "schwer irritierend", schimpft nun der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Potsdamer Landtag, Daniel Keller. Darauf geht der "Tagesspiegel" in einem weiteren Beitrag ein. Man könnte also durchaus von einer "selektiven und zuweilen irrlichternden Kommunikationsstrategie" sprechen, wie es die Freien-Vertretungsorganisation "RBB Pro" tut. Das Wörtchen "selektiv" bezieht sich auch oder vor allem hierauf: "Auch die Freienvertretung (bekommt) Informationen über die vermeintlichen Missstände und Verfehlungen im rbb fast nur noch aus der Presse, nicht aus erster Hand."

+++ X-Filme, die Produktionsfirma von "Babylon Berlin", geht gegen das rechtsextreme Magazin "Compact" vor, das ein Sonderheft zur Serie herausgebracht hat, das nach der Einschätzung der "Süddeutschen" "wirkt, als hätten die Serienmacher das Heft mit herausgegeben oder zumindest autorisiert". SZ-Autor Peter Laudenbach stellt fest: "Dass sich das Magazin aus dem Milieu der Corona-Leugner bei 'Babylon Berlin' bedient, erinnert unangenehm an die Querdenker-Verirrungen des Schauspielers Volker Bruch, die das 'Compact'-Heft genüsslich ausbreitet: Bruch wird zum Widerstandskämpfer gegen 'die Propaganda-Medien' und 'Mainstream-Zombies' stilisiert."

+++ "Professorin fürs Querdenken" lautet die Headline, die sich die Redaktion der "Jungle World" für einen in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung erschienenen Text über die von den Medien trotz oder wegen ihrer Irrlichtereien "hofierte" Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ausgedacht hat. Autor Tom Uhlig konstatiert: "Guérots Radikalisierungsprozess hat sich in aller Öffentlichkeit abgespielt und ist durch zahlreiche Talkshow-Auftritte und Interviews gut dokumentiert."

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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