Das Altpapier am 27. Juli 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 27. Juli 2022 Erhitzte Kartoffeln

27. Juli 2022, 08:23 Uhr

Der Berichterstattung über die Gaskrise fehlt es nicht an schlimmen Szenarien, aber womöglich an Fachwissen. Das Allensbach-Institut findet mehr Konsens im Land als viele glauben. Und Armin Nassehi befürchtet einen Abnutzungseffekt medialer Debatten über den Ukrainekrieg. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Horrorszenarien

Fachberichterstattung und Herumgemeine sind zwei unterschiedliche Spielarten des Journalismus. Die zweite Spielart, das Herumgemeine, kostet in der Regel nichts oder nicht viel. Der erste kann auch mal etwas teurer für die Kundschaft werden. Altpapier-Autor René Martens schreibt bei "Übermedien" in einem Artikel über die Berichterstattung über die Gaskrise: "'Energate Gasmarkt' und 'Montel News' sind die zentralen Player in diesem Newsletter-Gewerbe, sie verlangen 400 Euro pro Monat für eine Einzelnutzerlizenz."

Wer sich’s leisten kann, kriegt also das richtige Zeug. Wer weniger hat, bekommt flotte Kommentare und Zuspitzungen – in der aktuellen Situation zum Beispiel Horrorszenarien, die an den "Hungerwinter 1946/1947" erinnern und gern auch ein wenig ausgeschmückt werden, mit Bildern von Kindern etwa, die sich damals ihre Finger an erhitzten Kartoffeln wärmen mussten.

Es geht hier heute also um die Gas- und Energie-Berichterstattung, die Martens in einigen Schattierungen analysiert. Spoiler: Das Thema ist komplex, und es ist nicht alles schlecht. Aber…

"(k)nallige Formulierungen, die ein schreckliches Szenario beschreiben, ohne zu erklären, wie der Autor oder die Person, die das knallige Zitat geliefert hat, zu ihren Schlüssen kommt, verunsichern die Menschen und lassen sie mit den Problemen allein" –

so zitiert er zum Beispiel Peter Lindner vom Bonn Institute für Journalismus und konstruktiven Dialog. Und der ZDF-Energiejournalist Hans Koberstein von "frontal" wird zitiert:

"Generell ist bei Energiethemen zu beobachten, dass das Grundlagenwissen bei den allermeisten Journalistinnen und Journalisten fehlt, was verständlich ist, weil das Thema kompliziert ist".

Vor allem die Berichterstattung über Gas sei schwierig, weil es sich um einen "verschlossenen Markt" handle und die Expertinnen und Experten rar seien. Koberstein sehe ein "Problem darin, dass 'der Wärmesektor in den Medien komplett unterbelichtet' werde", während die Aufmerksamkeit, "die dem Thema Atomkraftwerke gegeben wird", umgekehrt proportional zur Bedeutung sei.

"'Auf der einen Seite ist die Berichterstattung komplett übertrieben und auf der anderen komplett untertrieben (…). Übertrieben sind Pauschalisierungen im Sinne von: Es gibt kein Gas mehr, und dann sitzen wir alle zu Hause und frieren. Das ist kompletter Blödsinn. Natürlich wird es weiterhin Gas geben.’ Die große Frage sei aber, wo – und wo nicht. Auch viele Marktteilnehmer wüssten nicht, was passieren wird."

Mit Nichtwissen freilich lässt sich in manchen Spielarten des Journalismus aber nicht unbedingt gut umgehen. Nichtwissen haben die Leserinnen und Leser im Zweifel selber.

Ist das Land gespalten?

Damit zum nächsten Thema – mit der an Niklas Luhmann angelehnten und freilich großen Frage: Wenn wir das, was wir wissen, aus den Medien wissen, was wissen wir dann eigentlich?

Wir wissen zunächst einmal das, was und worüber Medien berichten. Und so nehmen wir zum Beispiel an, dass das Land gespalten sein könnte. "Atomkraft spaltet die Ampel" ist zu lesen. "Corona-Maßnahmen spalten Deutschland", das sowieso. Auch der Streit über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine "spaltet die Deutschen". Und nach Silvester 2015/16 "kippte die Stimmung", als stünde das Land auf einer großen Wippe und müsse einen Finalsieger suchen. Die Spaltungsmetapher begegnet uns in verschiedenen Varianten in der Medienberichterstattung ständig.

"Dass die deutsche Gesellschaft gespalten, polarisiert ist, gilt als Tatsache und Gefahr für die Demokratie. Auch die Bevölkerung selbst ist mit überwältigender Mehrheit überzeugt, dass die Gesellschaft bei vielen Themen gespalten ist; nur 17 Prozent glauben, dass es bei vielen Fragen einen breiten Konsens gibt."

Das schreibt Renate Köcher vom Allensbach-Institut in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo sie die Ergebnisse der neuesten Umfrage ihres Instituts zusammenfasst, in der es diesmal besonders um Polarisierungstendenzen geht (Seite 8, Anreißer auf Seite 1). Man darf allerdings das Hauptverb des ersten zitierten Satzes nicht überlesen: "Dass die deutsche Gesellschaft gespalten, polarisiert ist, gilt als Tatsache". Ist es eine?

Köchers Text läuft auf zwei Bemerkungen hinaus:

  • "Das Gesellschaftsbild ist stärker von Kontroversen geprägt als die persönlichen Erfahrungen."

Und:

  • "Insgesamt ist der gesellschaftliche Konsens in vielen Fragen wesentlich breiter, als die Bevölkerung vermutet."

Bei vielen Themen gebe es nämlich "einen breiten Konsens",

"angefangen bei den politischen Prioritäten der Bürger, ihren Vorstellungen, wovon die Zukunft des Landes abhängt, über die Idealvorstellungen für die weitere Entwicklung der Gesellschaft, die Unterstützung für die Mitgliedschaft in der EU wie in der NATO, die Überzeugung, dass es zu Demokratie und Marktwirtschaft keine überzeugenden Alternativen gibt, bis hin zu der breiten Unterstützung für den Sozialstaat als Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber den Schwächeren, dem Rückhalt für die meisten sozialpolitischen Maßnahmen, die Grundhaltung zur Energiewende oder zu Gleichstellungsthemen. Die Felder, auf denen sich die große Mehrheit einig ist, sind wesentlich zahlreicher als heftige Kontroversen, die sich durch weite Teile der Bevölkerung ziehen."

So kann man die Gesamtsituation natürlich auch zusammenfassen: Das Land ist nicht total zerstritten, außer bei manchen besonders kontroversen Themen.

Wenn aber das Land weniger gespalten wäre, als viele glauben; wenn das Gesellschaftsbild stärker von Kontroversen geprägt ist als die persönlichen Erfahrungen es sind; wenn es also demnach wohl vor allem vermittelte – mediale – Erfahrungen einer Spaltung und Polarisierung gibt: Hieße das nicht, dass die Spaltungstendenzen medial überbetont würden? Würden wir auf den Gebrauch des Worts "Spaltung" öfter mal verzichten, könnten wir Journalistinnen und Journalisten jedenfalls wahrscheinlich nicht allzu viel falsch machen.

Der Abnutzungseffekt medialer Bilder

Das Narrativ der Spaltung der Gesellschaft läuft auf teilweise binär geführte Debatten hinaus oder wird von ihnen gespeist.

"Wir streiten uns um all die sogenannten 'woken' Dinge – und sehen nicht, dass das die große Errungenschaft einer Gesellschaft ist, die Differenz aushalten und Pluralismus ermöglichen könnte."

Das schrieb der Soziologe Armin Nassehi dieser Tage in der "Süddeutschen Zeitung". Im medialen Ukraine-Diskurs erleben wir, so Nassehi, etwa einen "immer wieder wiederholten Schlagabtausch zwischen Scheinalternativen ('Verhandlungen’ vs. 'Waffen')."

Eine Sorge, die Nassehi teilt, ist, dass nach all der Wiederholung der Kriegsbilder und der "Informationen, die einen Unterschied machen", durch ihre "serielle Wiederkehr" ein "Abnutzungseffekt" eintritt:

"Irgendwann lohnt es sich gar nicht mehr, sich die Dinge anzusehen – und irgendwann lohnt es auch nicht mehr, sie zu senden. Das gilt nicht nur für den Krieg gegen die Ukraine, auch andere krisenhafte Themen erleiden dieses Schicksal, wie man am Verschwinden der Pandemie aus der ersten Reihe trotz erwartbarer Entwicklungen im Herbst oder wie man an der Nachrichtenlage über den Klimawandel beobachten kann. Selbst die eindringlichsten Bilder haben wir schon gesehen."

Vor allem, schreibt Nassehi, verringere die Wiederholung aber nicht nur die Aufmerksamkeit,

"sondern verschiebt auch die Sache selbst. Die Bereitschaft, der Ukraine zu helfen, Sanktionen aufrechtzuerhalten, Kriegsziele zu definieren, Loyalität für schwierige Entscheidungen zu gewinnen, Risiken einzugehen und nicht zuletzt Zustimmung zu Paradigmenwechseln zu generieren, sinkt paradoxerweise mit der Wiederholungsrate der schrecklichen Bilder des Krieges. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich – auf die Folgen für uns, auf steigende Preise und soziale Verwerfungen, auf die Sicherheit der Energieversorgung etc."


Altpapierkorb (Frankreich, RBB, Meinungsbild in Russland, Bettina Gaus, Amazon Prime)

+++ Wie es in Frankreich nach der Rundfunkreform mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk weitergeht, nachdem die Gebührenabschaffung im Parlament beschlossen worden ist, darüber schreibt die "FAZ" auf der Medienseite. "Der Abbau hat schon begonnen. Nach den Sommerferien werden die Spätnachrichten der dritten Programme FR3 eingestellt." Andererseits laufen mehrere Petitionen gegen die Gebührenabschaffung, so Jürg Altwegg, und "(d)ie obersten Richter haben schon angedeutet, dass sie die Abschaffung der Gebühren als verfassungswidrig einstufen könnten." Das Gute, so Altwegg, sei die Debatte. "Plötzlich interessiert man sich in Frankreich mit seltener Neugierde für die Regelungen in den Nachbarländern Deutschland und Italien. Das 'skandinavische Modell' einer Steuerfinanzierung steht zur Diskussion."

+++ Die Aufklärung der Vetternwirtschaftsverdachts-Affäre beim RBB ist bei den Preisen für Abendessen angekommen, die Intendantin Patricia Schlesinger bei sich zu Hause für Gäste ausgerichtet hat: "Laut einem Schreiben der Intendantin an die Staatskanzlei Brandenburg", die Fragen zu möglichen Interessenkonflikten u.a. bei Auftragsvergaben, aber auch bei Abendessen auf RBB-Kosten in Schlesingers Privatwohnung gestellt hat, gab es im Zeitraum von 2018 bis 2022 insgesamt 'neun Essen mit Multiplikatoren zu geschäftlichen Zwecken'", berichtet der "Tagesspiegel". "Die Personenanzahl variierte dabei zwischen 3 und 11 Personen. Die durchschnittlichen Kosten pro Gast für das Essen (ohne Getränke) lagen zwischen 23,12 Euro und 56,53 Euro brutto". Angaben, die Brandenburger Landespolitiker nicht ausreichend finden: SPD-Medienpolitiker Erik Stohn befand zum Beispiel, "offen bleibe weiterhin der Nutzen der Essen für den RBB und die Gebührenzahler".

+++ Einen Einblick in die Stimmungslage der russischen Bevölkerung gibt Jens Siegert in den "Blättern für deutsche und internationale Politik": "Wer sich vorwiegend aus dem Internet informiere, sei doppelt so kritisch wie diejenigen, die auf traditionelle Medien und vor allem das Fernsehen zurückgriffen. Auch das Alter der Befragten spiele eine Rolle. Ältere Menschen seien doppelt so oft wie Jüngere der Meinung, die 'Ukraine sei nicht selbstständig, sondern von der Nato/dem Westen angestiftet'. Umgekehrt bezeichneten Jüngere sechsmal häufiger als Ältere Russland als einen 'Aggressor', der internationales Recht verletze", schreibt er unter Berufung auf Umfragen des Lewada-Zentrums, das "angesichts der Zensur und Angst vor Strafverfolgung wegen verbotener Meinungsäußerungen vor besonderen Schwierigkeiten steht". Gleichwohl sei die Unterstützung in der russischen Bevölkerung für Putin und den Krieg insgesamt hoch.

+++ Was die Berichterstattung über Krieg angeht, lohnt ein Blick in ein Buch der 2021 verstorbenen Journalistin und langjährigen Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin Bettina Gaus, "Frontberichte. Die Macht der Medien in Zeiten des Krieges" von 2004, das nur noch gebraucht zu bekommen und auch nicht in allzu vielen Bibliotheken verfügbar zu sein scheint. Es handelt von einer anderen Medienära, und es mag sein, dass das so über den Ukrainekrieg nicht genau so geschrieben werden könnte. Doch es ist ein auch heute lesenswertes Buch, eine Einladung, die Berichterstattung zu hinterfragen – zumindest jene Berichterstattung, die Komplexität auf einen Aufsager reduzieren muss.

"Die Behauptung, wir lebten in einer Informationsgesellschaft, ist letztlich ein Ausdruck kollektiver Selbsttäuschung", schrieb sie damals. Es gebe einen "Wunsch nach Zuspitzung, nach Personalisierung sachlicher Fragestellungen und Probleme, nach einer Dynamik der Ereignisse, kurz: nach einer Berichterstattung, die nicht langweilt".

+++ Und es wird gemeldet, dass Amazon Prime inflationsbedingt die Preise deutlich anzuheben plane.

Neues Altpapier gibt es am Donnerstag.

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