Das Altpapier am 2. August 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 2. August 2022 So wie einst Christian Wulff?

02. August 2022, 09:45 Uhr

Über den "Fall Schlesinger" und Vorwürfe gegen die ARD-Vorsitzende berichtet niemand nicht mehr. Wo sich über Dienstwagen-Fragen und weitere RBB-Probleme gut etwas hören lässt: beim RBB. Außerdem: "Twitter ist ein Schlachtfeld geworden". Und ein nicht nur fernsehhistorisch wichtiger Kuss. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Die sog. soz. Medien und die Gesetze

Der Fall "#drlisamaria" (AP gestern) zieht weitere Kreise. In Österreich werden, wie häufig bei Berichten über Suizide, Vorwürfe erhoben, außer (nicht überraschend) gegen die "Kronen Zeitung" auch gegen den gestern hier zitierten "Falter"-Chefredakteur Klenk ("Standard"). Außerdem gibt es jede Menge weitere Einschätzungen:

"Die Meinungsfreiheit muss verteidigt werden. Doch sie endet, wo das Strafrecht beginnt. Was in der realen Welt verboten ist, muss auch aus der virtuellen verbannt werden. Mordaufrufe, Beleidigungen, üble Nachrede, Volksverhetzung, die Billigung von Straftaten, die gefährdende Verbreitung von 'Feindeslisten' mit personenbezogenen Daten: Das Strafrecht wurde in den vergangenen Jahren verschärft",

wägt der "Tagesspiegel" ab. Wobei die Verschärfung unter anderem an der Stelle stockt, die Plattformen verpflichten soll, "möglicherweise strafbare Inhalte, inklusive IP-Adresse, an eine beim BKA angesiedelte Stelle" zu melden. Das ist auch aus Datenschutzgründen strittig. "Dass das deutsche Recht und das Grundgesetz auf Twitter keine Anwendung findet", beklagt der gestern als Twitter-Aussteiger hier erwähnte Würzburger Anwalt Chan-jo Jun bei Deutschlandfunks "@mediasres" (nur Audio): "Twitter ist ein Schlachtfeld geworden". Selbst übelste Beleidigungen blieben dort stehen, auch weil das Bundesamt für Justiz "das Thema aussitzt". Auf die Nachfrage, ob Twitter nicht doch das wichtigste Netzwerk für politische Diskussionen bleibt, sagt er:

"Politiker können es sich fast nicht leisten, nicht auf Twitter zu sein... ich schon."

Bundestagsabgeordnete etwa können vieles ja auch steuerfinanzierten Social-Media-Teams überlassen, ließe sich ergänzen. Ein Interview in Schriftform führte die "taz" mit Katharina Nocun. Auf die Frage, ob die Plattformen "stärker einschreiten" müssten, antwortet die häufig interviewte Expertin:

"Oft ist die Rede davon, dass es an Geld mangelt, um mehr Personal einzustellen. Bei den Gewinnen der Unternehmen kann ich mir das aber nicht vorstellen. Meine Erfahrung ist, erst wenn viele Leute einen Post melden, dann wird er gelöscht."

Jenseits der durchaus schwierigen Datenschutz-Frage steht die, ob internationale Plattformen (neben ihren eigenen AGBs)  ihre Interpretationen deutscher Gesetze durchsetzen sollten, oder ob das besser BKA und deutsche Staatsanwaltschaften tun sollten. Wenn letztere, schlösse sich die Frage an, ob diese Behörden jetzt und künftig genug Geld hätten, um genug neue Stellen zu schaffen (sowie, ob es genug Interessenten für solche Stellen gäbe, die es in vielen Branchen ja eher nicht gibt). So ungefähr sieht die Gemengelage aus.

ZDF-Magazin investigiert gegen ARD-Vorsitzende

Es eskaliert im "Fall Schlesinger", den nun sogar die so Öffentlich-Rechtlichen-freundliche wie Springer-kritische "taz" so nennt und durch ein dreiköpfiges Team erstmals größer für ihre Leser aufdröselt. Was natürlich noch keine Eskalation bedeutet, ebensowenig wie eine neue Pressemitteilung des RBB-Verwaltungsrats, deren bürokratischen Sound man sich auf der Zunge zergehen lassen könnte:

"Die Prüfung wird auch die Vergabepraxis des rbb in Bezug auf Beraterverträge im Zusammenhang mit dem 'gesamtstrategischen Konzept' bzw. der 'gesamtstrategischen Beratungsleistung' (das geplante Digitale Medienhaus betreffend) und mögliche Vorteilsnahmen und -gewährungen durch Organmitglieder und Mitarbeiter des rbb in Bezug auf die in der Presse dargestellten Sachverhalte umfassen."

So wie der Rat da die Formulierungen mit "gesamtstrategisch" in Anführungszeichen setzt, sieht es fast aus als zweifele er inzwischen an einer "Gesamtstrategie". Den (bescheidenen) Nachrichtengehalt der PM fasst der "Tagesspiegel" in lesbarere Worte.

Das klarste Eskalations-Indiz nennt jedoch Hans-Peter Siebenhaar, lange Jahre Medienjournalist beim "Handelsblatt", in der "SZ", für die er nun tätig ist. Er hat einen "Fragenkatalog" zugespielt, okay: vermutlich auch einfach zugeschickt, bekommen, den "Frontal", also eine ZDF-Sendung, "an die ARD-Landesanstalten geschickt" hat. Heißt: Das investigative ZDF-Magazin möchte kritisch über die Vorwürfe gegen die ARD-Vorsitzende berichten. Das dürfte kommenden Dienstag geschehen, denn am 9.8. endet die "Frontal"-Sommerpause [Korrektur um 12.06 Uhr]. "Bis Mittwoch haben die Chefs unter anderem von WDR, BR und MDR nun Zeit zu antworten".

Das ist ungewöhnlich. Zwar konkurrieren ARD und ZDF um die Einschaltquoten beim selben Publikum, senden deshalb gerne eigenproduzierte Krimis gegen eigenproduzierte Krimis und locken manchmal Moderations-Celebrities wie Carmen Nebel oder Mai Thi Nguyen-Kim von einander weg. Doch teure Sportturnier-Übertragungsrechte teilen sie geschwisterlich (schon weil das beiden gestattet, große Teams zu entsenden). Medienpolitisch treten sie stets gemeinsam in Erscheinung. Da passt kaum ein Blatt Papier zwischen die Anstalten-Familien. Aber jetzt – möchte das ZDF die ARD-Vorsitzende stürzen? "In dem Fragenkatalog geht es auch um einen möglichen Rücktritt Schlesingers", macht zumindest Siebenhaar gespannt.

RBB-Stoff zum Hören (u.a. vom RBB)

Wobei der ebenfalls öffentlich-rechtliche Deutschlandfunk in seiner "@mediasres"-Sendung gestern auch einen ebenso nicht gerade von großer Schlesinger-Freundlichkeit geprägten Überblick sendete. Unter anderem wird als Kritikpunkt genannt, dass Schlesinger "mehr verdiene als die MDR-Intendantin, die einer größeren und erfolgreicheren Rundfunkanstalt vorstehe" (kann man hier im MDR ja mal erwähnen). Der Sprecher der RBB-Freien, Christoph Hölscher, sagt dann, dass unter den Mitarbeitenden Ärger über Schlesingers Gehalt nun "der Angst gewichen" sei, dass die auch laufend steigenden Kosten des geplanten "Digitalen Medienhauses" zu Lasten des Programms, also der freien Mitarbeitenden gehen würden.

Wer ja auch eine eine gute und deutlich traditionsreichere Medien-Radiosendung hat: der RBB selbst. Inzwischen ist das "Medienmagazin" vom Wochenende auch in den kompliziert strukturierten Audiotheken zu finden. Moderator Jörg Wagner spricht mit Studiogast Steffen Grimberg (in seiner Funktion als Chef des Berliner DJV-Landesverbands), aber auch mit RBB-Sprecher Justus Demmer und Personalratschefin Sabine Jauer, die überdies dem erwähnten Verwaltungsrat angehört. Das zu hören, lohnt sich.

Vor allem geht's um Dienstwagen-Fragen. Gestern verlinkten wir hier zur "Bild"-Zeitung. Ausführlicher und seriöser berichtete Springers "Business Insider" über den "mondscheinblauen A8 mit 435 PS und samtbeigen Innenraum". "Die Idee mit den Massagesitzen, teilte der RBB mit, habe nicht die Intendantin gehabt", referiert Michael Hanfeld in der heutigen "FAZ", nicht ohne hinzuzukommentieren, "dass sie von den Privatfahrten (Einkäufe erledigen, Ehemann abholen), die ihre Chauffeure erledigt haben sollen", wohl gewusst haben dürfte. Und im RBB-"Medienmagazin" sagt Sendersprecher Demmer geduldig, dass er diese Massagesitze "noch nicht ausprobiert" hat, dass Hersteller Audi der Intendantin nicht etwa einen "Regierungsrabatt", sondern einen "Behördenrabatt" angeboten habe (was ja gleich ganz anders klingt), und dass Schlesinger nun sowohl der Vorwurf gemacht werde, dass sie sich in einem für die finanzschwache Anstalt zu teuren Wagen fahren lasse, als auch, dass sie (die Anstalt, die das ja zahlt!) diesen wegen des Sonderrabatts zu billig bekommen habe. Das sei ja auch paradox. 

Worauf dann Grimberg und Wagner erörtern, dass die bei anderen Rundfunkanstalten verbotene Nutzung des Dienstwagens für private Fahrten beim RBB wohl erlaubt sei, aber die Dienstwagen-Frage ja nur "das i-Tüpfelchen" sei. Das sagt Grimberg, der bei der gemeinsam mit DJV-Bundeschef Frank Überall vertretenen Strategie bleibt, "dass die Intendantin offenbar in erster Linie persönliche Interessen verfolge ...". Eigentlich kritisiert der DJV die Anstalten selten, schon weil viele seiner Mitglieder für sie arbeiten.

Personalratschefin Jauer erklärt als Verwaltungsrat-Mitglied die Beauftragung der externen Hamburger Kanzlei damit, dass die RBB-internen "Compliance"- und Revisions-Abteilungen mit der Fülle der Vorwürfe "einfach überfordert gewesen" seien. Den Satz "Die Gremien sind aufgewacht" sagen sowohl Jauer als Grimberg. Fürs Protokoll: Darin steckt, außer vielleicht positiven Signalen für Gegenwart und Zukunft, ja erst recht eine Aussage über die Vergangenheit, in der diese Gremien noch nicht aufgewacht waren ...  Am Ende erörtert Grimberg nicht nur anhand eigener ARD-Erfahrungen (er war ja Sprecher unseres MDR, als dessen Intendantin Karola Wille der ARD vorsaß), ob Schlesinger noch lange ARD-Vorsitzende bleibt und wer ihr folgen würde, falls nicht. Und fühlt sich, da schon "so viel Porzellan zerdeppert" wurde, gar an den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff bzw. an dessen Sturz erinnert. Worauf Wagner daran erinnert, dass Wulff im Rückblick betrachtet, ja auch viel Unrecht getan wurde ...

Fazit: Wie auch immer man das Thema umkreist, besser für den RBB wird gerade nichts.

Nachrufe (Nichols, Jauer, Wedel)

Sehr unterschiedliche Medienschaffende sind gestorben. Die Schauspielerin Nichelle Nichols war nicht nur "von 1966 an die erste schwarze Frau, die nicht nur als Dienstmädchen durchs Bild huschen durfte, sondern eine Führungsposition innehatte", und zwar auf dem "Raumschiff Enterprise", also in der Fernsehserie "Star Trek". Das dazu passende Martin-Luther-King-Zitat ist im textlich knappen "FAZ"-Nachruf via Youtube-Video in Nichols' eigenen Worten eingebunden. Außerdem war sie bei der "ersten Kussszene zwischen Schwarz und Weiß im US-amerikanischen Fernsehen" ("SZ") dabei.

Der historischste Arbeitstag im Leben des Fernsehjournalisten Joachim Jauer ereignete sich in den späten 1980ern. Am 2. Mai 1989

"berichtete er als einziger westdeutscher Fernsehkorrespondent über den Abbau der Grenzanlagen durch ungarische Grenztruppen. Joachim Jauer formulierte an diesem Tag: 'Heute endet hier an dieser Stelle die vierzigjährige Teilung Europas in Ost und West. Dies wird unabsehbare Folgen haben – für Europa, für die Deutschen in der Bundesrepublik und insbesondere in der DDR'",

daran erinnert sein einstiger Arbeitgeber, das ZDF. Jauer "gehört zu den wenigen Journalisten, die historische Sätze geprägt haben", übernimmt Micha Hanfeld (faz.net) und schlägt dann einen Bogen zum aktuellen Krieg in der Ukraine.

Während Nichols auch neben ihrer Filmtätigkeit positiv gewirkt hat, etwa auch, indem sie Frauen ermunterte, ins All zu streben, also für die NASA zu arbeiten, hat ein vor kurzem gestorbener Filmemacher neben seiner Filmtätigkeit womöglich sehr negativ gewirkt, was juristisch aber nicht mehr geklärt werden konnte. Dennoch bleibt Dieter Wedels Lebenswerk bestehen und sollte auch noch mal im Fernsehen gezeigt werden, meint Barbara Sichtermann. Ihr "epd medien"-Nachruf steht derzeit frei online. U.a. heißt es darin:

"Aber mit dem Regiestil eines Künstlers wie Wedel und mit seinem Gehabe als Gockel und womöglich sogar als Gewalttäter sollte man nicht auch sein Werk verwerfen. Er mag ein Gernegroß und Sittenstrolch gewesen sein, aber die filmischen Sittengemälde, die er hinterlassen hat, besitzen durchaus die Größe, nach der er sich immer gereckt hat."


Altpapierkorb (Beitragsservice, Henri Nannen, Zeitungsverlage-Digitalmilliarde, "FAZ"-Profitabilität, DSF-DAZN-Koop)

+++ "... Der 'Beitragsservice' kennt aber keine Gnade": Großer Bericht über Erfahrungen eines Studenten, der einen "Befreiungsantrag" stellte, weil ja laut Bundesverwaltungsgericht "ein Einkommen in Höhe der sozialrechtlichen Regelleistungen nicht zur Begleichung der Rundfunkbeiträge eingesetzt werden muss", heute auf der "FAZ"-Medienseite (€). +++

+++ So wie Bertelsmann-Chef Thomas Rabe sagt: "Mit der Analyse der 'Stern'-Geschichte wollen wir einen Beitrag zur Mediengeschichte der jungen Bundesrepublik ermöglichen. Wir freuen uns sehr, das Institut für Zeitgeschichte hierfür als unabhängigen Partner gewonnen zu haben, den wir in seiner Arbeit vorbehaltlos unterstützen werden", klingt es fast, als arbeite Nico Hofmann schon an der Verfilmung der Henri-Nannen-Story für einen aufwändigen RTL-Streamingdienst-Mehrteiler ... +++

+++ "Die deutschen Zeitungsverlage haben im vergangenen Jahr erstmals mehr als eine Milliarde Euro mit digitalen Angeboten umgesetzt", zitiert wuv.de den Zeitungsverleger- (und Digitalpublisher-)Bundesverband, auf dessen Webseite am Dienstagmorgen noch nichts dazu steht: "Ein gutes Drittel davon – 365 Millionen Euro - stammte aus dem Vertrieb von E-Paper-Exemplaren. Hinzu kamen noch 657 Millionen Euro andere digitale Umsätze"

+++ Ihr Geschäftsjahr 2021 sei "erfreulich verlaufen", berichtete kürzlich auch die "FAZ", verziert mit einem Foto ihres ab Dezember bezugsfertigen neuen Hochhauses. Neuer Chef der Fazit-Stiftung, also des Aufsichtsrats der sich selbst gehörenden Zeitung, ist Ulrich Wilhelm, ehemaliger Intendant des Bayerischen Rundfunks (und ehemaliger ARD-Vorsitzender) sowie ehemaliger Sprecher einer frühen Angela-Merkel-Regierung. +++ "Die 'FAZ' war 2021 so profitabel wie seit den 90ern nicht", vereinfacht dwdl.de. +++

+++ "Über den Mehrwert, eine eigentlich im Free-TV verfügbare und auch weiterhin von Werbung unterbrochene Talkshow, nun auf eine Bezahlplattform zu hieven, darf sicherlich gestritten werden", schreibt ebenfalls dwdl.de zur Ankündigung, dass die DSF-Fußballtalkshow "Doppelpass" nun auch bei DAZN zu sehen ist. Doch wenn junge Menschen sowieso keine Fernsehgeräte mehr einschalten, kann bis muss das, was dort läuft, ja auch in andere Verwertungszusammenhänge gebracht werden.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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