Das Altpapier am 13. September 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 13. September 2022 Erdmännchen-Debatten

13. September 2022, 10:13 Uhr

Kevin Kühnert verlässt Twitter, weil er dort eine verzerrte Wahrnehmung bekomme. Mathias Döpfner hält seine letzte Rede als Verlegerpräsident. Es gibt neue Vorschläge für Veränderungen bei den Öffentlich-Rechtlichen. Und: Erdmännchen-Alarm! Ein Altpapier von Klaus Raab.

Kühnert ist raus

Jetzt hat Kevin Kühnert seinen Twitter-Account offline gestellt, der SPD-Generalsekretär der Kanzlerpartei. "Ich finde einfach, dass die Diskussionskultur, wie sie auf Twitter stattfindet und auch die Art und Weise, wie dort Gesellschaft repräsentiert oder, ich würde sagen, absolut gar nicht repräsentiert wird, dass das zu Fehlschlüssen und Irrtümern in politischen Entscheidungen führt", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Zumindest habe er bei sich festgestellt, dass er eine verzerrte Wahrnehmung von Wirklichkeit habe, wenn er zu viel Zeit bei Twitter verbringe.

Das ist eine interessante Erklärung. Die sogenannte Verzerrungshypothese ist in der Kommunikationswissenschaft bekannt und viel diskutiert, aber sie ist, wenn ich richtig informiert bin, immer eine Hypothese geblieben. Denn die Frage ist ja: Was wäre eine nicht verzerrte Wirklichkeit? Und woran wollte man die erkennen? Daran, dass medial keine Auseinandersetzung mit ihr stattfindet, die sie, ihm, verzerren könnte?

Kühnert könnte natürlich auch Twitters Verstärkereffekt gemeint haben; den gibt es ja fraglos, und er lässt wohl tatsächlich Positionen verbreiteter erscheinen, als sie womöglich sind. Oder er meinte etwas derart, was Jürgen Kaube am Wochenende in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" schrieb:

"Um ein unbekanntes Publikum bemüht, fangen alle an, ihre privaten Meinungen zu Beiträgen in Schlachten ums Ganze zu stilisieren. Ständig wird die Menschheit adressiert, der Gesellschaft eine apokalyptische Lage aufgewürzt, die Unerträglichkeit von allem Möglichen beschworen. (…) (N)ichts, für das nicht höchste Relevanz in Anspruch genommen wird. Nichts, bei dessen Diskussion nicht alles, vor allem aber die wechselseitige Achtung der Diskussionsteilnehmer auf dem Spiel steht. Was im Journalismus fraglos stets eine Rolle gespielt hat, die Übertreibung, wird hier zum Standard."

Jedenfalls: Kühnert ist raus. Er ist nicht der erste und wird nicht der letzte gewesen sein, der Twitter verlässt. Dass die Prominenten unter ihnen sich hinterher dann häufig erklären, ob Robert Habeck, Ulf Poschardt ("Twitter ist Gratismut in Potenz", wobei er dafür, dass er schon mehrfach ausgestiegen ist, erstaunlich präsent ist) oder Christopher Lauer in seiner Piratenzeit, während es bei Twitter danach genauso weitergeht wie vorher – das ist schon auch so ein Phänomen.

Erdmännchen-Debatten

Es handelt sich bei Debatten über den Sinn und Unsinn von Twitter um ein Erdmännchen, würde man womöglich im Deutschlandradio-Podcast "Lakonisch elegant" sagen: Dort wurden dieser Tage in einem Rutsch all die großen und kleinen Aufregerthemen des Sommers nachbearbeitet. Wie Erdmännchen kämen plötzlich Debatten aus ihren Löchern, würden wieder mal Hallo sagen, und dann wieder verschwinden bis zum nächsten Mal, wenn es wieder bei Null losgeht: "Völlig unabhängig von der Jahreszeit taucht wie ein Erdmännchen der Streit ums Gendern auf, Rassismus-Debatten müssen stets von vorne geführt werden, von Feminismus-Kontroversen ganz zu schweigen."

Kein schlechtes Bild, das Erdmännchen-Bild.

Döpfners letzte Rede

Am heutigen Vormittag hält oder hielt Mathias Döpfner auf dem Jahreskongress des Bundesverbands Zeitungsverleger und Digitalpublisher (BDZV) dem Kongressprogramm zufolge seine letzte Rede als Verbandsvorsitzender. "Eine Art Befreiungsrede" solle es werden, schrieb der "Medieninsider" Marvin Schade schon vorab. Worunter man sich, wenn es um eine Döpfner-Rede geht, ziemlich viel vorstellen kann. Die Liste der ironischen, angeblich ironischen oder exakt so gemeinten Bonmots von Mathias Döpfner hat ja so einige Einträge.

"Staatspresse", "Nordkorea" – gerade die Öffentlich-Rechtlichen hatten es ihm angetan. Wir erinnern uns auch an die Verteidigung Julian Reichelts als letztem journalismusinternen Widerständler gegen eine Art zweite DDR – was dem Verlegerpräsidenten Döpfner "vor allem von den Verlagen Funke und Madsack" Kritik einbrachte, woran Michael Hanfeld in einem "FAZ"-Vorbericht erinnert hat.

Wir denken an den internen und, hey, ironisch gemeinten Aufruf, für Donald Trumps Wiederwahl zu beten (Altpapier), der Döpfner nun ein Lob von eben diesem Trump einbrachte (was der "Spiegel" online genüsslich meldete): "Thank you to the very brilliant Mathias Döpfner." Womöglich hat auch Trump das ironisch gemeint. Man weiß ja nie.

Für die Verleger jedenfalls spricht Döpfner in Zukunft nicht mehr (Altpapier vom 1. Juni). Später im Herbst wolle sich der BDZV neu aufstellen und von einem Vorstand geführt werden, wie die Deutsche Presse-Agentur nach dem ersten BDZV-Kongresstag am Montag meldete: "An der Vorstandsspitze werden künftig drei Vorsitzende stehen – zwei sind ehrenamtlich tätig und betreuen das Thema Medienpolitik. Hinzu kommt der Hauptgeschäftsführer beziehungsweise die Hauptgeschäftsführerin des Verbands".

Zur Reform unserer Fürstentümer

Aber apropos Neuaufstellung und Einebnung von Fürstentümern (ironisch gemeint): Was gibt es Neues von den Öffentlich-Rechtlichen? Welche Reformvorschläge kursieren? Wie läuft die Aufarbeitung der RBB- und NDR-Geschichten, die die Rundfunkdebatte so intensiv befeuert haben?

Zum Ersten kündigt der "Tagesspiegel" an, dass am Donnerstagnachmittag in Potsdam das nächste außerordentliche Treffen des RBB-Rundfunkrats angesetzt sei. Den 28 Mitgliedern des Gremiums sollen dann "die ersten Ergebnisse der Kanzlei Lutz Abel präsentiert werden". Zumindest anzunehmen ist also, dass wir auch in dieser Woche noch einmal irgendwo die Buchstaben R, B und B lesen werden.

Zum Zweiten gibt es auch ein paar neue nach vorne weisende Vorschläge. SWR-Intendant Kai Gniffke, womöglich der nächste ARD-Vorsitzende, hat in einem Interview nicht nur den sehr demütigen Satz gesagt: "Wir müssen uns der Gnade der Beitragsfinanzierung immer wieder als würdig erweisen." Er hat auch formuliert, was die ARD seiner Meinung nach diskutieren solle: "Die Organisation eines Mantelprogramms für die Dritten mit höchstmöglichem Regionalanteilen."

Zum Dritten ist ein Diskussionsbeitrag der Gewerkschaft ver.di erschienen, der sechs "Vorschläge für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk" enthält. Nämlich:

  • Hohe Standards für saubere Geschäftsführung etablieren
  • Rundfunk- und Verwaltungsrat in ihrer Kontrollfunktion stärken
  • Umfassende Gehälter- und Ausgabentransparenz herstellen
  • Innere Rundfunkfreiheit stärken
  • Journalistische Qualität in den Mittelpunkt stellen
  • Sender und Programm demokratisieren

Und zum Vierten wurde beim CDU-Parteitag ein Antrag der Jungen Union verhandelt und wohl angenommen, die Gehälter der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender ARD, ZDF und Deutschlandradio an das Niveau im öffentlichen Dienst anzupassen, also "in einem angemessenen Verhältnis zum allgemeinen Einkommensgefüge in unserer Gesellschaft".

Merz' Kritik

CDU-Parteitag war auch noch, am Wochenende. Auf die Erzeugung von Aufregung verstehen sich einige der dort vertreteten Politiker*innen recht gut, seien es der Dings oder die Na? oder auch der Wie-heißt-er-gleich. Man kann sagen: Sie haben auch diesmal gute Arbeit geleistet. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk hatte es einigen Rednern angetan. Friedrich Merz (CDU) begrüßte in seiner Rede "58 Redakteure des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" und forderte sie auf, die Sprache Goethes, Schillers, Hegels und Kants zu benutzen, also nicht zu gendern. "Universitäten, meine Damen und Herren, und öffentlich-rechtlicher Rundfunk sind keine Volkserziehungsanstalten."

Ob seinerzeit bereits nicht nur Herren adressiert wurden, sondern auch schon Damen? Ob 58 Akkreditierte auch 58 Anwesende sind, oder ob eine Redaktion lieber ein paar mehr Leute anmeldet, damit sie sich abwechseln oder anrücken können, falls etwas Ungewöhnliches passieren sollte? Ach, ist ja auch egal: "Verschwendung" und "Volkserziehung", das sind die Worte, die leidenschaftliche Gegner*innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks offenbar gar nicht oft genug hören können. Aber es sind nur Erdmännchen.

Im "heute journal", in dem man mit Flapsigkeit womöglich nicht so leicht punkten kann, kritisierte Friedrich Merz später lieber etwas anderes als die von Konservativen als Thema so sehr geliebte Gendersprache:

"Der Eindruck in der Öffentlichkeit ist ja, dass das hier ein System geworden ist, das sich ein bisschen verselbständigt, jedenfalls in den Führungsetagen, dass da Kontrolle fehlt, dass da Transparenz fehlt. Und ich denke, das sind die richtigen Begriffe. Das erwartet der öffentlich-rechtliche Rundfunk von uns, von der Politik, das erwartet von der Wirtschaft, warum soll er das nicht von sich selbst auch erwarten?"

Die Erfinderin der "Maus" ist gestorben

Jedes Kind kennt sie, seit 1971: die "Maus" aus der WDR-Sendung mit ihr. Die in Eisenach geborene Künstlerin Isolde Schmitt-Menzel, die sie erfunden hat, ist nun 92-jährig gestorben. Die Nachrufe, die in der "taz", beim "Spiegel" online und auch hier beim MDR erschienen sind, hat sie allein schon wegen der Maus verdient, auch wenn man eine produktive Grafikerin wohl nicht auf nur eine Figur festlegen sollte. Holger Gertz schrieb in seinem Nachruf in der "Süddeutschen Zeitung" über Schmitt-Menzel:

"(I)n einem ihrer seltenen TV-Interviews sagte sie schon 1996: ‚Ich hab auch Pferde und Katzen gemacht, nicht bloß Mäuse.‘ Niemand will schließlich auf ein Nagetier reduziert werden. Aber es ist eine bleibende Leistung, das verplapperte und selbstdarstellerische Medium Fernsehen mit einer Maus bereichert zu haben, die niemals auch nur ein einziges Wort gesagt hat."


Altpapierkorb (Luke Mockridge, ARD-Konkurrenz, Udo Foht, Winnetou)

+++ Dass der Comedian Luke Mockridge "Spekulationen der Medien über Liebesbeziehungen" hinnehmen muss, hat der Bundesgerichtshof in Karlsruhe entschieden: "Wenn Prominente in Interviews oder auf Instagram mehrfach mit ihrem Verhalten selbst Anlass dazu gäben, sich mit diesem Teil ihres Privatlebens zu befassen, dürften sie sich dann auch nicht über eine entsprechende Medien-Berichterstattung wundern" (sueddeutsche.de, tagesspiegel.de).

+++ "Nichts ist provinzieller als diese Obsession, in der Binnenkonkurrenz der ARD die anderen Häuser auszustechen." Schrieb Harald Staun in der "FAS" über das Inerview, das die ehemalige RBB-Intendantin Patricia Schlesinger der "Zeit" gegeben hat (Altpapier). Sie sagt darin, sie habe etwa "das legendäre Mittagsmagazin nach Berlin geholt", der RBB habe nun ein Studio in Warschau, und der stellvertretende Chefredakteur des Hauptstadtstudios komme nun vom RBB: "Verdienste, die wohl im internen Bonussystem der ARD Punkte bringen, aber den Zuschauern ziemlich gleichgültig sein dürften", so Staun.

+++ Auch ein Erdmännchen ist die Winnetou-Debatte,, zu der mittlerweile "eigentlich alles geschrieben" ist, wie Harald Martenstein in seiner "Zeit Magazin"-Kolumne völlig zutreffend schreibt. Offenbar hat er aber nicht alles gelesen: "Ich frage mich, wann die Märchen der Brüder Grimm aus den Buchläden verschwinden. Nachdem der Verlag Ravensburger zwei Kinderbücher über Winnetou zurückgezogen hat, um sich nicht kultureller Aneignung schuldig zu machen und um niemandes Gefühle zu verletzen, scheint mir alles möglich." So steigt er ein in seinen Text, der mit der Ankündigung endet, er werde "nichts mehr von Ravensburger" kaufen und "mit dem Kind alle Winnetou-Filme" schauen, denn "morgen schon könnte es zu spät sein dafür". Ob Martenstein für seinen Text eher einen Originalitäts- oder einen Freiheitskämpferpreis bekommen soll, wird derzeit noch diskutiert.

+++ Vom Prozess gegen den ehemaligen MDR-Unterhaltungschef Udo Foht haben die "Süddeutsche", spiegel.de und auch der MDR zwischenzeitlich weiter berichtet.

Neues Altpapier erscheint am Mittwoch.

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