Das Altpapier am 26. September 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 26. September 2022 "Aufmerksamkeit ist die Hauptsache"

26. September 2022, 10:08 Uhr

Ein Interview mit dem iranischen Präsidenten bekommt viel Aufmerksamkeit – auch deshalb, weil es gar nicht stattfand. Die Debatte über Sinn und Unsinn von Twitter geht weiter. Und der RTL-Jahresrückblick soll von zwei Medienprofis präsentiert werden: Einer ist Karl-Theodor zu Guttenberg. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Die digitalen Schleier im Iran und die Aufgaben des Journalismus

Medien sind Vermittler. Journalistinnen und Journalisten sind nicht die eigentlichen Akteure des Weltgeschehens, sondern diejenigen, die darüber berichten. Aber sie können den Fokus auf Themen lenken, notfalls auch performativ.

Der Journalistin Christiane Amanpour ist es gelungen, über den Kopftuchzwang im Iran zu berichten, indem sie sich selbst weigerte, eines zu tragen. Irans Präsident Ebrahim Raisi blieb ihr zufolge deshalb dem in New York verabredeten Gesprächstermin mit ihr fern. Nicht ihr Interview mit Raisi wurde so zu einer international verbreiteten Meldung, sondern die Tatsache, dass es keines gab.

Es wäre, schrieb Amanpour am Ende eines Twitter-Threads, angesichts der Proteste im Iran ein wichtiger Moment gewesen, mit Präsident Raisi zu sprechen. Und man könnte darüber streiten, ob es für eine Journalistin wichtiger gewesen wäre, das Interview zu führen, als ein solches Zeichen zu setzen. Aber sinnvoll streiten kann man nur dann, wenn man den Kontext beachtet.

Im Iran protestieren seit dem mutmaßlichen Mord an der jungen Kurdin Jina Amini, die, wie Samira El-Ouassil zusammenfasst, "wegen eines verrutschen Hijabs von sogenannten Sittenpolizisten mitgenommen und misshandelt wurde und anschließend in behördlichem Gewahrsam starb", viele Frauen und Männer gegen das Regime. Vor allem aber Frauen, mit enorm mutigen Aktionen, über deren mediale Wirkung El-Ouassil bei "Übermedien" kolumniert. Der Kopftuchzwang ist ein zentrales Motiv der Proteste. Hätte Amanpour es auf Anordnung des iranischen Präsidenten aufgesetzt, noch dazu außerhalb seines Staatsgebiets, hätte man das ebenso als Zeichen lesen können – nur dann eben als Zeichen der Zustimmung für den Präsidenten.

Was gehört zu den Aufgabe von Medien, wenn sie über Geschehnisse und Proteste wie im Iran berichten? Die Videos und Bilder von Frauen, die sich etwa aus Protest die Haare abschneiden, verbreiten sich vorrangig zunächst über Social Media. "Die Proteste gegen Hijab-Zwang und Unterdrückung haben sich zu einer vernetzten Anti-Regierungs-Bewegung ausgeweitet, die von den Frauen im Iran in Gang gesetzt wurde", schreibt El-Ouassil. "Das hat auch die iranische Regierung begriffen, weshalb die Behörden nun den Zugang zu Instagram und WhatsApp blockieren", die im Iran weit verbreitet sind. "Indem die iranischen Frauen zu Naturgewalten wurden, erschütterten sie den Lauf einer patriarchalen Gegenwart. Das iranische Regime versucht dies mit digitalen Schleiern zu verbergen."

Zu den Aufgaben von Journalistinnen und Journalisten gehört es, sie zu lüften. So sieht es Lisa Kräher im Sonntagsnewsletter von "Übermedien" (die positiv vermerkt, dass "die Unterdrückung der Frauen im Iran und die systematische Gewalt gegen sie diese Woche (endlich) wieder ein bisschen mehr in den medialen Fokus" geraten sei):

"Aufmerksamkeit ist die Hauptsache. Dass jede:r die Bilder sieht von brennenden Kopftüchern der Protestierenden, und von den Frauen, die sich aus Protest die Haare abschneiden."

Twitter ist nicht, was man daraus macht

Die deutschen Debatten über Sinn und Unsinn, Destruktivität und Schönheit von Social Media wie Twitter kommen einem ein wenig klein vor, wenn man bedenkt, wie sehr die Möglichkeit, sich zu äußern, sich zu informieren und Proteste zu organisieren, in anderen Gesellschaften mit Social Media verbunden ist. Irrelevant macht das unsere Twitter-Debatten nicht. Es ist nur wichtig, dabei nicht die Welt aus dem Blick zu verlieren.

Nach Deutschland also. Nach dem SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert (Altpapier) ist auch der ehemalige Gesundheitsminister von der CDU, Jens Spahn, aus Twitter ausgestiegen. Jedenfalls ein bisschen. Er habe bisweilen "drei Shitstorms parallel" erlebt und nehme eine Diskrepanz zwischen "Twitter-Themen" und den Themen im Wahlkreis wahr. Wer will’s ihm verübeln? Spahn gibt zur Kenntnis, dass es "nicht immer nur Schwarz oder Weiß gibt, sondern unauflösbare Widersprüche und vielfältige Schattierungen zum menschlichen Wesen gehören". Und Twitter ist wirklich nicht das Zentralmedium der Schattierung.

Umso wichtiger, in die journalistische Debatte darüber Grautöne einzuziehen. Sowohl Joachim Huber im "Tagesspiegel" als auch Christian Geyer-Hindemith in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" legen jedenfalls Wert auf ambivalente Einordnungen. Genau wie Armin Wolf im österreichischen "Profil", der aber auch ganz gelassen Großes ausspricht: "Ich glaube ja nicht, dass Social Media die Welt verbessert haben."

Mich beschäftigt vor allem die in der Debatte über Twitter hier und da vertretene These, Twitter sei das, was man daraus macht: Man habe über den "Folgen"-Button selbst unter Kontrolle, ob man Müll sieht oder Tolles. Das stimmt zum Teil – aber nur für den einzelnen. Die Bedeutung und Wirkungsweise von Social Media sind damit nicht erfasst. Ebenso stimmt es, dass ein einzelner durch Auswandern verhindern kann, mit Verkehrspolitik behelligt zu werden. Das sagt aber auch nichts über die Verkehrspolitik.

Ein Kriterium ist eher, welche Tweets mit viel Interaktion belohnt werden und welche nicht. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zum Beispiel hat am 21. September binnen weniger Minuten vier Tweets abgesetzt. Der erste bekam – Stand Sonntagnachmittag – 867 Retweets und 4.051 Likes. Der zweite 28 Retweets und 315 Likes. Der dritte 8 Retweets und 126 Likes. Der vierte 280 Retweets und 2.011 Likes. Der Tweet, der die mit Abstand meisten Interaktionen auslöste, war der krawalligste und begann mit dem Satz "#Wokeness ist illiberales Spießertum".

Solcherlei Kram, der nur deshalb veröffentlicht wird, weil es Plattformen gibt, auf denen er belohnt wird, suppt in alle Ritzen der gesellschaftlichen Debatte. Und selbst die sorgfältigste Kuratierung der eigenen Timeline ändert daran nichts.

Ob’s freilich alles nur an Twitter liegt? Susan Vahabzadeh problematisierte in der Samstags-"SZ" unter dem Titel "Knallt so schön" lieber ein anderes Phänomen der Krawallerzeugung und Meinungsverhärtung. Es nennt sich Talkshow.

Das Guttenberg-Projekt

Es ist September, man muss sich also ums Jahresrückblicksfernsehen kümmern. Die Menschen-, Bilder- und Emotionenshow "Menschen, Bilder, Emotionen" bei RTL werde in diesem Jahr, dem Jahre 1 nach Jauch, präsentiert von zwei Medienstars aus dem Fränkischen, teilte der Sender mit: von Thomas Gottschalk und Karl-Theodor zu Guttenberg, der schon im Juni von RTL engagiert worden war (oder war’s umgekehrt?). Die Fernsehspezialisten von DWDL.de berichteten als erste: "Gottschalk und zu Guttenberg stünden, so formuliert es zumindest RTL, 'für die große thematische Bandbreite der Sendung von Unterhaltung über Gesellschaft bis Weltpolitik.'" Unterhaltung, Gesellschaft, Weltpolitik – dann sind die beiden also sowas wie unsere Royals!

Aber okay, wenn Guttenberg jetzt bei RTL moderiert, kann man natürlich sagen: ist doch schön, wenn Leute irgendwann ihre Talente nutzen. Fernsehen und Guttenberg – das passt. Der ehemalige CSU-Verteidigungsminister, den seine Anhänger für ein großes politisches Talent hielten, war ein großes Talent der politischen Kommunikation und die letzte politische Aufsteigerfigur in Deutschland, die ihre Karriere ausschließlich in den alten Medien anlegte.

Zu Guttenberg hatte als Minister, der er bis 2011 war, noch keine relevanten Social-Media-Accounts. "Bild" war ihm enorm zugetan ("SZ", "Tagesspiegel"); er verstand es, sich zur rechten Zeit exklusiv vom "Zeit"-Chefredakteur interviewen zu lassen ("Frankfurter Rundschau"); die Pressekonferenz, bei der er seinen Rücktritt verlas, kündigte er so knapp an, dass es übertragungswillige Sender nicht schafften, rechtzeitig ihre Technik anzuwerfen ("taz"). Das Medien-Game war sein Hobbykeller. Dass zu Guttenberg in den Unterhaltungsmedien nun seine zweite öffentliche Karriere macht, ist nur konsequent.

Wenn andererseits "Bild" findet, Guttenbergs RTL-Moderationstätigkeit sei ein "MEGA-Hammer im TV" und die "Berliner Zeitung" meint, man könne die Vergangenheit doch mal ruhen lassen angesichts des Einzugs von "TV-Hoffnung" Guttenberg ins Fernsehen ("Schwamm drüber"!), kann man sich schon fragen: Gibt’s eigentlich zufälligerweise schon Pläne für danach? Im Bundestagswahlkampf 2017 war Guttenberg für einige Medien quasi schon wieder Minister, und ein kurzer Knopfdruck auf die PR-Maschine hatte dafür genügt. "Guttenberg wird wiederkommen", prophezeite Georg Seeßlen 2011 in einem Text über postdemokratische Entwicklungen. Die Frage elf Jahre später ist, wie oft.


Altpapierkorb (Bayerischer Rundfunk, "Bild" und "Welt", "Winnetou" wie geplant im ZDF)

+++ Der Bayerische Rundfunk stand am Wochenende im Zentrum der Öffentlich-Rechtlichen-Debatte. Die "Welt am Sonntag" berichtet, eine Direktorin habe einen höheren sechsstelligen Betrag für Nebentätigkeiten erhalten. Die Geschäftsleitung des BR habe, schreibt nun auch die "Süddeutsche" vom Montag, Ende September "eine Kappungsgrenze für ihre Nebeneinkünfte" beschlossen. "Demnach dürfen die Direktoren nicht mehr als 5000 Euro pro Jahr aus Nebentätigkeiten erhalten, die sie im Zusammenhang mit der ARD oder dem BR ausüben – zum Beispiel Aufsichtsratsposten in Tochterfirmen. Was darüber hinausgeht, werde 'ab dem nächsten Geschäftsjahr an den BR abgeführt', erklärt ein Sprecher." Hinzu komme, so die "SZ" vom Samstag, massive Kritik vom Rechnungshof, "wegen undurchsichtiger Vergabe von Berateraufträgen, mangelnder Kostenzuordnung, teurer Altersversorgung in den Jahren 2016 bis 2020, bilanziert wurden auch steigende Chefgehälter".

+++ Die Spekulation, "Bild" und "Welt" würden zusammengelegt (Altpapier vom Freitag), weise Axel Springer als substanzlos zurück, schreibt Kurt Sagatz im "Tagesspiegel". Es gebe keine entsprechenden Pläne oder Überlegungen in diese Richtung.

+++ Die Zeitungen der "Frankfurter Allgemeinen" machten auf den Medienseiten mit Themen auf, die auch in Politikressorts hätten stehen können. Sie standen trotzdem gut da, weil sie allesamt lesenswert sind und weil dem Publikum möglicherweise eh nicht so wichtig ist, ob im Seitenkopf "Medien" oder "Aus aller Welt" steht:

+++ Freitag auf der "FAZ"-Medienseite: drei längere Texte über den Krieg in der Ukraine. Sarah Pagung, Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, analysierte in einem Interview etwa Wladimir Putins Fernsehansprache.

+++ Samstag auf der "FAZ"-Medienseite: ein "Brief aus Istanbul" ihres Autors Bülent Mumay, der dort regelmäßig über türkische Politik schreibt.

+++ Und auf der Medienseite der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung": Till Fähnders über die bürokratischen und praktischen Hürden, die ein Korrespondent zu überwinden hat, der über die Flut in Pakistan berichtet. Über die Hürden – und die dennoch privilegierte eigene Position: "Bis zum Ende tut es weh, die Menschen enttäuschen zu müssen, die immer wieder nach Nahrung fragen, weil man selbst nichts dabei hat. Die Hoffnung, dass die Berichterstattung letztlich Aufmerksamkeit und damit vielleicht auch mehr Hilfe nach sich zieht, ist nur ein schwacher Trost."

+++ Noch eine Woche, bis am Tag der Deutschen Einheit der nächste "Winnetou"-Film prominent in einem öffentlich-rechtlichen Schaufenstersender gezeigt wird. Das ZDF bewirbt den Film schon in der Mediathek. Bitte alle einschalten – wider die links-grün-woke Cancel Culture der Öffentlich-Rechtlichen, die uns Winnetou wegnehmen woll…! Moment, hä? Erklär’ doch bitte nochmal von vorne, "Bild"-Zeitung, warum genau du Ende August wider besseren Wissens schriebst, "Winnetou" sei "auch bei den Öffentlich-Rechtlichen erst mal abgemeldet".

+++ Um ein Haar hätten wir’s verpasst, aber wurden am Freitag zum Glück noch auf den nur ein wenig zurückliegenden 40. Geburtstag des Emoticons hingewiesen. Weil eine Publikumsansprache ohne Tränen lachende Satzzeichen selbst für den einen oder anderen Chefredakteur nicht mehr möglich zu sein scheint, gehören Smileys heute zum Inventar des Journalismus. Glückwunsch zum 40., :-)!!

Neues Altpapier erscheint am Dienstag.

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