Das Altpapier am 18. Oktober 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider
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Das Altpapier am 18. Oktober 2022 Auf einem Auge blind

18. Oktober 2022, 11:47 Uhr

Ein mutmaßlich Rechtsextremer verübt mitten in der EU einen Anschlag mit zwei Toten – und den meisten Redaktionen ist das nur eine kurze Meldung wert. Warum? Ein Altpapier von Annika Schneider.

Ein politischer Anschlag…

"Cin Cin!", steht in großen rosa Buchstaben an der Wand der Bar "Teplaren" im Herzen von Bratislava, direkt am Fuß der historischen Burg. Vergangene Woche saßen hier Juraj V. und Matus H., beide 30 Jahre alt. Sie hätten Limonade getrunken, sagte der Barbesitzer später in einem Interview. Gegen sieben Uhr abends erschoss ein 19-Jähriger die beiden Männer, eine Kellnerin wurde verletzt.

Dass die Tat einen politischen Hintergrund hat, ist sehr wahrscheinlich. Die Bar ist ein Treffpunkt für queere Menschen, wirbt damit auch auf Facebook. Über den Täter heißt es in einer dpa-Meldung, die ein slowakisches Nachrichtenportal als Quelle nennt:

"Der 19-Jährige habe in der Nacht nach dem Verbrechen stundenlang Hassbotschaften gegen sexuelle Minderheiten und eine Art Manifest mit homophoben und rechtsextremistischen Inhalten auf Twitter und in einem anderen Netzwerk veröffentlicht. Darin verherrlichte er offenbar andere rechtsextreme Mörder als Vorbilder. Für die Tat hatte er offenbar die Pistole seines Vaters verwendet, der in der Vergangenheit für eine rechtspopulistische Kleinpartei kandidiert haben soll."

Die dpa hat das gemacht, was man von einer Nachrichtenagentur erwarten kann: Sie hat berichtet. Am Morgen nach der Tat, am Donnerstag, erschien um 10 Uhr eine erste Meldung: "Tote und Verletzte nach Schüssen an Gay-Bar in Bratislava". Kurze Zeit später schob die Redaktion das Thema vom Ressort "Vermischtes" ins Politik-Ressort – "aufgrund des mutmaßlich politischen Tatmotivs", wie es in einer Notiz dazu heißt.

Bis Sonntag folgten mehrere Updates, unter anderem zu den Protesten, die in Bratislava am Wochenende stattfanden. "Tausende" demonstrierten dort gegen Rechtsextremismus und die Diskriminierung sexueller Minderheiten. Diese Arbeit hätte sich der Agentur-Korrespondent in Bratislava womöglich sparen können, denn das Interesse überregionaler deutscher Medien an dem Thema war äußerst gering.

…und kaum jemand sieht hin

Online berichteten "Spiegel online" und Niklas Zimmermann in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Beim Blick in die Printausgaben findet sich eine kurze Meldung in der "Süddeutschen Zeitung" am Freitag, eine weitere in der "Neuen Züricher Zeitung". Der "Tagesspiegel" hat mit dem "Queerspiegel" ein eigenes Ressort für queere Themen, auch dort fand sich am Freitag eine kurze Meldung. Etwas ausführlicher berichtete nur die taz ("LGBTIQ-Bar wird zur Todesfalle"), die den Anschlag am Samstag auch noch einmal in einer Kolumne abhandelte.

Wesentlich dünner sieht es bei den Öffentlich-Rechtlichen aus. "ZDF heute" brachte am Donnerstagnachmittag eine Online-Meldung im Ressort "Panorama", ein Video ist dort nicht verlinkt. Die Deutschlandfunk-Nachrichten berichteten nicht über die Tat selbst, am Sonntag dann über die Proteste. Keiner der Berichte, ob privat oder öffentlich-rechtlich, nennt die Namen der Toten.

Dass sich in der ARD nichts findet, liegt womöglich daran, dass es kein so genanntes "Sammel" zu dem Thema gab – also einen Korrespondentenbericht, den alle Sender verwerten können. Diese Berichtsform prägt große Teile der Auslandsberichterstattung. Welche Themen sie bearbeiten, entscheiden aber nicht allein die Korrespondentinnen oder Korrespondenten, sondern auch die Redaktionen, die Anfragen stellen können.

Was hätte passieren müssen?

Ich frage mich: Warum läuft dieser wohl politisch motivierte Anschlag, der mitten in Europa passiert ist, so unter dem Radar? Wäre das auch so, wenn der Täter in Amsterdam oder Paris gemordet hätte und nicht in Osteuropa? Wäre das auch so, wenn die Opfer nicht zur queeren Community gehört hätten, sondern zu einer anderen Minderheit? Oder, sagen wir mal, Touristinnen aus Österreich oder Belgien gewesen wären? Was wäre gewesen, wenn der Täter ein Asylbewerber gewesen wäre, sodass sich die Tat von Rechten hätte instrumentalisieren lassen?

Am mangelnden Platz kann es kaum liegen. Der "Welt" beispielsweise, die mit ihren 16 Seiten immer haushalten muss, war es erst Anfang Oktober eine Meldung wert, dass in Bratislava ein Autofahrer in eine Bushaltestelle fuhr, mindestens vier Menschen starben ("Hinweise auf eine terroristische Absicht lagen nicht vor").

Auch die mangelnde politische Relevanz lässt sich schlecht als Begründung anführen. An einer Gedenkveranstaltung in Bratislava nahmen ranghohe Politikerinnen und Politiker teil, nämlich die slowakische Präsidentin Zuzana Caputova und Ministerpräsident Eduard Heger. Auch international reagierte die Politik. Ursula von der Leyen schrieb auf Twitter:

"These abhorrent murders are a threat to our societies built on respect and tolerance. The EU is committed to helping fight hate crime and speech in all form. We must protect the LGBTIQ community."

Und der deutsche Lesben- und Schwulenverband forderte:

"Wir erwarten, dass sich jetzt Gewerkschaften, Unternehmen, Personen des öffentlichen Lebens und die gesamte Zivilgesellschaft zu Wort melden. Wir, die Community, brauchen jetzt diese Solidarität."

Kein Nischenthema

Wenn man sich die dürftige Berichterstattung ansieht, dürften große Teile der Zivilgesellschaft von dem Anschlag allerdings gar nichts mitbekommen haben. Wer mehr über die Tat erfahren möchte (und kein Slowakisch spricht), dem bleiben neben der dpa vor allem zwei Quellen. Das Portal "Queer.de", das sich selbst ironisch als "Zentralorgan der Homo-Lobby" bezeichnet, veröffentlichte mehrere ausführliche Berichte zum Thema (zum Beispiel hier und hier) – und ist somit für fast alle der wenigen Artikel verantwortlich, die über reine Meldungen hinausgehen. Auf Twitter postete der Nutzer Michael Bonvalot zum Thema (nach eigenen Angaben Journalist und Sozialarbeiter). Er berichtete auf seinem Blog auch ausführlich von der Gedenkveranstaltung in Bratislava – mit einer ganzen Reihe von Details zur Gesinnung des Täters.

Nach vergangenen Anschlägen gab es oft Kritik, die Medien würden mit detaillierter Berichterstattung über die Täter und deren Weltanschauung dazu beitragen, dass die Taten öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Es wäre tröstlich, wenn das der Grund war, dass Redaktionen sich gegen das Thema entschieden haben. Nach bisherigen Anschlägen gab es aber auch immer wieder die Forderung, statt den Namen des Täters die Namen der Opfer zu nennen – das ist in diesem Fall nicht geschehen.

Warum der Anschlag im medialen Getöse untergegangen ist, kann ich nur spekulieren. Aber vielleicht ist das ein guter Moment, um noch einmal daran zu erinnern: Jeder Anschlag auf eine Minderheit ist ein Anschlag auf unsere demokratische Gesellschaft als Ganzes. Das zeigt die Gesinnung des Täters, der laut FAZ in einem "Manifest" schrieb,

"er habe sich zu einer 'Operation' gegen Menschen entschieden, die er für 'Feinde' der 'weißen Rasse' halte. Als Vorbilder nannte er Rechtsterroristen wie den Neuseeländer Brenton Tarrant und den Norweger Anders Breivik."

Im Umgang mit Gewalttaten wie dieser zeigen wir, wie wir zu denen stehen, die Menschenrechte und Demokratie brutal attackieren. Hinzusehen wäre das Mindeste. Was in Bratislava passiert ist, ist kein Nischenthema.


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+++ Die russische Journalistin Marina Ovsyannikova, die mit einer Plakataktion in den russischen Nachrichten berühmt wurde, ist zusammen mit ihrer Tochter nach Europa geflohen (SZ).

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+++ Der Prozess gegen den Musiker Gil Ofarim, der sich auf Instagram über Antisemitismus in einem Leipziger Hotel beschwert hatte, ist erst einmal verschoben (Tagesschau).

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