Das Altpapier am 03. November 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier am 03. November 2022 Im Reich der endlichen Möglichkeiten

03. November 2022, 11:22 Uhr

Tom Buhrow kündigt in einer Rede etwas ganz Unglaubliches an. Aber es ist nicht so ganz klar, wer da überhaupt spricht. Und kann das, was er fordert, gelingen? Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Wer spricht?

Der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow hat am Mittwochabend vor dem Übersee-Club in Hamburg eine Rede gehalten, die mit einer unglaublich klingenden Ankündigung beginnt: "Ich werde einfach sagen, was ich denke. Ohne Tabus, ohne die üblichen Rücksichtnahmen – und folgerichtig: nicht im Namen der ARD."  Die Journalistin Nora Hespers ordnet das bei Twitter ein: "Ist wie 'twittert hier privat'."

Ganz so, wie Buhrow behauptet, ist es dann wohl doch nicht. Er sagt zwar, er spreche "in meinem eigenen Namen und auf mein eigenes Risiko". Aber den Privatmann Buhrow hat man hier nicht eingeladen. So steht es jedenfalls nicht in der Ankündigung. Und sein Referent Sebastian Koch stellt bei Linkedin klar, "natürlich hat er die Rede als Intendant eines öffentlich-rechtlichen Senders gehalten". Vorbereitet hat die Rede danach auch nicht allein der Privatmann Buhrow. Beteiligt waren laut Koch auch er selbst und Unternehmenssprecherin Emanuela Penev.

Die FAZ hat für eine gekürzte Version der Rede heute die ganze Medienseite freigeräumt. Und sagen wir so: Hätte der Buhrow die Rede als ARD-Vorsitzender gehalten, müsste er nicht zurücktreten. Er macht zwar tatsächlich etwas, das nicht üblich ist, und das erklärt er gleich selbst:

"Man spricht als Intendant normalerweise nie über andere Sender der ARD, schon gar nicht über das ZDF, und auch nicht über die Rundfunkkommission der Länder."

Und Buhrow sagt sehr deutlich, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach seinem Eindruck kleiner werden muss. In seiner Rede schließt sich an das Zitat oben folgende Passage an:

"Aber es sind keine normalen Zeiten. Deutschland wird in 20 Jahren nicht mehr alle öffentlich-rechtlichen Sender finanzieren wollen. Wenn wir jetzt nicht verantwortungsvoll und ehrlich einen Neuanfang machen, wird es schlimmstenfalls keinen Neuanfang geben."

Dass Buhrow seine Rolle nach seinem eigenen Eindruck verlassen muss, um so deutlich zu werden, ist allerdings ebenfalls bemerkenswert. Hätte man unter Medienleuten die Frage gestellt, wie der Titel so einer Rede lauten könnte, hätten mutmaßlich 27 Prozent gesagt: "Warum der öffentlich-rechtliche Rundfunk wertvoll ist – und warum wir ihn unbedingt brauchen".

Über der dpa-Zusammenfassung (hier bei Web.de), die in der Nacht zu Donnerstag erschieen ist, steht nun der Satz: "Buhrow setzt neuen Impuls für die Reform der Öffentlich-Rechtlichen." Das klingt wiederum ein bisschen wie ein eingeschlafenes Bein und ganz erwartbar nach einer Intendantenrede. Die FAZ, die in Person von Michael Hanfeld in diesem Punkt eine sehr eindeutige Position vertritt, überschreibt die Zusammenfassung von Hanfeld hoffnungsvoll mit dem Satz: "Buhrow ruft die Revolution aus."

Das strukturelle Dilemma

Aber was hat er denn nun gesagt?

In der kurzen Kurzversion: Wenn wir den öffentlich-rechtlichen Rundfunk retten wollen, dann kommen wir in den bisherigen Strukturen nicht weiter.

In der etwas längeren Kurzversion beschreibt Buhrow, was denn überhaupt im Weg steht. Von außen sieht das ja ganz einfach aus. Die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland brauchen über acht Milliarden Euro im Jahr – die BBC, das Vorbild für das deutsche System, kommt mit knapp fünf Milliarden aus. Warum schneidet man da in Deutschland nicht einfach die Hälfte weg?

Buhrow erklärt das Problem mit einer kleinen Anekdote.

"Ich war in den letzten Jahren mehrfach in Sachsen-Anhalt im Landtag. Auch als es um die letzte Beitragserhöhung ging. Nirgendwo sonst war die Kritik an den öffentlich-rechtlichen Sendern so laut. Also habe ich die Abgeordneten gefragt: 'Sie wollen uns kleiner? Okay, wir sind ja reformbereit. Vor Ihnen steht ein Reformer. Sagen Sie mir also bitte: Welche Ihrer eigenen Landes-Radiowellen beim Mitteldeutschen Rundfunk möchten Sie streichen?' Antwort, und ich denke mir das nicht aus: 'Bei uns keine! Wir sind genau richtig aufgestellt.' Standortinteresse!"

Und Buhrow erklärt auch die generelle Schwierigkeit dahinter, die man in einem Wort als Föderalismus beschreiben könnte. Buhrow sagt: "Jede einzelne Staatskanzlei findet genau zwei Sender gut." Das sei das ZDF, in dessen Aufsichtsgremien man eine Vertreterin oder einen Vertreter entsende. Und es sei die eigene Rundfunkanstalt der ARD. "Jenseits dieser zwei Sender beginnt in der Phantasie das Reich unendlicher Einsparmöglichkeiten."

Das Problem zeigt sich schon in Details, deren ursprünglicher Gedanke es war, die Macht der Sender nach den Erfahrungen mit der Propaganda im Nationalsozialismus zu beschränken. Ein einziges bundesweites Klassikradio würde ja vielleicht genügen, aber "ein bundesweites Klassikradio verhindern nicht nur regionale Egoismen. Bundesweite Radiowellen sind der ARD schlicht verboten", sagt Buhrow.

Hinzu kommen die Interessen der Lobbygruppen:

"Es führt (…) nirgendwohin, wenn man einerseits ständig schimpft, die Sender seien zu groß und zu teuer – aber wann immer wir über eine Reformmaßnahme reden, zieht jeder Lobbyist, jede Gewerkschaft, jeder Interessenverband, jede Landesregierung und jeder Sender einen Zaun um das, was für einen selbst wichtig ist – und fordert oft sogar noch eine Ausweitung"

Dass hier die Probleme liegen, wissen eigentlich alle. Nur Tom Buhrow hat es noch nicht öffentlich in einer Rede ausgesprochen. Das ist aber tatsächlich hilfreich, um zu verstehen, wo er selbst zu verorten ist. Ein ARD-Vorsitzender könnte auch die Auffassung vertreten: Wir sind genau richtig aufgestellt.

Die Vorschläge und die Probleme

Aber was schlägt Buhrow nun vor?

Zuallererst einen "gesamtgesellschaftlichen Runden Tisch", der eine Art Gesellschaftsvertrag verhandelt. Teil eines Gesellschaftsvertrags ist, dass einzelne Gruppen im Sinne eines übergeordneten Ziels darauf verzichten, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Das klingt gut. Aber wer soll an diesem Tisch sitzen? Die Gruppen, die sich nicht darauf einigen können, wer einen Platz in den Aufsichtsgremien der Sender bekommt?

Und mal angenommen, es gelingt, so einen Runden Tisch zusammenzuwürfeln: Wie löst man das Legitimationsproblem? Der Tisch einigt sich auf einen Gesellschaftsvertrag, aber irgendwer muss umsetzen, was im Vertrag steht. Am Ende hat man im Idealfall ein Votum. Aber es braucht Landesregierungen, die dann zum Beispiel sagt: Wir legen zwei Anstalten zusammen. Es kann hier nur darum gehen, den Sendern und Landesregierungen demokratische Rückendeckung zu geben. Im schlechtesten Fall geht es darum, sagen zu können: Wir wollten das ja nicht, aber der Runde Tisch hat es beschlossen.

Im Fall des Parlamentarischen Rats, den Buhrow als Vorbild nennt, hat man das Problem durch eine Parlamentarische Versammlung gelöst, die von den Landesregierungen legitimiert war. Auch das wäre denkbar. Aber dann wäre ein Runder Tisch in jedem Fall der falsche Begriff.

Eine weitere Forderung ist: Es darf an diesem Runden Tisch keine Tabus und Denkverbote geben. Das klingt ebenfalls gut. Aber Denkverbote verschwinden nicht dadurch, dass man sagt, es darf sie nicht geben – so wie sich niemand beruhigt, weil man sagt: "Jetzt beruhig dich mal bitte." Und so, wie der ARD-Vorsitzende nicht einfach nur in seinem eigenen Namen sprechen kann, weil er sagt, er spreche jetzt als Privatmann.

Hinter diesem Satz steht der Wunsch, dass alle mal bitte für einen Moment ihre eigene Rolle als Interessenvertretung vergessen und sagen, was sie eigentlich für sinnvoll halten. Aber in diesem Moment würde unter Umständen auch deutlich werden, dass das, was sie in ihrer Rolle fordern, mit Blick auf das gesamte System gar nicht so sinnvoll ist.

Wenn man wirklich keine Denk- und Sprechverbote möchte, dann kann man das nicht durch eine Forderung herstellen, das muss durch die Zusammensetzung des Gremiums geschehen, das über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verhandelt. Und das würde entweder bedeuten: Man müsste über den eigenen Schatten springen. Oder: Man müsste Entscheidungen an Personen delegieren, die unter Umständen gegen die eigenen Interessen entscheiden.

Zum letzten Punkt: "Wenn wir uns über das Ziel einig sind, brauchen wir Zeit, um es zu erreichen", schreibt Buhrow. Immerhin da dürfte man sich schnell einig werden.


Altpapierkorb (Medienstaatsvertrag, Twitter, Klimaproteste, Correctiv, SZ-Karikaturen, Iran-Propaganda, Spahn-Doku, Krawatte, Philipp Welte)

+++ Wo wir schon über eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sprechen: Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten haben inzwischen die Änderung des Medienstaatsvertrags unterzeichnet, meldet dpa, hier bei Horizont.

+++ Was macht eigentlich Elon Musik? Er plant, nach der Twitter-Übernahme Stellen zu streichen, und zwar etwa 3.700, berichten der Finanzdienst 'Bloomberg' und die 'Financial Times'. Damit würde sich die Zahl der Beschäftigten in etwa halbieren.

+++ Alexander Demling erklärt für den 'Spiegel' (€), was Musk so alles vorhat: Eine Passage, die zur Meldung oben passt: 'Kurz nachdem Musk im April groß bei Twitter eingestiegen war, schrieb Sacks (David Sacks, ein alter Freund von Musk; Anm. Altpapier) dort eine Checkliste für einen neuen Twitter-Chef, die den Punkt ‚Nutzlose Mitarbeiter feuern (50 %?)'enthielt.'

+++ Eine Formulierung, die man in den vergangenen Tagen häufig gelesen hat, wenn man Analysen zur Twitter-Übernahme gelesen hat, lautet: 'Das verheißt nichts Gutes.' Im Teaser zu Sascha Lobos neuer 'Spiegel'-Kolumne steht, Musks Kauf 'verheißt zunächst nicht unbedingt Gutes'. Doch es gebe auch eine Chance, dass die Plattform besser wird. Lobos Hoffnung: der Markt. 'Genauer gesagt: der Werbemarkt. Twitter verdient sein Geld weitgehend mit Werbung. Aber niemand möchte die eigene Werbung neben Hass- und Hitler-Tweets sehen', schreibt Lobo. Durch eine Gebühr für den blauen Haken etwa würden 'viele sehr wichtige und reichweitenstarke Twitternde plötzlich nicht nur Nutzende, sondern auch Kunden'.

+++ In der neuen Ausgabe der 'Zeit' schreibt Ann-Kathrin Nezik (€), 'Musks Ankündigung, ein Gremium ‚mit sehr ­diversen Standpunkten'über die Inhalte auf Twitter entscheiden zu lassen, dient wohl vor allem dazu, die Werbekunden zu besänftigen'.

+++ In seiner Kolumne für das NDR-Medienmagazin "@mediasres" beschäftigt sich der frühere Altpapier-Autor Matthias Dell mit den Klimaprotesten und Aufmerksamkeitsmechanismen. Dell sagt, durch die weitgehende Verhaltensstarre der Politik erschöpfe sich irgendwann "die mediale Brisanz, die der Auftritt einer Schülerin bei globalen Politikgipfeln oder vor den Vereinten Nationen haben kann. (…) Es ist deshalb nur logisch, dass sich die Protestformen ändern, um das Thema weiterhin im medialen Bewusstsein zu halten".

+++ Sigmar Gabriel zieht gegen Correctiv vor Gericht, weil ihm eine Formulierung nicht gefalle, schreiben Justus von Daniels, Annika Joeres und Frederik Richter für Correctiv

+++ Die Süddeutsche Zeitungen druckt plötzlich Karikaturen, die gar nicht mehr so schlimm sind. Stefan Niggemeier erklärt für Übermedien (€), was da los ist.

+++ Einzelne Persönlichkeiten bieten jungen Menschen in sozialen Medien "Orientierung und haben wichtige Vorbildfunktionen", schreibt Helmut Hartung in seinem Online-Magazin Medienpolitik.net. Die Konten einzelner klassischer Nachrichtenanbieter "werden geschätzt und genießen bei jungen Menschen Vertrauen, weil sie als unabhängig und seriös gelten".

+++ Teseo LaMarca beschreibt für Übermedien (€), wie deutsche Medien in der Berichterstattung über die Proteste im Iran Propaganda auf den Leim gehen.

+++ Jan Freitag schreibt für DWDL über die Jens-Spahn-Doku "Second Move Kills" (Altpapier): "Wenn Aljoscha Pause (…) von Castortransporten und Coronakrise über Migrations- oder Machtdebatten in Spahns Kindheit und retour reist, weder Immobilien- noch Maskendeal-Skandale auslässt und doch regelmäßig beim Ehemann eines ebenso intoleranten wie debattierfreudigen Salon-Reaktionärs landet, findet er schließlich stets den richtigen Tonfall, um das Unfassbare fassbar zu machen: einen Durchlauferhitzer im politischen Berlin, der beim politischen Aschermittwoch sein Weißbier ext und den Pranger der 'heute-show' nicht scheut. Der also austeilen, aber auch einstecken kann."

+++ Tagesschau-Sprecher dürfen seit dem Wochenende nachts auf den Schlips verzichten. "Weiß die ARD, was für ein Tor zur Hölle sie da öffnet?", schreibt Gerhard Matzig auf der SZ-Medienseite

+++ Klatschmagazin-Verleger Philipp Welte wird neuer Chef des Medienverbands der freien Presse, berichtet unter anderem kress.de. Herzlichen Glückwunsch.

Neues Altpapier gibt es am Freitag.

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