Das Altpapier am 17. November 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier am 17. November 2022 Zweifel is King

17. November 2022, 11:26 Uhr

In Polen sind Raketen eingeschlagen. Aber wer hat sie abgeschossen? Was seit Dienstag passiert, ist ein Lehrstück für guten und schlechten Journalismus. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Raushauen und Tee trinken

Am Dienstagabend sind in Polen Raketen eingeschlagen, zwei Menschen starben, und für einen Moment sah es so aus, als könnte das der Punkt sein, an dem aus dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine ein Weltkrieg wird.

Um 18.28 Uhr mitteleuropäischer Zeit verbreitete der polnische Journalist Mariusz Gierszewski die Nachricht: "Inoffiziell: Zwei verirrte Raketen sind in der Stadt Przewodów in der Woiwodschaft Lublin nahe der Grenze zur Ukraine niedergegangen", wie Dominic Johnson es für die taz nachgezeichnet hat. Was dann folgte, ist ein Lehrstück für guten und schlechten Nachrichtenjournalismus.

Fangen wir mit dem schlechten an. Auf der "Bild"-Titelseite der Printausgabe stand gestern die Headline: "Putin feuert Raketen nach Polen", leicht abgeschwächt von der Dachzeile: "Nach amerikanischen Angaben". Auf der zweiten Seiten fand man die Meldung: "Putin-Raketen auf Nato-Gebiet". Ein Kommentar von Chefredakteur Johannes Boie trug den Titel: "Putin spielt mit dem Weltkrieg". Der Text beginnt mit dem Satz: "Die russische Armee hat Polen bombardiert. Zwei Menschen sind tot, ermordet." Moritz Tschermak hat das alles in einem "Bildblog"-Beitrag zusammengetragen.

Der Haken ist: Als die Zeitung in Druck ging, war längst klar: So sicher ist das alles nicht. Die Nachrichtenagentur AP berichtete zwar unter Berufung auf einen anonymen amerikanischen Offiziellen, es seien russische Raketen gewesen. Reuters dagegen meldete, man habe keine Informationen, die das bestätigten.

Es gab noch weitere Meldungen, die darauf hindeuteten, dass es besser wäre, vorsichtig zu sein. Dominic Johnson schreibt:

"Tief in der Nacht meldete sich der polnische Radiojournalist Gierszewski wieder und bestätigte: 'Meine Quellen in den Diensten sagen, dass das, was Przewodów getroffen hat, höchstwahrscheinlich die Überreste einer Rakete sind, die von den ukrainischen Streitkräften abgeschossen wurde.'"

So tief in der Nacht war das allerdings gar nicht, wie Lorenz Matzat bei Twitter anmerkt. Genau genommen war es 20.08 Uhr.

Bei "Bild" hatte sich da allerdings offenbar schon eine Überzeugung gefestigt, und dann gilt schnell die Devise: Ich lass mir die schöne Schlagzeile doch nicht durch Informationen kaputt machen.

Johannes Boie war sich sicher:

"Der irre Tyrann bringt uns immer näher an einen dritten Weltkrieg."

Gestern Morgen berichtete dann allerdings auch "Bild", es gebe Hinweise darauf, dass es sich um ukrainische Flugabwehr-Raketen handeln könnte. Boie bog seinen Kommentar später stikum so zurecht, wie Tschermak offenlegt, dass auch in der neuen Informationslage alles passt. Dort steht nun:

"Sollte die unwahrscheinliche dritte Möglichkeit zutreffen, dass die Explosion die Folge der ukrainischen Flugabwehr war, dann sind – tatsächlich – auch die Russen schuld."

Das ist allerdings lediglich ein rhetorischer Taschenspielertrick, der die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Frage weglenkt. Am Ende sind eh die Russen schuld, ja. Aber darum ging es hier nicht. Und "die unwahrscheinliche dritte Möglichkeit" erscheint mittlerweile als die wahrscheinlichste.

Die "Bild"-Medien waren nicht die Einzigen, die einfach meldeten, was so schön ins Narrativ passte.

Bei der Nachrichten-Illustrierten "Focus" findet man in der Google-Suche noch immer die Meldung: "Russische Raketen schlagen in Polen ein", über der inzwischen steht (Donnerstag, 7.30 Uhr): "Polens Präsident: Rakete stammt wahrscheinlich von ukrainischer Luftabwehr". Auch der "Stern" meldete ursprünglich: "Russische Raketen schlägt in Polen ein, zwei Menschen sterben".

Fritz Frey, Moderator des ARD-Magazins "Report Mainz", leitete das Thema am Dienstag in seiner Sendung mit den Worten ein:

"Die Nachricht des Abends: Russische Raketen schlagen ein auf polnischem Staatsgebiet. Zwei Tote."

Unschärfe und Gewissheit

Mit diesem Zitat von Frey beginnt ein Beitrag des Deutschlandfunk-Medienmagazins "@mediasres", der die Überschrift trägt: "Wenn jedes Wort zählt". Sebastian Wellendorf hat mit dem Deutschlandfunk-Nachrichtenchef Marco Bertolaso über die Situation am Dienstagabend gesprochen.

Freys Worte geben ungefähr die Meldung wieder, die AP am Dienstag verbreitete: "Russian missiles cross into nato member Poland killing two".

Eigentlich ist AP eine Quelle, auf die Redaktionen sich verlassen können, ohne den Inhalt noch einmal zu überprüfen – das sogenannte Agenturprivileg. Das führt allerdings oft zu einem Phänomen, das man aus Situationen kennt, in denen man mit Navigationsgerät unterwegs ist. Man verlässt sich so sehr auf die Technik, dass man selbst aufhört, sich zu orientieren. Und auch, wenn das Agenturprivileg gilt, bedeutet das nicht, dass man den Kopf nicht einschalten darf.

Die Deutschlandfunk-Nachrichtenagentur ist offenbar wach geblieben und hat damit gute Erfahrungen gemacht. Ein sicheres Indiz dafür, dass Zweifel angebracht sind, ist zum Beispiel immer eine fehlende zweite Quelle. Das war laut Bertolaso auch der Grund dafür, dass der Deutschlandfunk sich mit einer Eilmeldung zurückhielt. Bertolaso sagt:

"(…) das sind ja so handwerkliche Momente und weil wir einfach auch aus Erfahrung wissen, wie viel Unschärfe in diesen ersten Momenten drin liegt und sie haben und andere ja auch die Tragweite schon hervorgehoben. Im Laufe der Geschichte sind so oder so ähnlich Kriege begonnen worden, ohne dass sie vielleicht hätten beginnen müssen."

Und er sagt einen Satz, den man auch gut ins Foyer vom "Spiegel" hängen könnte, vielleicht an die Stelle, wo jetzt noch steht: "Sagen, was ist." Der Satz lautet:

"(…) als Informationsmedium muss man erst mal klären, was wirklich Sache ist, bevor man sich definitiv dazu äußert."

Sich einfach gar nicht zu äußern, das sei jedenfalls nicht mehr möglich. Daher haben Medien sich Formate überlegt, in denen das früher Undenkbare zum Inhalt wird, im Titel steht dann zum Beispiel: "Was wir nicht wissen."

Und das betrifft ein ganz grundsätzliches Detail, das in der breitbeinigen Berichterstattung von Boulevardmedien nicht vorkommen darf: den Zweifel.

An Journalistenschulen wird weiter gelehrt, dass der Kommentar eine dezidierte Position einnehmen muss, kein Einerseits-Andererseits-Wischiwaschi ohne abschließende Verortung der eigenen Meinung. Dahinter steht der Wunsch nach Klarheit und Eindeutigkeit, der vor allem da ganz besonders stark, wo die komplizierte Welt möglichst einfach gezeigt werden soll, im Boulevard.

Die Voraussetzung für eine klare Einordnung oder Positionierung ist allerdings, dass alle relevanten Informationen bekannt sind: Erwähnt man in so einem Fall nicht, wo Zweifel bleiben, entsteht der Eindruck, es gebe auch an dem Urteil keinen Zweifel. Und so arbeitet heute vielleicht noch der Boulevard, ein Privileg von Qualitätsmedien ist: Sie dürfen zweifeln – oder noch etwas deutlicher: Machen sie es nicht, machen sie etwas falsch.

In Marco Bertolasos Worten:

"Was wir getan haben war einfach, nach und nach die verschiedenen Elemente, die wenigen, die wir haben, über die anscheinend Gewissheit zu herrschen scheint, zu nennen und die Unschärfen und die Möglichkeiten auch zu nennen, ohne dass wir uns selber sozusagen zum Richteramt aufschwingen und sagen: So wird es gewesen sein."

Das klingt selbstverständlich, aber das ist es nicht, weil noch immer ein anderes Identitätsverständnis von Journalistinnen und Journalisten verbreitet ist – das der Menschen, deren Aufgabe es ist, die Welt zu erklären.

Da ist es natürlich schlecht, wenn man eingestehen muss, dass man in einem speziellen Fall so gut gar nichts weiß.

Im Boulevard wird das ganz besonders deutlich. Unter anderem deswegen sind Korrekturmeldungen dort so selten. An erster Stelle steht nicht die Absicht, die komplexe Faktenlage in seiner verstörenden Unübersichtlichkeit abzubilden, sondern das Bemühen, alles zu einer möglichst schlüssigen Erzählung zu kondensieren, einer Geschichte.

Im Zweifel sucht man sich eben das Passender raus, die Unübersichtlichkeit abzubilden dagegen, wird immer schwerer. Bertolaso:

"Was nur in den vergangenen Jahren halt verschärfend dazugekommen ist, ist, dass wir über die Vielzahl der digitalen Medien natürlich auch eine Vielzahl von Stimmen haben. Und da muss man auch als Journalistin oder als Journalist kühlen Kopf behalten."

In diesem Fall seien es auch seriöse Politikerinnen und Politiker aus Natostaaten gewesen, die Dinge gesagt haben, über die "man jetzt mit 18 Stunden Entfernung sagen würde, das waren Kurzschlüsse", sagt Bertolaso.

Dazu gehört auch weiterhin ein Politiker, dem Medien großes Vertrauen schenken, obwohl er, wenn auch unfreiwillig, Kriegspartei ist. Am Mittwochabend zitierte die Tagesschau den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit den Worten: "Ich denke, dass es eine russische Rakete war." Er forderte eine Untersuchungskommission, die diese Frage klären soll. Und wenn sich mittlerweile den Berichten nach vieles gibt, das darauf hindeutet, dass nicht die Russen die Rakete nach Polen geschossen haben, kann ich anhand der vorliegenden Informationen nicht einschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass sich am Ende doch noch herausstellt: Es ist manipuliert worden, oder es fehlte doch eine wichtige Information.

Im zuletzt am Mittwochabend aktualisierten Tagesschau-Beitrag mit dem Titel "Was bekannt ist – und was nicht", steht:

"Nach vorläufigen Analysen sei der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden, die gegen russische Angriffe mit Marschflugkörpern eingesetzt worden sei."

Das klingt nicht nach einer gesicherten Erkenntnis. Marco Bertolaso rät Journalistinnen und Journalisten in dem Interview, ruhig zu bleiben und nicht zu übereilten Folgerungen zu kommen.

Die Welt und die sogenannte Wirklichkeit

Das ist bei Twitter anscheinend mal wieder nicht ganz so gut gelungen, zunächst jedenfalls. Philipp Bovermann war für die Süddeutsche Zeitung vor Ort (€) und schildert auf der Medienseite seinen Eindruck. Kurz: "Von etwa 19 Uhr an war dann: #Weltkrieg."

Der übliche Mechanismus dort ist: Meldung taucht auf, es zeichnet sich ein Spin ab, dann werden vor allem Meldungen geteilt und kommentiert, die diesen Spin stützen. Das ließe sich mit dem Confirmation Bias erklären, Zweifel haben in dieser Phase erst mal nichts mehr zu melden. 

Zwischenstand gegen 21 Uhr, Bovermann:

"Spätestens da stellte sich mal wieder die Frage, wie viel Twitter und der Rest der Welt – die sogenannte Wirklichkeit – eigentlich miteinander zu tun haben."

Falls sich später irgendwer wissenschaftlich damit befassen sollte, wie es zu Herdeneffekten kommt, ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch die Frage interessant, welchen Beitrag die übrigen Meldungen hatten, die für den Kontext sorgen. Am Dienstag um 18.19 Uhr meldete AP etwa: "Moldau meldet Stromausfälle nach russischen Angriffen auf die Ukraine."

Wenn ohnehin russische Raketenangriffe im Gange sind, liegt die Vermutung nahe, dass auch ein, zwei Raketen nach Polen geflogen sein könnten.

Bei Twitter ergab sich dann, wie Bovermann beobachtet hat, noch eine andere Entwicklung, die einerseits nach einer guten klingt. Menschen erklärten, dass die Welt noch nicht ganz verloren ist, es also verschiedene Szenarien gibt, die nicht in einen Weltkrieg führen. Es tauchten Fragen auf, "die im Verlauf des Abends auch die Korrespondenten von ARD und ZDF stellen". Allerdings wirken in so einem Fall die tückischen Aufmerksamkeitsmechanismen. Verstärkt wurde vor allem das Framing "Weltkrieg", wie in einer Variante des Streisand-Effekts, am Ende machen die Algorithmen doch wieder, was sie wollen.

Bovermanns Kritik ist aber nicht, dass bei Twitter aus dem Ruder gelaufen ist, sondern etwa die Tagesschau

"weder verlässliche Informationen lieferte (wofür sie nichts konnte, denn es gab es ja keine Informationen), noch dieses Unwissen deutlich markierte (was man ihr sehr wohl vorwerfen kann)".

Inzwischen gibt es zwar den oben erwähnten Beitrag, der auch deutlich macht, was alles nicht bekannt ist. In den prominenten 20-Uhr-Nachrichten hatte Judith Rakers das allerdings nicht getan. Dort hatte sie gesagt:

"Bei den russischen Raketenangriffen soll heute auch ein polnischer Grenzort getroffen worden sein."

Hilfreich wäre der Satz gewesen: Wer die Raketen abgeschossen hat, lässt sich noch nicht sagen.

Philipp Bovermann schreibt:

"Gerade wenn auf Twitter – und von dort aus in anderen Medien, dann in Messenger-Gruppen – sowieso schon Mutmaßungen zirkulieren, die sich anschließend nicht mehr vollständig aus der Welt schaffen lassen, ist das oft wohl das Einzige, das redaktionelle Medien sagen und betonen können: Was wir nichtwissen."


Altpapierkorb (Krömer und Reichelt, Iran, Plasberg, Antisemitische Klischees, Katar)

+++ Kurt Krömers Gespräch mit Julian Reichelt (Altpapier) ist heute Thema beim Spiegel. Christian Buß ist wie viele andere der Meinung, der Schuss sei für Krömer nach hinten losgegangen. Buß kritisiert unter anderem, dass Krömer "der Sinn fürs medienrechtliche und -technische Kleinklein" fehlt, er also nicht reagieren kann, wenn Reichelt die Dinge so verdreht, dass sie wie ein Argument aussehen. Matthias Daniel dagegen, Chefredakteur des DJV-Magazins "Journalist", erklärt in einem Twitter-Thread, warum er der Meinung ist, Krömer habe Reichelt so überrumpelt, dass dem ein paar Fehler unterlaufen seien. Daniel: "Mit sehr wenigen Worten hat sich Reichelt hier um Kopf und Kragen geredet. Er hat öffentlich behauptet, aktuell keine Drogen zu nehmen. Für den Fall, dass das nicht stimmen sollte, könnten ihn einige Menschen in seinem Umfeld nun in ziemliche Schwierigkeiten bringen."

+++ Das NDR-Medienmagazin "Zapp" berichtet darüber über die Medienarbeit der Mullahs im Iran und darüber, welches Bild Medien von den Protesten im Iran vermitteln.

+++ Zum Abschied von Frank Plasberg (Altpapier) schreibt Doris Akrap für die taz: "Auch wenn er vielleicht der trockenste war, der uneitelste unter den ÖRR-Moderatoren war er auf jeden Fall. Plasberg ist der einzige unter den klassischen Polit-Talkshows, der seine Sendung nicht mit seinem Namen verknüpft hat. Er hat sogar einen Nachfolger gesucht, damit die Sendung ohne ihn nicht stirbt. Plasberg bleibt Plasberg. Er hinterlässt eben alles immer gern sehr sauber."

+++ Andrej Reisin erklärt für Übermedien (€), warum auch Menschen, die keine Nazis sind, antisemitische Klischees verbreiten können. Deutlich wird das in einem rhetorischen Trick, den Reisin anhand eines Zitats des amerikanischen Radiomoderators Jay Smooth erklärt, der sagt: "Es beginnt immer als eine 'Was haben sie gesagt oder getan'-Konversation. Aber sobald sich eine kritisierte Berühmtheit oder ihre Freunde zu Wort melden, führen sie einen Strohmann ein und machen das Ganze zu einer 'Was sie sind'-Debatte." Also irgendwer sagt etwas Rassistisches, dann heißt es: Aber er ist doch kein Rassist. Muss er auch nicht. Kann aber trotzdem sein, dass diese Person etwas Rassistisches gesagt hat.

+++ Ein dänisches Reporterteam ist bei einer Liveschalte in Katar beim Filmen behindert worden, berichtet der Deutschlandfunk. Die Organisatoren der Fußball-Weltmeisterschaft sprechen von einem Versehen.

Neues Altpapier gibt es am Freitag.

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