Das Altpapier am 30. November 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 30. November 2022 Nazis rein

30. November 2022, 13:27 Uhr

Twitter wird immer brauner, berichten US-Medien, und die Frage, ob man seinen Account löschen sollte, gewinnt dadurch an Dringlichkeit. Ehemaligen RBB-Hierarchen geht’s im sogenannten Ruhestand noch paradiesischer als gedacht. Wenn’s ums Thema Fußballfans geht, kochen Journalisten gern ein rechtskonservatives Süppchen.

Musk und seine Troll-Kumpels

Wenn sich ein Journalist und Experte zum Thema Twitter im Fieldreporter-fragt-Fußballer-nach-dem-Spiel-Modus unterhalten würden, lautete der Einstiegsdialog wahrscheinlich: "Wie gefährlich ist der reichste Mann der Welt?" - "Sehr gefährlich!"

vice.com komprimiert die Gefahr, die von Elon Musk ausgeht, aktuell in folgender Aufzählung:

"In den letzten Tagen hat der neue CEO der Plattform die Konten bekannter Neonazis reaktiviert; ein Bild eines weißen Rassisten geteilt, der sagte, er würde es gerne sehen, wenn Trump mehr wie Hitler wäre; es nicht geschafft, Benutzer daran zu hindern, Videos des Massakers von Christchurch zu posten; ein beliebtes Alt-Right-Meme getwittert; eine bekannte antisemitische Trope verwendet; und, versehentlich oder nicht, einen Dogwhistling-Tweet geteilt, den weiße Rassisten als Lob für Hitler interpretierten."

Ungefähr gleichzeitig, berichtet wiederum "The Intercept", wurden in der vergangenen Woche

"die Konten mehrerer prominenter antifaschistischer Organisatoren und Journalisten gesperrt, nachdem rechte Aktivisten direkt an Musk appelliert hatten, sie zu verbieten, und rechtsextreme Internet-Trolle das Beschwerdesystem von Twitter mit falschen Berichten über Verstöße gegen die Nutzungsbedingungen überflutet hatten."

Die "Intercept"-Autoren erwähnen auch, dass Musk in der vergangenen Woche Konversation pflegte mit Andy Ngo, einem "far-right writer whose conspiratorial, error-riddled reporting on left-wing protests and social movements fuels the mass delusion that a handful of small antifascist groups are part of an imaginary shadow army called 'antifa‘” (Links im Zitat wie im Original). Der Kernsatz der Passage lautet:

"Musk invited Ngo to report 'Antifa accounts'that should be suspended directly to him."

Eine Grafik der "Washington Post", die "the biggest shifts in Twitter followers for Republican and Democratic members of Congress since Elon Musk’s purchase of Twitter" zeigt und die wiederum Tom Schaffer, der Chefredakteur des österreichischen "Moment"-Magazins, geteilt hat, liefert schließlich einen weiteren Beleg dafür, dass Twitter "brutal nach rechtsaußen rutscht", wie Schaffer selbst es formuliert. Seine Zusammenfassung der Grafik:

"Seit der Musk-Übernahme haben rechtsextreme Politiker:innen bis zu fast 400.000 neue Follower:innen. Mitte-Links-Politiker:innen wie Elizabeth Warren und Bernie Sanders haben über 100.000 verloren."

Joachim Käppner ventiliert angesichts dieser Entwicklungen auf der Meinungsseite der SZ (€) die in dieser Kolumne schon gelegentlich angerissene "Gehen oder Bleiben?"-Frage:

"(Musk) scheint aus Twitter eine Waffe der Rechten im amerikanischen Kulturkrieg machen zu wollen, zum Schaden der bedrängten Demokratie. Sollte das geschehen, ist es Zeit, Abschied zu nehmen - weil Nutzerinnen und Nutzer andernfalls einem freiheitsfeindlichen Projekt zu Daten und damit zu Geld verhelfen würden, nur um der Bequemlichkeit oder des Nutzens willen, die es bietet. Man kann eben schlecht in übler Gesellschaft auf dem Hinterhof abhängen, ihr gar Geldscheine zustecken und behaupten: Ich habe mit diesen Leuten doch wirklich nichts zu tun."

Sorgen die Letzte Generation und Co. für "eine fundamentale Störung des Wesens der Medien"?

Weiter geht natürlich auch die Debatte um die Aktionen der Letzten Generation (Altpapier, Altpapier), obwohl diese gerade kurz pausiert. Christian Bangel (Zeit Online) meint:

"Es mag gute Gründe geben, das Handeln der Letzten Generation zu kritisieren. Aber es ist wichtig, dass die Maßstäbe stimmen. Anders als die Rechten bewaffnet sich die Letzte Generation nicht, sie tötet keine Menschen und sie plant auch keinen Systemsturz."

Für pop-zeitschrift.de geht Marius Reisener auf "die medialen Protestformen von Fridays for Future, Extinction Rebellion und der Letzten Generation" ein:

"Proteste dieser Art entfalten (…), so ineffektiv sie in Bezug auf die 'wirklichen'Problembereiche aktueller Klimadebatten auch zunächst erscheinen mögen, ihre Wirkkraft vor allem dort, wo es um Medialität selbst und die damit zusammenhängenden Formen des Geschichte-Machens geht. Mit Blick auf den öffentlichen Umgang mit diesen Protestformen zeigt sich indes noch etwas anderes: Denn dieser Blick offenbart Einsichten in die politischen und diskursiven Beißreflexe, die angesichts von vermeintlichen Unruhen im Betrieb zutage treten. Es geht um Affekt-Politik."

Reiseners Fazit:

"Wo sich eine neue Generationen von Aktivist:innen in den Randbereichen herkömmlicher medialer Strukturen formiert und vernetzen, attackiert sie aus der Peripherie den Kern eingespielter Informationsproliferation. Sie tut das, weil sie ihrer Stimme beraubt wurde, weil sie vor der Katastrophe steht. Die Objekte ihres Protestes sind dabei keineswegs nur symbolpolitischer Natur. Es geht um eine fundamentale Störung des Wesen der Medien, deren Institutionen und unserer Haltung zu ihnen. Was Fridays for Future, Extinction Rebellion oder Die Letzte Generation betreiben, ist, diejenigen medialen Kanäle in ihrem tiefsten Wesen zu stören, deren Betreiber:innen zu lange weghört haben."

Eine kritische Position zu Reiseners Text ("sympathisch, aber nicht richtig") findet sich hier.

Was geht beim "Tagesspiegel"?

Der Relaunch des "Tagesspiegel", von dem gestern hier schon kurz die Rede war, ist heute das Aufmacherthema auf der SZ-Medienseite. Anna Ernst schreibt:

"Vor allem die internationale Berichterstattung soll ausgebaut werden: mit mehr Analysen und Hintergrundstücken. Aber statt dafür auch massiv mehr Korrespondenten in aller Welt anzuwerben, setzt der Tagesspiegel auf eine kostengünstigere Lösung: etwa 1000 Expertinnen und Experten von Stiftungen, wissenschaftlichen Einrichtungen und Thinktanks wurden angesprochen und in einer Datenbank registriert. Sie sollen künftig Tipps geben und sogar Inhalte liefern. Menschen also, deren Profession es ist, Analysen zu Themen und anderen Ländern zu verfassen, schreiben nun aus eigenem Antrieb Textbausteine. Praktisch: Sie sind ja bereits andernorts angestellt, Lohnkosten entfallen. Weniger praktisch: Nicht alle von ihnen sind geübt, journalistisch zu schreiben. Dafür braucht es beim Tagesspiegel nun ein eigenes Ressort namens 'International Desk‘. Ein gutes Dutzend Redakteure macht dort aus eingereichten Versatzstücken druckbare Texte: 'Kuratieren' nennen sie das. Statt große Auslands-Reportagen in die Welt zu setzen, statt eigener Autoren holt man sich das, was die Welt schon bietet."

Ernst findet das nicht unproblematisch:

"Eigentlich ist man da dann (…) doch eher eine Plattform - auf jeden Fall weniger Redaktion als früher."

Was sagt der "Tagesspiegel" selbst zur künftigen Auslandsberichterstattung? Man wolle "für eine kontinuierliche und fundierte Auslandsberichterstattung mit Weitblick stehen", die "auch auf die 'blinden Flecken’ schaut".

Nebenbei bemerkt: Der Brüller in der ersten Ausgabe nach dem Relaunch ist ein Dialog in einem Interview (Blendle-Link), das die "Tagesspiegel"-Redakteure Hans Monath und Christian Schröder mit Interviewpartner Peter Sloterdijk geführt haben:

"Ist das postheroische Zeitalter vorbei?" - "Nein. Der deutsche Mann ist heute eher ein Adressat der Parfümindustrie als einer der Waffenhersteller, wie andere westeuropäische Männer auch."

Ich würde das als zivilisatorischen Fortschritt betrachten, aber ich gehe mal davon aus, dass Sloterdijk das anders sieht.

RBB-Ruhegelder: legal, illegal, scheißegal?

In Sachen RBB-Recherchen zu den Skandalen im eigenen Haus war personell in den vergangenen Wochen eine Aufspaltung zu beobachten: Gabi Probst, zunächst Teil eines größeren Teams, recherchiert nun allein. Für die Redaktion "Kontraste" - aber wohl eher nicht für die lineare Sendung des Magazins, denn die nächste läuft erst am 15. Dezember - schreibt sie nun ein neues Kapitel zum Thema Ruhegelder beim RBB (siehe unter anderem dieses Altpapier), und zwar über solche, die "auf dem alten Vorruhestandstarifvertrag des Sender Freies Berlin (SFB)", also einer Regelung von einem der beiden Vorgängersender, basieren. Die Folgen?

"Ein ehemaliger Geschäftsführer einer Tochterfirma des rbb, der 2018 mit 57 Jahren aus dem Sender ausschied, (erhält) jährlich rund 100.000 Euro – ohne für den Sender zu arbeiten. Das Vorruhestandsgeld der ehemaligen Revisorin des rbb beträgt derzeit rund 7.800 Euro monatlich. Sie ging, genau wie ein rbb-Projektleiter, bereits mit 59 Jahren in den Vorruhestand.

Brisant dürften diese Fälle deshalb sein, da das Vorruhestandsgeld laut der alten SFB-Regelung 'frühestens 60 Kalendermonate vor dem Zeitpunkt'gewährt wird, zu dem Anspruch auf Altersrente besteht. Ginge man von einem Renteneintritt mit 65 Jahren aus, wären alle drei Personen mit unter 60 Jahren dafür zu jung gewesen."

"Brisant" klingt für mich eher untertrieben. Sollten diese Gelder tatsächlich unter illegalen Umständen geflossen sein sein bzw. fließen, könnten für jene, die dafür verantwortlich sind, ungemütliche Zeiten anbrechen. Und für die, diese Ruhegelder bekommen haben, ebenfalls.

Der bizarrste von Probst aufgegriffene Fall ist wohl das Ruhegeld für eine in der Blüte ihres Lebens stehende Boomerin, die Probst im Text "eine ehemalige Programmdirektorin" nennt:

"Sie war 2016 als neue Intendantin gehandelt worden; den Posten erhielt im Juli 2016 aber Patricia Schlesinger. Seit ihrem Ausscheiden Anfang 2017 mit damals 53 Jahren bekommt die ehemalige Direktorin Ruhegeld. Unterlagen bestätigen, dass sie derzeit rund 8.200 Euro monatlich erhält. Insgesamt zahlte der rbb für sie bisher rund 500.000 Euro. Gleichzeitig arbeitet sie seit Oktober 2017 als Dozentin an einer Hochschule. Seit 2018 besitzt sie eine ordentliche Professur."

Die Zahl der früheren Programmdirektorinnen, die 2016 als Intendantin gehandelt wurden und heute als Professorin an einer Hochschule tätig sind, ist, sagen wir mal: begrenzt, aber da Probst, wie auch bei anderen Nutznießern, den Namen nicht nennt, nennen wir ihn auch nicht.

Als der MDR sich einmal an einer zweifelhaften Fahndungsaktion beteiligte 

Dass Spitzenfußball und die Berichterstattung darüber politisch ist, wird in diesen Tagen deutlich wie selten. Inwiefern die Berichterstattung über Fußballfans in Deutschland politisch ist - damit beschäftigt sich Andrej Reisin bei "Übermedien" unter der Überschrift "Wenn Journalisten sich als Hilfssheriffs verstehen"

Er steigt ein mit einem Blick auf die Berichterstattung über ein beinahe ikonographisch gewordenes Polizeigewaltvideo aus dem Oktober, das einen Einsatz vor dem Zweitligaspiel zwischen dem FC St. Pauli und dem HSV zeigt. Die ist anfangs noch relativ polizeikritisch, "doch kurze Zeit später ändert sich der mediale Sound", konstatiert Reisin. Der Grund: Die Hamburger Polizei hatte in die Trickkiste gegriffen und unter mutmaßlicher Umgehung datenschutzrechtlicher Vorschriften ein paar das Opfer diskreditierende und ohnehin nichts zur Sache tuende Infos an ausgewählte Medien durchgesteckt.

In dem "Übermedien"-Artikel geht es auch um unseren MDR. Dieser hatte sich im September in einer Folge der Sendung "Kripo live" an einer "Öffentlichkeitsfahndung nach 39 bis dahin angeblich unbekannten Tätern" (Reisin) aus der linksorientierten Fanszene des Viertligisten Chemie Leipzig beteiligt. Die Fahndung stand im Zusammenhang mit Gewalttaten bei einem Derby gegen Lok Leipzig vier Monate zuvor.

Das "Rechtshilfekollektiv Chemie Leipzig" kritisierte damals:

"Dass Fahndungen in dieser Form ein besonders problematisches und in Bezug auf die Grundrechte sehr eingriffsintensives Instrument sind, ist sicherlich auch dem MDR nicht neu (…) Zugespitzt könnte man meinen, der MDR sei (sic!) der verlängerte Arm der LKA-Pressestelle."

Reisin kritisiert außerdem die Rolle des in der Sendung als "Storyteller" fungierenden MDR-Promis René Kindermann, der ohnehin ein besonderes Herzchen bzw. "eine nicht ganz unumstrittene Figur" (Reisin) ist. Ich musste Kindermann schon mal verarzten für einen Text für das Jahrbuch Fernsehen unter dem Titel "Der Marsch zum rechten Rand. Wie Fernsehjournalisten im AfD‑Milieu landeten", weil der MDR-Mann in einem Gespräch mit der früheren ZDF-Spitzenkraft Peter Hahne, also einem dieser an den Rand marschierten Herren, auf tendenziell epochale Weise rumeierte und rumdruckste.

Doch zurück zur Fahndung nach den Fans:

"Der MDR musste den Beitrag über den Fall schon Tage später aus dem Online-Video der Sendung löschen (…) Dass auf YouTube und anderswo nach wie vor private Uploads der Sendung existieren, sollte dem MDR und anderen (aber) zu denken geben. Da sie damit rechnen müssen, dass genau das passiert, was sie nicht kontrollieren können, wäre es insbesondere für öffentlich-rechtliche Anstalten angemessen, auf Derartiges zu verzichten, anstatt einem voyeuristischen Publikumsinteresse an 'True Crime'nachzugeben."


Altpapierkorb (Springer-Umbau, Böll-Stiftung, Guttenberg)

+++ Die Berichterstattung über die verloren gehenden Jobs bei Bild TV (Altpapier) habe dafür gesorgt, dass die wichtige Information, dass Springer den Bereich "News Media National" umbaut, in den Hintergrund gerückt sei, meint Steffen Grimberg in der taz. "Der untersteht fürs Erste Springer-Chef Mathias Döpfner höchstpersönlich und wird nun aufgeteilt. Böse Stimmen unken, so was passiere ja gerne auch deshalb, weil sich Einzelteile besser verkaufen oder dichtmachen lassen. Womit vor allem die 'Welt’ gemeint sein könnte."

+++ Die Böll-Stiftung hat einen Anthroposophie-kritischen Podcast, den sie zunächst aufgrund von Angriffen von Anthroposophen offline genommen hatte, in der vergangenen Woche wieder zugänglich gemacht, dabei aber eine entscheidende Passage weggelassen - und am Dienstag nun die komplette Fassung online gestellt. Matthias Meisner rekapituliert das Ganze für den "Volksverpetzer".

+++ Die Abschaffung der gedruckten "Tagesspiegel"-Medienseite haben wir in diesem, diesem und diesem Altpapier aufgegriffen, aber wir erwähnen natürlich gern, dass es online weiterhin ein Rubrik "Medien" gibt. Dort findet sich aktuell zum Beispiel eine Besprechung der Dokumentation "KT Guttenberg - Auf den Spuren der Macht: Der Fall Putin": "Wenn er in einem dunklen Raum im Gegenlicht auf einer Monitorwand nach Antworten sucht, wirkt die Inszenierung übertrieben. Die Schilderung vom Aufstieg Putins zum Alleinherrscher über Russland bringt keine neuen Erkenntnisse". Auch die FAZ (Blendle-Link) rezensiert das Ding: "Erstaunlicherweise", schreibt Oliver Jungen, leiste sich der Film am Ende "eine seltsame Antiklimax, denn reiche 'Freunde'in Los Angeles müssen noch zu Wort kommen (…) Besucht werden der Schauspieler Ashton Kutcher und seine ukrainische Ehefrau Mila Kunis, die Dutzende Millionen Dollar für die Ukraine gesammelt haben: sicher ein wertvoller Fund-Raising-Beitrag amerikanischer Prominenter, aber mehr auch nicht (…) Den Abschluss dieses allzu selbstverliebten Films bildet eine wieder vielsagende Kamerafahrt: rund um den dramatisch in die Ferne blickenden Widerstandsmoderator KT selbst, der vom Berliner Teufelsberg herab von der Macht, die Welt zu verändern, raunt. Er raunt in den Wind. 'Docu­tainment‘, das ist das Problem, genügt sich selbst."

Das morgige Altpapier schreibt Ralf Heimann.

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