Das Altpapier am 15. Februar 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Autor René Martens kommentiert im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 15. Februar 2023 Moralische Fundamente

15. Februar 2023, 10:13 Uhr

Neue Recherchen zur NS-Vergangenheit des ersten ZDF-Intendanten Karl Holzamer rücken mal wieder in den Blick, wie problematisch es war, dass bis 1945 noch NS-loyale Journalisten und Medienmacher am publizistischen Neuaufbau Deutschlands intensiv beteiligt waren. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Der zentrale Platz vor dem ZDF-Sendegebäude braucht einen neuen Namen

Es gibt wohl kaum einen Buchtitel- und Untertitelkomposition, die die deutsche Nachkriegsgeschichte besser auf den Punkt bringt als "Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde." Der SZ-Autor Willi Winkler veröffentlichte dieses Buch 2019, im Altpapier kam es mehrmals vor, unter anderem in diesem.

Auf Seite 281 findet sich dort folgende Passage:

"Die Propagandisten des 'Dritten Reiches', die noch vor wenigen Jahren die Erfolge der Wehr­macht und die Siege gegen den Kommunismus gefeiert hatten, prägten den Journalismus der Nachkriegsjahrzehnte: Kurt Blauhorn, Henri Nannen, Karl Holzamer, Walter Henkels, Peter von Zahn. Es waren die in jeder Hinsicht Davongekommenen des Hitler-­Regimes, die mehr oder weniger bewusst für die Demokra­tisierung Deutschlands sorgten."

Mit dem hier unter anderem erwähnten ZDF-Gründungsintendanten Holzamer beschäftigt sich Winkler nun auch aktuell in der "Süddeutschen Zeitung". Anlass: Der einst von Holzamer regierte Sender hat, wie es bei "ZDF heute" heißt, "im Vorfeld seines 60-jährigen Jubiläums eine Untersuchung durchgeführt", bei der "zu Tage  gefördert" wurde, "dass Holzamer (1906-2007) unter anderem seine zeitweilige Zugehörigkeit zur SA verschwiegen und seine von 1937 bis 1945 bestehende NSDAP-Mitgliedschaft auf eine 1937 eingegangene und 1939 angeblich selbstständig aufgelöste Anwartschaft reduziert hat". Und dass er sich "als Kriegsberichterstatter der Wehrmacht, stärker in den Dienst der NS-Herrschaft gestellt" habe, "als er nach 1945 einräumte".

Die Frage, warum die Sache mit der NSDAP-Mitgliedschaft nicht schon früher jemand überprüft hat, liegt hier natürlich nicht fern. Hätte man es zum Beispiel 2006 getan, hätte der "zentrale Platz vor dem ZDF-Sendebetriebsgebäude auf dem Mainzer Lerchenberg" in jenem Jahr wohl kaum den Namen Karl-Holzamer-Platz bekommen. Nun wird man ihn halt schleunigst umtaufen müssen, denn es sollte Grundkonsens sein, dass Straßen und Plätze nicht nach ehemaligen NSDAP-Mitgliedern benannt sein können. Einen würdigen Namensgeber zu finden, kann ja nicht so schwer sein.

Winkler schreibt in dem erwähnten SZ-Artikel:

"Groß ist jedes Mal das Erstaunen, wenn wieder einem der Gründer der Bundesrepublik nachgewiesen wird, dass er mitgelaufen ist, mitgemacht hat, mitgemordet hat, ohne dass es ihm in der Bundesrepublik, die alles andere als Nachfolgerin des vorangegangenen Unrechtsregimes sein wollte, geschadet hätte. Im Gegenteil konnte sich die Vorgeschichte aus dem Dritten Reich sogar karrierefördernd auswirken."

In der FAZ bemerkt Michael Hanfeld zu den Enthüllungen des ZDF in eigener Geschichts-Sache:

"Bis dato war das Bild des ZDF-Gründungsintendanten ein unbeflecktes. Der damalige ZDF-Chef Markus Schächter meinte zum Tode Holzamers im Jahr 2007, er sei ein 'Jahrhundertintendant' gewesen. Der einstige Intendant Dieter Stolte, der von 1962 bis 1967 Holzamers persönlicher Referent war, schrieb in der FAZ, Holzamer habe das 'geistig-moralische Fundament des ZDF' gelegt."

"Geistig-moralisches Fundament"? Ojemine. Was der Fundamentleger ein Jahr vor Kriegsende schrieb, rekapituliert Willi Winkler:

"Als er 1944 die Durchschlagskraft der auf Großbritannien abgefeuerten V-1 zu bejubeln hatte, wurde Holzamer zum feuerseligen Dichter: 'Die Insel zittert und über London steht die Glut.‘ In den Nachkriegsjahrzehnten kam es auf diese Sätze nicht mehr an, zur Verantwortung gezogen wurde dafür keiner. Ein genauerer Blick zurück hätte beim Wiederaufbau nur gestört. Holzamer trat ebenso rückhaltlos für die Demokratie ein, wie er vorher im Krieg das nationalsozialistische Deutschland verteidigt hatte."

Hieran anschließen ließe sich mit einer wichtigen Einordnung, die der Historiker Martin Sabrow in dem oben genannten "ZDF heute"-Beitrag liefert:

"Über den Fall Holzamer hinaus wirft die intensive Mitwirkung von bis 1945 NS-loyalen Intellektuellen, Journalisten und Medienmachern am publizistischen Neuaufbau (West-)Deutschlands eine bis heute nicht befriedigend beantwortete Frage auf: Welche Rolle kam ihnen in der langwierigen Entwicklung von der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zur bundesdeutschen Wertedemokratie der Gegenwart zu?"

Empfehlenswert ist in diesem Kontext die Lektüre des Buch "Journalismus im Dritten Reich" (siehe Altpapier).

Und zur Abrundung des Holzamer-Bildes nun schließlich noch ein Blick Willi Winklers in die etwas weniger weit zurückliegende Vergangenheit:

"Das in Mainz niedergelassene ZDF galt immer als konservativer als der ARD-Durchschnitt. Hier durfte - mit dem Segen des Intendanten Holzamer - Gerhard Löwenthal ausgiebig Propaganda gegen die sozialliberale Koalition und deren Ostpolitik machen. Als der Schriftsteller Gerhard Zwerenz 1974 im Kulturmagazin 'Aspekte‘ das brutale Vorgehen der Frankfurter Polizei gegen Demonstranten anprangerte, suspendierte Holzamer den Moderator Reinhart Hoffmeister vorübergehend."

Ungefähr alles, was man über das deutsche Feuilleton wissen muss

Am Dienstag ist am Amtsgericht Tiergarten ein Prozess zu Ende gegangen, der die überregionalen Medien seit Anfang vergangener Woche in einer Weise beschäftigt hat, die für ein Verfahren am Amtsgericht Tiergarten eher ungewöhnlich ist (um es zunächst mal rätselhaft zu umschreiben).

Vor Gericht stand hier der Berliner AfD-Bezirkspolitiker Kai Borrmann, weil er die Musikjournalistin Steph Karl beleidigt und gebissen hatte, und als Zeugin sagte eine (ehemalige) Heroine des deutschen Feuilletons aus.

"Es handelt sich um die Soziologin Cornelia Koppetsch, die 2019 für ihr Buch 'Die Gesellschaft des Zorns‘ gefeiert wurde",

schrieb Matthias Dell dazu bei "Übermedien" am Tag vor der Urteilsverkündung. In seinem Text geht es um die Berichterstattung zu Koppetsch damals und heute. Als Lektüre seien in diesem Kontext diverse Altpapiere empfohlen: aus dem Oktober 2019 sowie dem April, Mai und August 2020. Darin geht es teilweise auch um den Unteraspekt Koppetsch und ihre Plagiate (ein Thema, das die FAZ erst vor wenigen Tagen aus aktuellem Anlass erneut aufgriff).

Doch nun zum Kern. Dell schreibt:

"Die eigentliche Brisanz (…) verdankt sich (…) dem Umstand, dass durch die sturen Abläufe des Verfahrens etwas publik wurde, was 2019 einigen zwar bekannt war, aber nicht veröffentlicht werden durfte: Der AfD-Mann Kai Borrmann ist der Lebensgefährte von Koppetsch. Er ist der im Buch nachnamenlose 'Kai‘, dem die Soziologin am Ende ihres Erfolgsbuches dafür dankte, den Stoff des Buches 'immer wieder mit mir diskutiert und weiterentwickelt' zu haben."

Diese Konstellation trug dazu bei, dass zum Beispiel "Die Zeit" und "Die Welt" gleich zweimal über den Prozess berichteten (hier, hier, hier und hier). Dell schreibt des Weiteren:

"Das Buch, das 2019 den vermeintlich 'bisher ambitioniertesten Versuch‘ darstellte, 'den Rechtspopulismus mit einer Gegenwartsdiagnose zu verbinden' (Gustav Seibt in der 'Süddeutschen Zeitung‘), entstand also unter tätiger Mitwirkung eines Rechtspopulisten von der AfD. Klingt wie ein schlechter Witz. Und könnte eigentlich dazu führen, dass sich der Teil des Feuilletons, der 'Die Gesellschaft des Zorns‘ gepriesen hatte (…), einmal fragte, warum ein Buch, das der AfD so viel Verständnis entgegenbringt und zugleich von einem AfD-Mann 'weiterentwickelt‘ wurde, derart gut gefunden wird."

Spoiler: Dieses Hinterfragen findet nicht statt, und diesen Makel beschreibt Dell ausführlich. Er meint außerdem:

"Die naheliegende Frage wäre: (…) Warum keine der begeisterten Rezensionen 2019 oder danach mal diskutiert hat, inwiefern Koppetschs These vom 'kulturellen Liberalismus‘, der zur 'herrschenden Ideologie' geworden sei und deshalb die Leute in den Rechtspopulismus zwinge, mit den AfD-Selbstbeschreibungen als Opfer übereinstimmt."

Und ein über den Fall Koppetsch hinaus relevanter Aspekt sei ebenfalls noch erwähnt:

"Die wirklich interessante Frage, über die man sich differenzierte Debatten wünschen würde, lautet: Warum sind die Besprechungen im weißen deutschen Feuilleton derart fasziniert von Erklärungsmustern für rechte Bewegungen, die sich von deren eigenen Spins freundlicherweise kaum unterscheiden?"

Das könnte daran liegen, dass zu viele weiße deutsche Feuilletonisten eher mit den Tischmanieren der rechten Bewegungen Probleme haben als mit deren Positionen.

Ach so, beinahe hätte ich die Details zum Urteil vergessen. Die taz schreibt:

"Die Richterin verurteilte Kai Borrmann zu 180 Tagessätzen á 60 Euro wegen rassistischer Beleidigung und gefährlicher Körperverletzung. Borrmann muss die Kosten des Verfahrens und die der Nebenklägerin tragen."

Altpapierkorb ("Storykillers", Outplacement-Ratschläge für RTL-Führungskräfte, Forderung nach mehr Bürgereinbindung bei öffentlich-rechtlichen Debatten)

+++ Auf die Geschichten, die Autorinnen von zwölf internationalen Medien am Dienstagabend unter dem Projekttitel "Storykillers" veröffentlicht haben - auf deutscher Seite sind "Spiegel" und "Zeit" dabei - sei an dieser Stelle erst einmal nur hingewiesen. Eine ausführliche Würdigung ausgewählter Texte, die in den Blick nehmen, wie Reporterinnen weltweit "unter der systematischen Hetze im Netz leiden" (um es mit dem "Spiegel" zu sagen), folgt am Donnerstag.

+++ Anna Ernst hat für die "Süddeutsche Zeitung" Zugang zu "internen Unterlagen" bekommen, aus denen hervorgeht, wie RTL Deutschland Führungskräften beibringen will, Mitarbeiter stilvoll in die Wüste zu schicken. Ernst erwähnt unter anderem ein geplantes Seminar mit dem Titel "Anstehende Mitarbeitendengespräche bzgl. Trennung und Outplacement richtig führen." Auch mögliche Dialoge ha haben die RTL-Ratgeber zur Orientierung für ihre Führungsheinis schon mal ausgedacht. Zum Beispiel: "Brauche ich jetzt einen Anwalt?" - "Die Beauftragung eines Anwalts ist deine persönliche Entscheidung." Oder: "Die aktuelle Lage ist mir zu viel, kann ich mich krankschreiben lassen?" - "Wir sind an einer fairen Vorgehensweise interessiert. Dazu gehört auch von deiner Seite, dass du deiner Arbeitsverpflichtung nachkommst. Wenn du krank bist, meldest du dich natürlich krank. Du kannst dich auch jederzeit vertrauensvoll an unser Health-Team wenden." Das klingt beinahe nach Dialogen für eine mediensatirische Sitcom (die wir aber wohl eher nicht im RTL-Reich sehen werden).

+++ Bürger stärker in die Debatte zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einzubinden - das fordern Leonhard Novy, Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik, und der Unternehmensberater Henning Banthien im "Tagesspiegel": "Gerade mit Blick auf die Akzeptanz repräsentativer Verfahren (und die solidarische Finanzierung der Öffentlich-Rechtlichen), ist es sinnvoll, Beteiligung zuzulassen. Zumal die Einbindung von Bürger:innen bei gesellschaftlich relevanten Fragen, entsprechend organisiert, nicht nur Vertrauen schafft, sondern auch wichtige innovative Impulse liefert. Das belegen Beispiele aus anderen Politikbereichen im In- und Ausland. Paradoxerweise jedoch erschöpfen sich bestehende Angebote, gerade wenn es um ARD, ZDF und Deutschlandradio geht, bislang in wenig attraktiven und in der Regel folgenlosen Konsultationsverfahren zu Gesetzesvorhaben und PR-getriebenen Dialogformaten der Sender."

Das Altpapier von Donnerstag kommt erneut von mir.

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