Das Altpapier am 8. Mai 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 8. Mai 2023 Und was ist mit den Menschen im Sudan?

05. Mai 2023, 10:00 Uhr

Der Sudan reiht sich ein in die Krisenregionen, aus denen mehr berichtet werden müsste. Keine Wahrnehmungsprobleme hat der britische König. Es sei denn, man vergleicht ihn mit der Queen. Und der Presserat befasst sich mit Holger Friedrich. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Zur medialen Präsenz des Krieges im Sudan

Seit Mitte April ist Krieg im Sudan; mehr als 330.000 Menschen sind auf der Flucht. Und einerseits sind die Medien, auch die deutschen, voll von Berichten darüber. Wenn man in eine Suchmaschine "Sudan" eingibt, sieht man, wie voll: Beiträge von ARD bis ZDF, von "Augsburger Allgemeiner" bis zeit.de. Dennoch ist es möglich, jeden Tag die Medien zu nutzen, ohne das Wort "Sudan" auch nur zu hören, denn Themen sind (oder wirken) oft nicht deshalb vernachlässigt, weil sie von Nachrichtenredaktionen übersehen würden – sondern weil sie, auch mangels Publikumsnachfrage, schnell wieder von Online-Startseiten verschwinden; oder weil sie in Randspalten auf Seite 6 abgehandelt werden; oder weil es keine Bilder fürs Fernsehen gibt.

Sieht man genauer hin, fällt zudem auf, wie wenige Korrespondentinnen und Korrespondenten die Berichterstattung von anderen afrikanischen Ländern aus vorantreiben. Das kommt hier noch dazu: die Korrespondentendürre auf dem Kontinent (die in anderem Zusammenhang auch Gilda Sahebi in einem Interview auf den Seiten des Europäischen Journalismus-Observatoriums EJO kritisiert). Vertreter und Flüchtlingsbotschafterinnen der Uno, das Auswärtige Amt, ProAsyl, Unicef-Sprecher, Regierungsvertreter aus Saudi-Arabien und den USA, deutsche Militärs: Deren Stimmen sind in der bisherigen Sudan-Berichterstattung wahrnehmbar. Die von Menschen aus dem Sudan kaum.

Es gibt Ausnahmen; zu erwähnen wären etwa ein Beitrag von Fritz Schaap für den "Spiegel", und vor allem Kapstadt-Korrespondent Bernd Dörries’ Artikel über die "Pässe der Vergessenen" in der "Süddeutschen" von vergangener Woche. Aber seit der Evakuierung von EU-Bürgerinnen und -Bürgern aus dem Sudan scheint mir in der Berichterstattung das Interesse an Zivilisten, die der Krieg im Sudan in große Not und Gefahr brachte, noch zurückgegangen zu sein.  Sind Deutsche unter den Betroffenen, kann das Interesse deutscher Redaktionen erheblich steigen. Die Ethnologin Valerie Hänsch kritisiert auf freitag.de:

"In Medienberichten loben Regierungen der EU die gelungene Evakuierung ihrer Bürger*innen aus dem Sudan. Es ist verständlich und wünschenswert, dass sich Regierungen um ihre Bürger*innen kümmern. Doch was ist mit den Menschen im Sudan?"

Warum Twitter fehlen würde

Und damit zu den "Pässen der Vergessenen", wie es die "SZ" nannte: In der deutschen Botschaft in Khartum liege vermutlich noch eine dreistellige Anzahl von Reisepässen sudanesischer Staatsbürgerinnen und -bürger, berichtete dieser Tage tagesschau.de unter Berufung auf Aussagen in der Bundespressekonferenz und unter Rückgriff auf die Berichterstattung der "Süddeutschen". Es handelt sich um Ausweise von Sudanesinnen und Sudanesen, die vor einiger Zeit Visa beantragten hatten, um auszureisen, ob zu einem Filmfestival in Schweden (BBC.com) oder zu einer Facharztweiterbildung in Deutschland (zdf.de). Diese Leute kommen nun nicht an ihre Reisedokumente und können das Land nicht verlassen, um sich in Scherheit zu bringen. Dasselbe Problem sollen Menschen haben, deren Ausweise in den ebenfalls geräumten Botschaften von Schweden, Niederlande, Italien, Großbritannien oder Frankreich liegen. Dass die Welt überhaupt davon weiß, hat mit der Existenz von Social Media zu tun, wo Sudanesinnen und Sudanesen darauf hingewiesen haben, dass das für sie eine Katastrophe ist. Wenn Twitter also auch zum Spielzeug eines hybridautokratischen Heinis geworden ist: An diesem Beispiel sieht man, was an Weltöffentlichkeit fehlte, wenn Twitter in der Irrelevanz verschwände.

Krönungspublikum in Ketten

Zum Medienrummel des Wochenendes: Am Samstag wurde der Sohn von Queen Elizabeth II. in Großbritannien zum König gekrönt. Es war daher einiges los auf dem Markt der Meinungen (speziell jener Meinungen, über die man vielleicht nochmal nachdenken sollte, bevor man sie sich tätowieren lässt). Nehmen wir, zum Beispiel, diese aus dem "Streit"-Ressort der "Zeit":

"Welche Macht hat der britische Monarch eigentlich noch? Die Antwort lautet: Es ist die Macht des Rituals. Diese Macht ist so stark, dass sie die parlamentarische Monarchie zur besten aller Staatsformen erhebt. (…) Seit der Jungsteinzeit treffen Menschen in Zeremonien zusammen, um ein Bewusstsein für sich und ihren Platz in Natur oder Geschichte zu bekommen. Seit über tausend Jahren wird in England zu den alten Bibelworten ein König mit Öl gesalbt und gekrönt. Zeremonien machten aus dem Menschen erst ein Kulturwesen. Die englische Krönung ist ein ultimativ elaboriertes Ritual, das aber dem gleichen Zweck dient wie ein Ausdruckstanz in der Höhle. Es schafft eine kollektive Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl."

Hust. Oder nehmen wir diese eher republikanisch anmutende Überlegung aus der "Frankfurter Rundschau", die online den ungeheuerlichen Verdacht kultivierte, das Fernsehen zeige bei solchen Krönungszeremonien sein Gesicht als verbrecherisches System, das unschuldige Menschen inhaftiere:

"In der liberalen Demokratie wähnt sich der Mensch in der Wahl seines TV-Senders frei. Doch zu gewissen Ereignissen scheint Jean-Jacques Rousseaus Ausdruck 'Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten' neue Aktualität zu erlangen. Regelmäßig werden dem Fernsehpublikum Ketten angelegt, wenn das Fernsehprogramm aus Sendemarathons darüber besteht, wie die britische Adelsfamilie irgendeinen Firlefanz mit großem Pomp und Prunk zelebriert."

Huch! Das arme Fernsehpublikum wird also samstagvormittags, in Ketten gelegt, gezwungen, Firlefanz zu schauen, und darf nicht in den Park oder in eine Mediathek gehen? Äh: nein. Die Kritik an den Sendemarathons geht diesmal zudem etwas an der Sache vorbei. Denn es war im deutschen Fernsehen gar nicht so ein Wettbewerb wie noch beim Begräbnis der Queen, als selbst bei einem der wenigen Sender, die nicht live berichteten, zeitgleich "Shopping Queen" lief: Die Queen wurde im deutschen Fernsehen im September jedenfalls öfter beerdigt als King Charles III. nun gekrönt. Es gab zwar zweifellos auch jetzt genügend redudante Bilder, aber das, was der Bundesfinanzminister, Seine Unzuständigkeit Christian Lindner, damals noch kritisiert hatte

"Dass ARD, ZDF und Phoenix live und parallel vom Begräbnis der Queen aus London senden und mit jeweils eigenem Personal in London sind, belegt anschaulich, dass es erhebliches Einsparpotenzial gibt" –,

das hätte er diesmal nur schwerlich so kritisieren können. Das ZDF war nämlich nicht live und parallel dabei. Und Phoenix berichtete parallel live von einer Krönungszeremonie in Nürnberg, dem Parteitag der CSU. Die Königskrönung wurde ins News-Laufband ausgelagert.

Die Öffentlich-Rechtlichen haben aus der Kritik also womöglich gelernt. Der Versuch, doppelt-und-dreifache Live-Berichterstattung von einem Ereignis als Vielfalt zu verkaufen, den nach der öffentlich-rechtlichen Mehrfachübertragung des Queen-Trauerzugs der damalige ZDF-Chefredakteur Peter Frey unternommen hatte ("Das Publikum schätzt Vielfalt"): Der ist wohl als gescheitert akzeptiert.

Frey sagte damals, im September, allerdings auch, dass die Dopplung auf eine alte Absprache zwischen ARD und ZDF zurückgegangen sei: "Wir verzichten bei royalen Ereignissen auf Doppelübertragungen, mit einer Ausnahme: dem Tod der Queen." Seit Samstag ist die Frage: Gibt es eine solche Ausnahme auch für den Tod des Kings?

Der Presserat beschäftigt sich mit Holger Friedrich

Holger Friedrich, der Verleger der "Berliner Zeitung", hat kürzlich argumentiert, es könne zu einer paranoiden Gesellschaft führen, wenn "jede private Messenger-Nachricht" an die Öffentlichkeit gelangen könne. So begründete er warum er den Springer-Verlag darüber informierte, dass der ehemalige "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt seiner Zeitung Springer-Interna geschickt habe. Friedrichs Verrat hielt das Gros der Berichterstatter für eine wahnsinnig schlechte Idee, ich auch (Altpapier).

Am Samstag nun schrieb Georg Mascolo in der "Süddeutschen", warum der Fall seiner Meinung nach nicht einfach abgehakt werden sollte. Er nennt ihn eine "atemberaubende Bedrohung für die Pressefreiheit" und verweist nach einer Diskussion der Vorgänge und unter Berücksichtigung der Beteiligten auf den Presserat und den Pressekodex. Dass der Presserat nicht die schärfsten Mittel hat, um einen möglichen Verstoß gegen den Pressekodex zu sanktionieren, ist bekannt. Zwei Zitate von Mascolo machen dennoch die Relevanz deutlich:

"Zu den Eckpunkten des Regelwerks gehört seit jeher die Ziffer 5, in der es um das 'Berufsgeheimnis' von Journalistinnen und Journalisten geht. Die Ziffer 5 garantiert den Schutz des Informanten, Ausnahmen sind nur vorgesehen, wenn es etwa um ein mögliches Verbrechen geht und die Pflicht zur Anzeige besteht. Dann überwiegt das Wohl der Allgemeinheit. Ansonsten gilt für Journalistinnen und Journalisten – so wie auch für Ärzte und Anwälte – diese Selbstverständlichkeit: Vertraulichkeit wird gewahrt. Es ist eine Garantie. Unumstößlich. Unverrückbar."

Und:

"Die Sprecherin des Presserates, die Juristin Kirsten von Hutten, sagt: 'Wer seine Informanten schützt, schützt damit auch die Pressefreiheit.' Gelte dieser Grundsatz nicht mehr, müsse man befürchten, dass Medien keine Informationen mehr erhalten, die essenziell für die Demokratie sein können. So ist es: Wenn es um den Schutz der Vertraulichkeit geht, darf der Boden nicht schwanken, sonst gerät Großes ins Rutschen. Voraussichtlich bereits im Juni will der Presserat den Fall behandeln."


Altpapierkorb (Bülent Mumay, Diekmann-Vorabdruck, Schweiger-Recherchen, Royals und die BBC, Proteste gegen ORF-Gesetz, Writers’ Streik)

+++ Der "FAZ"-Kolumnist und Koordinator der türkischsprachigen Redaktion der Deutschen Welle in Istanbul, Bülent Mumay, ist zu einer 20-monatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Er habe sich nicht an eine Zensurverordnung gehalten. Die "FAZ" protestiert auf Zeitungsseite 1 und im online frei lesbaren Feuilletonaufmacher. Die Deutsche Welle hat angekündigt, Mumay "mit allen rechtlichen Mitteln" zu unterstützen.

+++ Endlich gibt es ein neues Buch mit Geschichten aus einem gewissen deutschen Verlagshaus, aus dem der "Spiegel" einen Vorabdruck bringen kann. Der letzte ist ja schon zweieinhalb Wochen her (Altpapier). Diesmal ist der Autor Kai Diekmann, der ehemalige "Bild"-Chef, der dem Titel des Buchs zufolge – "Ich war Bild" – selbst einmal eine Boulevardzeitung gewesen sein will. Richtig auf die Zwölf scheint der Verlag nicht zu kriegen, "Bild" und "Welt" haben jedenfalls auch Vorabdrucke anderer Kapitel.

Aber, ja: Der "Spiegel"-Vorabdruck hat, weil es darin um die Wulff-Affäre geht, natürlich schon eine gewisse Relevanz, weil Diekmann darin als Empfänger einer Mailbox-Nachricht des damaligen Bundespräsidenten eine zentrale Rolle einnahm. Insofern kann man seiner Darstellung der Ereignisse, um die es im Vorabdruck geht, die öffentliche Bedeutung nicht absprechen. Der "Spiegel" ordnet sie so ein: "Diekmann erzählt, was er erzählen will, und lässt weg, was in seiner Erinnerung keinen Platz haben soll." Und: "Das Wulff-Kapitel zeigt auch, wie sehr Mathias Döpfner, Vorstandschef von Axel Springer, schon damals in den redaktionellen Alltag involviert war." An einer Stelle schreibt Diekmann etwa über eine SMS von Döpfner an ihn: "Die Affäre ist eine demokratische Zäsur, wenn sie folgenlos bleibt, simst er mir. Deshalb ist jetzt jeder Schritt wichtig."

+++ Die Recherche, die der "Spiegel" vergangene Woche über die Verhältnisse bei den Dreharbeiten von Til-Schweiger-Filmen veröffentlicht hat, sollte der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" zufolge wohl eigentlich in der "Süddeutschen Zeitung" erscheinen. Es habe einen Fragenkatalog an Constantin Film und Schweiger gegeben. Die "SZ"-Chefredaktion habe nach den Antworten der Filmfirma aber erklärt, "die Recherche könne in der Form nicht erscheinen", so Julia Encke in der "FAS". Sie schreibt, dass "die 'Süddeutsche Zeitung' und die Constantin nach Angaben von 'Horizont' eine exklusive Partnerschaft verbindet, die vorsieht, dass Redakteure und Autoren der 'S.Z.’ die Produzenten und Drehbuchautoren von Constantin bei TV- und Filmprojekten exklusiv beraten und Recherchen aus der 'Süddeutschen' dabei in die neuen Projekte einfließen könnten". Die Chefredaktion der "SZ" antwortete der "FAS", die Kooperationsvereinbarung berühre "in keiner Weise die Unabhängigkeit der Redaktion". Die Redaktion zog am Mittwoch die Berichterstattung des "Spiegels" auch nicht in Zweifel, sondern veröffentlichte eine Recherche, die sie eher bestätigte, wie Encke schreibt.

+++ Die Proteste österreichischer Zeitungen (welt.de) gegen den Entwurf eines neuen ORF-Gesetzes (Altpapier) kritisiert für "Übermedien" Armin Turnher vom österreichischen "Falter": "Da solchen Gesetzesänderungen das übliche Gefeilsche voranging, war es Interessenvertretern der Zeitungsverlage bereits im Vorfeld gelungen, ein Beschränkung des erfolgreichen Online-Angebots des ORF, der 'blauen Seiten' von orf.at durchzusetzen: Diese dürfen fortan nur mehr 350 Textmeldungen pro Woche bringen, statt bisher etwa 1000. Die Verleger behaupten, mit dieser Maßnahme der Pressefreiheit zu dienen. Sie kastrieren eines der besten Medien auf dem österreichischen Markt und feiern das als Kulturtat."

+++ Hat die Königsfamilie zu viel Einfluss auf die Royal-Berichterstattung der BBC? Der britische Guardian findet ja, der Deutschlandfunk diskutierte die Frage.

+++ Die Mitglieder der Gewerkschaft Writers Guild of America (WGA), also die Drehbuchautorinnen und -autoren, wollen langfristige Verträge oder fair an den Gewinnen von Unternehmen wie Netflix, Disney oder Paramount beteiligt werden. Eine Trumpfkarte, die sie ausspielen, zitiert die "FAS": "'Bezahlt eure Autoren oder wir spoilern 'Succession'', drohte ein Teilnehmer einer Demo auf seinem Plakat."

Neues Altpapier gibt es am Dienstag, dann von Jenni Zylka.

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