Das Altpapier am 23. Mai 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 23. Mai 2023 Das Gerede von der Spaltung

23. Mai 2023, 13:17 Uhr

Die Lüge ist in der Energiepolitik mittlerweile ein gefragtes Debattengeschäftsmodell. Der "Spiegel" hätte statt einem karikierten Robert Habeck einen karikierten CEO von Exxon, Shell, Big Oil oder RWE aufs Cover bringen sollen. Wenn einem jemand was von "Echokammern" und "Polarisierung" erzählen will, ist Vorsicht geboten. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Warum erzählt Markus Söder Horrormärchen?

In einer der großen Geschichten im aktuellen "Spiegel" geht es um die Diskursverschiebung durch die AfD. Acht Redakteurinnen und Redakteure haben daran mitgewirkt. In dem Text heißt es unter anderem:

"(A)uch prominente Christdemokraten und Liberale (bedienen sich) immer wieder jener Mischung aus schrillem Sound und halbgaren Fakten, mit der die AfD erfolgreich ist."

"No shit, Sherlock!" war meine erste Reaktion darauf, aber die greift natürlich zu kurz. Die Schwäche dieser "Spiegel"-Passage besteht vor allem darin, dass sie an der aktuellen Entwicklung vorbei geht: In der Klima- und Energiedebatte der letzten Monate haben viele prominente Politiker von CDU, CSU und FDP auf eine Strategie gesetzt, in der Unwahrheiten, Faktenbefreites und wilde Erfindungen eine derart wichtige Rolle spielen, dass man manchmal geneigt ist auszurufen: Wenn die Aussagen wenigstens halbgar wären!

Bereits in der vergangenen Woche hat der am Freitag hier erwähnte, am 1. Juni offiziell als Redakteur beim WDR ausscheidende Jürgen Döschner geschrieben:

"300.000 Euro - so viel könne die Umrüstung auf Wärmepumpe in einem Einfamilienhaus kosten. Das behauptete jüngst der CSU-Vorsitzende Markus Söder. Diese Summe dürfte den Wert so mancher älterer Häuser deutlich übersteigen."

Es sei ein "Problem", dass Medien "solche Fake-Aussagen ungeprüft verbreiten", stellte Döschner dazu fest. Das ließ sich in der vergangenen Woche zum Beispiel auch noch im Fall eines Ausschnitts eines Gesprächs mit der CDU-Politikerin Julia Klöckner in einem "Tagesthemen"-Beitrag zum Thema Heizungsgesetz sagen.

Aktuell beschäftigt sich nun der "Volksverpetzer" in einem Text, in dem es unter anderem darum geht, wie "CDU, CSU, FDP und die fossile Presse wie 'Bild' oder 'Welt' vom Axel-Springer-Verlag Hand in Hand arbeiten" mit Markus Söder und anderen Horrormärchenerzählern der genannten Parteien:

"Markus Söder wiederholt immer wieder den Fake von 'Heizverbot' – und verbreitet auch Lügen über die Kosten zu Wärmepumpen. Zuerst einmal die Fakten: Wärmepumpen mit Erdsonden könnten zum Beispiel 23.000 € kosten, inklusive Einbau und Zubehör, nach Abzug von Förderung. Martin Hundhausen, Physiker an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erklärt, wie man die Kosten sogar unter 10.000 € drücken könnte. Marcus Dietmann etwa vom Münchner Start-up 42watt kalkuliert zwischen 25.000 und 45.000 Euro – noch vor Förderung. Und Markus Söder? Der behauptet allen Ernstes und ohne jeglichen Beleg, dass Umbauten für Wärmepumpen 300.000 € kosten würden. Warum lügt der Ministerpräsident (…)?"

Andere Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, die in diesem Zusammenhang zu nennen wäre: "Absurde", "unsinnige" und "falsche" Aussagen Jens Spahns (dazu Christian Stöcker kürzlich in seiner "Spiegel"-Kolumne) oder die Versuche der FDP, "Loser-Technologien" ("Frankfurter Rundschau") zu pushen.

Seriöse Medien auf dem Populismus-Trip

Auf einer allgemeineren journalistischen Ebene ist übrigens auch "Der Spiegel" Teil des Problems, wie die aktuelle "Übermedien"-Kolumne von Samira El Oussil nahe legt. In der kritisiert sie das aktuelle "Robert mit der Rohrzange"-Cover und beschreibt das mediale Klima, in der es möglich wurde. Sie schreibt:

"Mit einer populistisch agierenden CSU, die den Umweltschutz fehlideologisiert, indem sie ihn zum Identitätskampf macht, einem unberührt wirkenden Kanzler, bei dem man nicht mitbekommt, was er eigentlich umsetzt, um diese Jahrhundertherausforderung zu lösen, und einer blockierenden FDP, die aus Lobbyinteressen und ökonomischem Selbstbehalt heraus alles tun muss, um Nachhaltigkeit zu verhindern, erscheint nun das Einstimmen seriöser Medien in die politisch-populistische Kritik gegen die Grünen nicht nur wie ein praktisches und damit dankbar angenommenes Abarbeiten an Regierenden (was in einer pluralistischen Presselandschaft ja legitim und geboten ist). Sondern doch auch wie eine Verrückung des Klimadiskurses zugunsten einer reinen Bewertung darüber, wie gut politisch kommuniziert und wie schlecht handwerkliche Fehler ausgeglichen werden."

Der letzte Satz verweist aber auch auf ein generelles Problem: das Abgleiten des Politikjournalismus in einen Haltungsnotenverteilungsjournalismus, der sich mehr für "Auftritte" von Politikern interessiert als für deren Politik. Zu Zeiten, als Habeck noch als megageiler Kommunikator gefeiert wurde, war das übrigens genauso ein Problem wie in diesen Tagen, in denen er in den Regalen des Medien-Supermarkts fast nur noch als Kommunikationsversager zu haben ist. Um das Ganze noch eher abstrakt zu ergänzen: Politikjournalismus ist viel zu oft eher Politikerjournalismus - in dem Sinne, dass er nicht über Politik berichtet, sondern über Politiker.

Was El Ouassil "nur mal so als Vorschlag" noch ins Spiel bringt:

"Wie wäre es mal mit einem Chef einer Ölfirma auf dem Cover des 'Spiegels'? Warum wissen wir eigentlich nicht, wie die Hauptverursacher der Klimakrise aussehen? Was ist denn beispielsweise mit den CEOs von Exxon, Shell, Big Oil oder RWE? (…) Die publizistische Aufgabe wäre es eigentlich, (…) uns allen zu zeigen, wer die Menschen sind, die die Zukunft rauben. Am liebsten groß auf alle Cover gedruckt. Denn sie sind die eigentliche Karikatur unserer Gegenwart."

Will Katrin Vernau lieber WDR-Intendantin werden?

"Ich bewerbe mich nie", hat am Wochenende Pal Dardai, der Interimstrainer des Bundesligaabsteigers Hertha BSC, auf die Frage nach seiner Zukunft auf diesem Posten gesagt. Womöglich hat er sich dabei inspirieren lassen von Katrin Vernau, die mit dem RBB ja derzeit einen anderen überregional bekannten Berliner Pflegefall in ihrer Obhut hat. Die Interimsintendantin des Senders hatte sich Anfang des Monats für die Mitte Juni anstehende Neuwahl der Intendanz bekanntlich mit den Worten "Ich bin bereit, wenn man mich fragt" indirekt beworben, nachdem sie am formalen Bewerbungsprozess nicht teilgenommen hatte.

Stellt sich also die Frage, ob der Rundfunkrat sie am 16. Juni wählen kann oder nicht. Damit beschäftigt sich Volker Nünning für den "Medieninsider". Er hat unter anderem in die Geschäftordnung der Findungs- und Wahlkommission reingeschaut:

"(Darin) findet sich kein Hinweis darauf, dass die Wahl- und Findungskommission noch selbst geeignete Personen ansprechen kann. Ausgeschlossen wird dies aber auch nicht." 

Zur Erläuterung zitiert Nünning den Münchner Medienrechtler Helge Rossen-Stadtfeld, der betont, die Geschäftsordnung schreibe nicht vor, "dass eine schriftliche Bewerbung nötig ist, um für die Intendantenwahl nominiert werden zu können."

Nünning wirft dann auch einen Blick auf die Lage beim WDR von dem Vernau kam - und zudem sie zurückkehren kann, falls sie nur als Interimsintendantin in die RBB-Geschichte eingehen sollte:

"Auch bei der größten ARD-Anstalt wird sie, wie zu hören ist, als Kandidatin für das Intendantenamt gehandelt. Bis Ende Juni 2025 ist Tom Buhrow noch WDR-Chef. Über seine Nachfolge dürfte in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres entschieden werden. Für diesen Fall wäre es sicher besser, wenn sich Vernau nun zurückhält und nicht riskiert, beim WDR als unterlegene Kandidatin bei der RBB-Intendantenwahl ins Rennen zu gehen."

Verschleiernde Narrative

Dank des Newsletters des US-amerikanischen "DAME Magazine" bin ich auf den 2021 von der Uni Freiburg an die Georgetown University gewechselten Historiker Thomas Zimmer gestoßen. Dort findet sich ein Interview mit ihm, in dem es einige Passagen gibt, die auch als Beschreibung deutscher Debattenverhältnisse zutreffend sind.

"This country is so polarized and so angry, how do we put the toothpaste back in the tube? Or is that not possible?"

fragt ihn Interviewerin Jennifer Reitman. Zimmer sagt dazu:

"Das sind nicht die richtigen Kategorien, um die Situation zu betrachten: 'polarisiert' und 'wütend'. Wir müssen dem allgegenwärtigen Narrativ der Polarisierung und all dem Gerede über 'Spaltung' und fehlende 'Einheit' viel kritischer gegenüberstehen. In den meisten Fällen verschleiert es mehr, als dass es Licht ins Dunkel bringt, und oft geschieht dies absichtlich. Vor allem verdeckt es, was die eigentliche zentrale Herausforderung ist - die antidemokratische Radikalisierung der Rechten. Das Narrativ der Polarisierung ist so allgegenwärtig geworden, dass es die Tatsache, dass wir in wichtigen politischen, sozialen und kulturellen Fragen über weite Teile des politischen Spektrums hinweg einen relativ breiten Konsens finden, völlig überschattet."

In seinem Substack "Democracy Americana" setzt sich Zimmer, ausgehend von einer ausführlichen Kritik an der jüngsten CNN-Eselei in Sachen Trump, mit weiteren, vorsichtig formuliert: kontraproduktiven Schlagworten und Narrativen auseinander. Er schreibt:

"The cynical 'You need to get out if your silo' spin is (…) indicative of how pervasive narratives of liberal 'echo chambers' and 'tribalism' on #BothSides are."

Zimmer weiter (nun in der deepL-Übersetzung):

"Dies sind höchst irreführende Dogmen, die empirisch nicht haltbar sind: (…) Wähler der Demokraten konsumieren und vertrauen einer viel breiteren Palette von Medienquellen als ihre republikanischen Pendants. Es gibt auf der 'Linken' absolut kein Äquivalent zu dem, was auf der 'Rechten' passiert, wo niemand von der konservativen Basis irgendetwas links von Fox News vertraut - und selbst Fox News wird nur vertraut, wenn und solange es nicht gegen die Kernsätze der MAGA-Orthodoxie verstößt. Darüber hinaus gibt es auf der 'Linken' ein wesentlich größeres Interesse daran, 'die Rechte' tatsächlich zu verstehen und zu analysieren - während selbst konservative Leitmedien wie die 'National Review' ganz darauf fixiert zu sein scheinen, eine bizarre Vorstellung von einer radikal 'woken' linken Bedrohung aufrechtzuerhalten, die nie über den Bereich der Karikatur hinausgeht."

Medien, wie sie Zimmer im letzten Satz beschreibt, gibt es im deutschsprachigen Raum ja auch so einige.


Altpapierkorb (30. Jahrestag des Anschlags von Solingen, Management Buyouts, das veraltete Frauenbild der ARD)

+++ "Dieser Film beinhaltet Angst und Wut aus 30 Jahren, komprimiert in 30 Minuten. Danke, dass Du uns zuhörst", sagt Mirza Odabaşi, der Autor von "Hört uns zu – Der Anschlag von Solingen" zu Beginn seines "dokumentarischen Film-Essays", wie Thomas Gehringer im  "Tagesspiegel" den Film nennt, der am Mittwoch linear im WDR Fernsehen läuft. Weiter schreibt er über die anlässlich des 30. Jahrestages des rechtsextremistischen Anschlags ausgestrahlte, Dokumentation: "Mit dieser persönlichen Ansprache adressiert er die deutsche Mehrheitsgesellschaft, 'die Mitte, die von sich behauptet, nicht rassistisch zu sein', wie er im Gespräch (…) sagte. Die Wut ist im Film zu spüren, der persönliche Tonfall aber bleibt stets sachlich und eher nachdenklich."

+++ Weil Anne Petersen, Redaktionsleiterin von "Salon", RTL das Magazin, für das sie derzeit arbeitet, im Rahmen eines Management Buyouts (MBO) abkaufen möchte, gibt die "Süddeutsche Zeitung" einen Überblick darüber, wie sich andere Medien nach einem MBO entwickelt haben.

+++ Aufmacherthema im Feuilleton der FAZ heute: Wie die Protagonistin eines Films, die im Drehbuch bereits "ihre Lebensmitte überschritten hat", durch die "Bearbeitung" der Geschichte durch ARD-Redakteure und Produzenten 20 Jahre jünger wurde. Anke Sevenich, die Schauspielerin und Drehbuch-Co-Autorin, die das Buch mit Mitte fünfzig geschrieben hat und die Hauptrolle selbst spielen wollte, sagt gegenüber der FAZ nun, der Eingriff sei auch das "Resultat eines veralteten Bildes von Frauen über 55 in deutschen Fernsehanstalten. Ihre gesellschaftliche Bedeutung und Rolle hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert, aber die Medien spiegeln das nicht wider." Silke Burmester (Palais Fluxx), die das schon länger kritisiert (Altpapier), wird in dem Artikel auch zitiert.

Das Altpapier am Mittwoch schreibt Johanna Bernklau.

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