Das Altpapier am 20. Februar 2018 Wer kein Ereignis bietet, hat halt Pech gehabt

Welche Nachrichten 2017 vergessen und vernachlässigt wurden. Über welche Zahlen rund um den Rundfunkbeitrag bis mindestens 2020 gestritten werden wird (und was die KEF über Krimis und über Streaming sagt). Wer ungewöhnlich deutlich für eine Beitragserhöhung ist (und worüber Nico Hofmann schimpft). Und etwas über Medienfreiheit in der Türkei und Anstands-Fragen hierzulande ... Ein Altpapier von Christian Bartels.

Was immer man vom Rundfunkbeitrag, aus dem seit September ja auch das Altpapier bezahlt wird, und der Frage, ob er in den nächsten Jahren erhöht werden soll, hält – dass das Thema in der Berichterstattung vernachlässigt werde, lässt sich nicht behaupten.

Daher zunächst zu den "Vergessenen Nachrichten des Jahres", die die Initiative Nachrichtenaufklärung e.V. gestern vorstellte. Online heißt die Initiative übrigens derblindefleck.de und illustriert ihre Vergessenen-Top-Ten noch mit Zeitungs-Verkaufskästen. Sie und ihr geschäftsführender Vorsitzender "Medienhektor" Haarkötter im "@mediasres"-Interview erklären die Auswahl jedoch instruktiv.

Das vergessenste Thema des vergangenen Jahres war die "Inklusion in der Arbeitswelt":

"Im erwerbsfähigen Alter machen Menschen mit Behinderung einen großen Anteil an unserer Gesellschaft aus. Aufgrund des demographischen Wandels wächst dieser Anteil sogar. Dennoch bekommt man in der Medienberichterstattung erstaunlich wenig über Inklusion in der Arbeitswelt mit. Die Medien sollten sich aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung und fehlender Berührungspunkte im Alltag zur Aufgabe nehmen, Barrieren und Vorurteile durch vermehrte journalistische Berichterstattung auf Augenhöhe zu verringern, anstatt sie wie bisher weiter zu verfestigen",

heißt es in der Begründung. Das Thema ist eben "nicht ereignis-orientiert", sagt Haarkötter im Deutschlandfunk. Und in der Echtzeit-Ära nehmen sich Medien halt vor allem zur Aufgabe, über die vielen Ereignisse zu berichten oder sogar welche zu schaffen (und die Ereignisse, die ihre Leser von anderswo kennen, dann auch selbst noch abzudecken ...).

Die Plätze zwei und drei belegen dagegen ein mittel- und sogar ein kurzfristiges Ereignis: wie die portugiesische Wirtschaftspolitik durch "Abkehr von der Sparpolitik" aus der süddeuropäischen Finanzkrise fand, und "der Monsun in Südasien im Sommer 2017", über den "signifikant weniger" berichtet wurde als über den prominenten texanischen Hurricane Harvey kurz darauf im selben Sommer. Aber alle Ereignisse passen eben nicht auf die Startseiten und in die Zeitungen hinein. Und im Zweifel orientieren sich deutsche Medien gerne eng an dem, was die Bundesregierung so sagt (und nicht sagt), und global vorzugsweise an US-amerikanischen Perspektiven. Schon weil die Amerikaner immer gutes Bildmaterial liefern ...

Beachtung verdient auch, wer über diese Vergessenen-Top Ten berichtet. Der Tagesspiegel tut's auf seiner Medienseite, die renommierte Süddeutsche zum Beispiel (die in einem der Zeitungs-Verkaufskästen auf dem Initiative-Nachrichtenaufklärung-Foto zu haben ist) tut's nicht. Und die weiteren Punkte der Top Ten verdienen ebenfalls Beachtung. Wobei, etwas ereignis-getrieben ist sogar das Altpapier. Daher jetzt zum  Rundfunkbeitrag.

Halbe Milliarde Euro Streitpotenzial (Rundfunkbeitrag)

"Es herrscht derzeit ein leicht gereiztes Klima zwischen öffentlich-rechtlichen Anstalten, der Politik und der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, kurz KEF genannt", schrieb die SZ-Medienseite gestern noch. Heute darf das "leicht" gestrichen werden.

Denn dann "übergab der Vorsitzende der KEF, Dr. Heinz Fischer-Heidlberger, den 21. Bericht in Berlin an die Vorsitzende der Rundfunkkommission der Länder, die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer" (KEF-Pressemitteilung). Bzw. trat Fischer-Heidlberger mit dem außen farbenfroh gestalteten Bericht allein vor die Fotografen (vgl. das dpa-Foto zur Tagesspiegel-Meldung), da "Dreyer krankheitsbedingt ... nicht nach Berlin reisen konnte" und er "die Übergabe vorab 'gewissermaßen virtuell erledigt'" habe (vgl. den heutigen Bericht der SZ-Medienseite). Jedenfalls, der Bericht ist draußen. Falls auch Sie ihn auch virtuell übernehmen möchten: hier (PDF, aber Achtung: 420 Seiten).

"Eine richtige Lesefreude wird sich kaum einstellen", schreibt Fischer-Heidlberger neckisch im Vorwort (S. 6). Dafür enthält der Bericht einfach zu viele Zahlen, etwa zwischen 31,185 Milliarden Euro (ARD/ ZDF/ DLF-Rundfunkbeitragseinnahmen von 2017 bis 2020) und rund 1,50 Euro (von Fischer-Heidlberger streng informell bezifferte Mindest-Erhöhung des monatlichen Rundfunkbeitrags ab 2021, falls die Bundesländer den Anstalten-Wunsch nach einem Inflationsausgleich erfüllen sollten).

Aber Zahlen-Freude und Zahlen-Ärger stellen sich bereits ein. Es freuen sich die Öffentlich-Rechtlichen-Kritiker, allen voran natürlich Michael Hanfeld, der gleich wieder mit einem Aufmacher auf seiner FAZ-Medienseite am Start ist. U.a. lobt er, "wie überzeugend und unbestechlich ... die Kef ihrer Arbeit nachgeht". Und darin, harte Zahlen hart gegeneinander zu stellen, ist Hanfeld ja auch gut:

"Angemeldet hatten die Anstalten für die Jahre 2017 bis 2020 einen 'ungedeckten Finanzbedarf' – also ein vermeintliches Minus – von insgesamt 203,7 Millionen Euro. 142,4 Millionen Euro wollte die ARD zu wenig haben, das ZDF 63,6 Millionen, das Deutschlandradio immerhin einen Überschuss von 2,3 Millionen Euro. Diese Rechnung hat die Kef den Sendern freilich um die Ohren gehauen und aus dem vermeintlichen Minus ein Plus gemacht. Man habe, teilt die Kommission mit, 'nach eingehender Prüfung' den Finanzbedarf der Anstalten um 748,2 Millionen Euro verringert. So wurde aus dem angebliches Minus von 203,7 Millionen ein Plus von 544,5 Millionen Euro."

Es ärgert sich vor allem die ARD per "in Alarmstimmung" (SPONs Christian Buß auf Twitter) verfasster Pressemitteilung, die fast alle Mittel, Ärger diplomatensprachlich zum Ausdruck zu bringen ("erhebliche Auffassungsunterschiede", "nicht nachvollziehen", "verwundert" ...), ausschöpft.

Das also sind die Zahlen, über die ab jetzt bis mindestens 2020 gestritten werden wird, zwischen sämtlichen interessierten Lobbys und in allen deutschen Landtagen. Die wichtigste SPD-Medienpolitikerin Heike Raab aus Malu Dreyers Staatskanzlei hat schon mal Spannung geschürt ("Es sei noch unklar, ob der Beitrag dann gleich bleibe oder es eine 'leichte Erhöhung' gebe", zitiert die dpa sie). Und falls diese senderseits gewollte und beim derzeitigen Ausmaß ihrer Angebote wohl benötigte Erhöhung von den Bundesländern bewilligt werden sollte, wird 2021 erst recht gestritten.

Was die KEF über Streaming und über Krimis schreibt

Jenseits der Aufregungsfronten lohnt es sich, die KEF-Veröffentlichungen zu lesen. Denn gründlich ist die Kommission jedenfalls. Falls Ihnen 420 Seiten (die auch ich nicht las) zu lang sind, auch die bereits verlinkte Pressemitteilung.

Zum Beispiel macht die KEF auch darauf aufmerksam, dass die "Programmverbreitung über IP-Netze einen erheblichen Kostenanstieg" bedeutet. Heißt: Streaming aus Mediatheken (oder auch auf Youtube) kostet wesentlich mehr Geld (und Energie) als das Verbreiten derselben Inhalte via Rundfunk. Wer das eigentlich bezahlt und künftig – schließlich gehen sämtliche Trends deutlich zum Streaming – bezahlen soll, ist gleich eine weitere vernachlässigte Nachricht.

Und über Krimis äußert Kommission KEF sich auch, was prompt zur ARD-Replik "Die KEF hat keinen Auftrag, sich zur Programmgestaltung zu äußern. Das gilt für die Sportberichterstattung genauso wie für die Krimiproduktion" führte. Um Krimis geht's im 420-Seiten-PDF freilich nicht inhaltlich oder quantitativ, sondern allein unter dem Aspekt,

"zu welchen Kosten sie", ZDF-Samstags- und ARD-Sonntagskrimis, "produziert werden" (S. 367 ff.)

Darauf hinzuweisen, dass die staatsfernen Sendeanstalten ARD und ZDF jährlich völlig unabhängig von einander beschließen, ihren jeweils großen Ausstoß an Fernsehkrimis noch weiter zu erhöhen, würde den streng begrenzten Auftrag der KEF sprengen ...

Wer für Beitragserhöhung ist & worüber Nico Hofmann schimpft

Wenn der Sunnyboy und Ufa-Chef Nico Hofmann "indiskutabel", "arrogant" und "verleumderisch" sagt, in jeweils anderen Sätzen eines dwdl.de-Interviews, muss etwas dran sein. Schließlich spricht Hofmann normalerweise über (aus seiner Sicht) schöne und gute Dinge, vorzugsweise Ufa-Produktionen, und verwendet dabei am liebsten Attribute à la "edgy" und "High-End".

Worum es geht: Der Vorstandsvorsitzende der Filmproduzenten-Lobby Produzentenallianz hat sozusagen gesagt, die deutschen Privatsender seien ein bisschen fettleibig und ein bisschen arm (Sie erinnern sich: Genau das sagte im November der bis dato erfolgreiche Privatsender-Manager Thomas Ebeling über das Publikum seiner Sender ...). Wörtlich hat Alexander Thies beim "Produzententag" am Rande der Berlinale gesagt (ebenfalls dwdl.de):

"Die Streaming-Anbieter werden die deutschen Privatsender verdrängen, nicht so sehr die Öffentlich-Rechtlichen." Und: "... Warum sollte ich mir einen Film mit Unterbrechung anschauen, wenn ich ihn anderswo ohne kriege?" Und: "Sie haben sich von nennenswerten Investitionen in Programmqualität zurückgezogen und geben sich zufrieden damit, die Stoffe zu bekommen, die woanders nichts geworden sind".

Überdies sprach sich Thies "klar für eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags" aus – was soo klar zurzeit niemand sonst zu tun wagt, nicht mal ARD- und ZDF-Vertreter (die ja bloß bescheiden von "moderaten" "Anpassungen" sprechen). Warum Thies das tat, liegt auf der Hand: 2018 plant die ARD, nur zum Beispiel, bloß 24 neue Donnerstags-Krimis auszustrahlen. Dabei könnte die deutsche Fernsehproduzentenlandschaft ohne Weiteres noch 28 weitere Fernsehkrimis auf dem Niveau dieser 24 im Jahr herstellen, wenn sie bloß bezahlt würden ...

Klar, dass solche deutlichen Äußerungen zu allerhand Aufregung führen. Warum Hofmann contra gibt, liegt auch auf der Hand: Seine Ufa ist in der komplizierten Bertelsmann-Struktur Teil der RTL-Group. Nun mischt auch die Privatsender-Lobby (heißt noch VPRT, erst demnächst Vaunet) mit. In deren Namen hat sich Annette Kümmel als "Vorsitzende des Fachbereichs Fernsehen und Multimedia" geäußert (die bei ProSiebenSat.1 sogar einen, wenn man das "&" und den Sendergruppen-Namen nicht mitzählt, siebenwortigen Titel trägt: "Senior Vice President Governmental Relations & Regulatory Affairs" ...). Kümmel erteilte der Rundfunkgebühr-Erhöhungs-Forderung "eine klare Absage".

Das zeigt jedenfalls, wie verzweigt die Debatten um den Rundfunkbeitrag bereits sind. Und auch noch in diesen Zusammenhang gehört die im SZ-Interview geäußerte Olli-Berben-Prognose, dass maximal fünf "deutsche Netflix-Eigenproduktionen im Jahr" denkbar seien, inklusive solcher Öffentlich-Rechtlichen-Netflix-Kooperationen wie "Das Parfüm", das die Constantin gerade wieder aufgoss ...

Im Juni beginnt Yücels Prozess (zum Glück in Abwesenheit)

Deniz Yücel ist frei (siehe vor allem Altpapier gestern). Aber am 28. Juni wird "im zentralen Justizgebäude im Istanbuler Stadtteil Çağlayan" der Prozess gegen ihn beginnen, für den die Staatsanwaltschaft ja schon 18 Jahre Gefängnis forderte (Standard).

Über Yücel und die extrem unerfreuliche Lage der Medienfreiheit im NATO-Mitglied und EU-Beitrittskandidaten Türkei wird weiterhin erfreulich viel geschrieben. Unbedingt Beachtung verdient die Reihe von Yücels Arbeitgeber Welt, die an "hunderte andere kritische Beobachter" erinnert, die weiterhin eingekerkert sind. Aktuell erinnert das Springer-Medium an Ahmet Altan, der laut Gerichtsurteil am Tag von Yücels Freilassung gar lebenslang eingesperrt bleiben soll.

Und vor dem Hintergrund des ebenfalls gestern hier behandelten Alice-Weidel-Tweets, demzufolge Deniz Yücel weder Deutscher noch Journalist sei, verdient ein Kommentar Beachtung, den ausgerechnet auf focus.de Birgit Kelle schrieb ("Nicht wenige sind bereit, jeden Anstand, jede Rechtsstaatlichkeit und jede Menschlichkeit hinter sich zu lassen, wenn es in ihren Augen bloß den 'Richtigen' erwischt hat.") ...

Altpapierkorb (Augstein neben Gedeon, "Softwarekolonie" Europa, "perfides" Facebook, Under- und Overblocking)

+++ Gab es im deutschen Nachkriegsfernsehen neben Hans Rosenthal Juden, die den Holocaust überlebt haben, und die ihr Publikum, anders als  Rosenthal, "mit ihrer Vergangenheit konfrontieren" wollten? Jawohl, Fritz Benscher. Siehe diese sehepunkte.de-Rezension dieses Buches.

+++ Auf der FAZ-Medienseite kritisiert Michael Wolffsohn als Gastautor "linkes und rechtes Gerede von 'Jüdischer Weltmacht'" und stellt dabei Wolfgang Gedeon von der AfD und linkerseits Jakob Augstein nebeneinander (45 Cent bei Blendle). +++ Das "staatlich"-statt-"öffentlich-rechtlich"-Wording der FAZ wiederum kritisiert die Medienkorrespondenz auf Twitter (mit Foto).

+++ Gestern spät in der ARD lief eine Dokumentation über noch ein vernachlässigtes Thema mit Medien-Bezug: "Das Microsoft-Dilemma - Europa als Software-Kolonie" von Harald Schumann. Siehe sueddeutsche.de, heise.de.

+++ Außerdem wurde gestern der Medium Magazin-Preis "Journalisten des Jahres" vergeben. Siehe mediummagazin.de und "#jdj17" auf Twitter.

+++ Frische Facebook-Kritik (1): Einem belgischen Gerichtsurteil zufolge muss das Netzwerk "das Sammeln von Daten seiner belgischen Nutzer ... beenden und ... illegal erworbene Daten ... löschen" (handelsblatt.com). "Andernfalls werde eine Strafe von 250.000 Euro pro Tag verhängt". +++ Frische Facebook-Kritik (2): Die Stiftung Warentest nennt es "perfide", wie Facebook mit der von ihm empfohlenen (und besessenen) VPN-Anwendung "Onavo" "massiv Nutzer­daten abgreift".

+++ Prägnante NetzDG-Kritik des Juraprofessors Mathias Hong im netzpolitik.org-Interview: "Die Einseitigkeit besteht darin, dass das NetzDG Sanktionen nur für das Zuwenig-Löschen (underblocking) vorsieht, nicht aber für das Zuviel-Löschen (overblocking) ... "

+++ Dem Stiftungsrat, also Aufsichtsgremium des ORF, steht eine "schwarz-blaue Umfärbung" bevor (Standard).

+++ Und Frank Doelger, "einer der Executive Producer des Mega-Hits 'Game of Thrones', steht künftig in Diensten von Beta Film und ZDF Enterprises" (dwdl.de). Gedreht werden sollen "hochwertige englischsprachige" "High End-Serien" (ZDF Enterprises). Interessant an Betas Pressemitteilung auf Englisch ist, dass dort von "world-class English language scripted projects" die Rede ist. Gibt es den Anglizismus "High-End" am Ende im echten Englisch gar nicht?

Jedenfalls gibt's am Mittwoch wieder neues Altpapier.