Kolumne: Das Altpapier am 7. Mai 2024Diskussionsstoff satt
Heute hagelt es frische Denkanstöße. ARD und ZDF überraschen mit einer offenen Plattform-Initiative. Die Presseverlage haben ihre Beschwerde über öffentlich-rechtliches Text-Internet in Brüssel eingereicht. Und die Otto-Brenner-Stiftung verblüfft mit der Idee, Werbung für Schokolade, Autos und Drogerieartikel zu regulieren oder verbieten. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Neue Plattform-Idee von ARD & ZDF
Ups. Kaum ging's gestern hier ums schwierige Thema Medienkartellrecht, das auch öffentlich-rechtlichen Anstalten das Kooperieren miteinander und mit Partnern erschwert, schon kündigen ARD und ZDF eine neue und für Partner offene Kooperation an: "Streaming-OS". Das ist "eine der größten Open Source-Initiativen in Deutschland" bzw. ein "gemeinsames technisches Plattformsystem" bzw. ein "gemeinsames Streamingsystem".
"Das ist der große Meilenstein in Sachen Effizienz, Wettbewerbsfähigkeit und Transparenz", sagt ZDF-Intendant Norbert Himmler (ZDF-Ankündigung). Wenn private Wettbewerber mitmachen, "kann man sich das auch als den Nukleus für eine große deutschsprachige Plattform vorstellen", sagt der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke, nicht in der ARD-, sondern ebenfalls in der ZDF-PM. Dafür hat die ARD-PM die Formel exklusiv, dass sich ARD und ZDF als "'Enabler' für Markt und Gesellschaft" verstünden. "Mit einem solchen Selbstverständnis als 'Möglichmacher' können sie", ARD und ZDF, "noch viel mehr für unsere Gesellschaft und unsere Demokratie leisten", übersetzt Malu Dreyer bzw. ihre Staatskanzlei. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin ist ja der relativ prominenteste Kopf der Medienpolitik, wenn es mal was zu verkünden (oder einen Bericht in Empfang zu nehmen) gibt.
Verdient das euphorische Getöse, zu dem das "heute-journal" gestern auch noch einen anderthalbminütigen Eigenwerbe-Beitrag mitten in den Nachrichten (inzwischen als Video in der eben verlinkten ZDF-PM eingebunden) sendete, ernst genommen zu werden? Doch, durchaus, sagt Leonhard Dobusch in Folge 105 der netzpolitik.org-Reihe "Neues aus dem Fernsehrat". Das Ganze sei "überaus erfreulich", findet er, der ja längst zum ZDF-Verwaltungsrats-Mitglied avancierte Dobusch. Und zwar weil die Abkürzung OS sowohl für Operating System, also Betriebssystem, als auch für Open Source stehe – also für offene und öffentliche Software, auf der privatwirtschaftliche Partner wie freie Entwickler aufsetzen können. Open Source bedeute "Public Value jenseits des Programms", ein "Unterstützungs- und Kooperationsangebot an private Medien" und eine "unilaterale Europäisierung", listet Dobusch auf. Und sogar der Zukunftsrat könne sich freuen. Nämlich soll auch
"für den Mediathek-Betrieb eine gemeinsamen Tochterfirma gegründet werden. Dieser Schritt entspricht ziemlich genau einer Empfehlung des von den Ländern eingerichteten 'Zukunftsrats'. In dessen Gutachten hieß es: 'ARD, ZDF und Deutschlandradio gründen eine gemeinsame, rechtlich verselbstständigte Gesellschaft für die Entwicklung und den Betrieb einer technologischen Plattform, die alle Technologien für digitale Plattformen und Streaming vereinheitlicht und betreibt.'"
Insofern dient das Ganze dem "Konkurrenzkampf mit kommerziellen Streamingdiensten wie Netflix und Amazon Prime", leitet "epd medien" seine Meldung ein. Bzw. lieber noch als mit Netflix mit Youtube konkurrieren, sagt wiederum Dobusch, nun aber nicht im eigenen Blogbeitrag, sondern im uebermedien.de-Interview (Abo). "Herr Dobusch, die Vorstellung, die Mediatheken von ARD und ZDF müssten mehr wie Netflix sein, gefällt Ihnen nicht. Warum?", steigt Altpapier-Autorin Johanna Bernklau ein. Dobusch antwortet:
"Es ist sogar eines der größeren Probleme der Mediatheken, dass sie wie Netflix sein wollen. Eigentlich sind sie schon so wie Netflix: Auf der Startseite werden oben Vorschläge hervorgehoben und nach unten kann man endlos an kleinen Kästchen entlang scrollen. Aber ist das überhaupt sinnvoll? Das Angebot der Öffentlich-Rechtlichen ist vielfältiger ..."
Stimmt, die Vielfältigkeit ihres Angebots in einem Übermaß an Mehr vom Selben zu verstecken, gelingt ARD und ZDF nonlinear genau so gut wie in den linearen Alles-Mögliche-Programmen. Da hülfe der Hermann-Rotermund-Vorschlag, sich lieber an Youtube zu orientieren (siehe z.B. dieses Altpapier), erläutert Dobusch, der also offenbar im ZDF bzw. sogar im öffentlich-rechtlichen Rundfunk echt was bewegen kann.
Gute Ideen, vergleichsweise flotte Umsetzung, und die gesellschaftsrechtlichen Hürden sollen offenbar durch Gründung mehrerer, aber "schlanker" Tochtergesellschaften mit unterschiedlicher "Federführung" genommen werden. Wird jetzt also, der Zukunft zugewandt, im sich dynamisch entwickelnden Medienbereich alles gut? Nicht uneingeschränkt.
Die Verlage beschweren sich in Brüssel
Neue Kulminationspunkte schon jahrelang laufender Kämpfe werfen ebenfalls frische Schatten voraus. Zumindest liegt dem zweifellos größten Tier in der europäischen Medienpolitik, der EU-Kommission, nun eine "Beschwerde wegen Beihilfemissbrauchs im Zusammenhang mit der Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland" vor. Vorgelegt hat sie der Zeitungsverlegerverband BDZV. Überraschung, die "FAZ" liegt das 72-seitige Dokument ebenfalls vor. Hier fasst sie sie zusammen. Es geht natürlich um "presseähnliche digitale Telemediendienste", übersetzt also: um öffentlich-rechtliches Text-Internet.
"Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hebele das Kriterium des Sendungsbezugs zur Begrenzung von Textangeboten faktisch aus, 'indem Textangebote inflationär mit zum Teil an den Haaren herbeigezogenen Sendungsbezügen versehen werden', stellt der BDZV-Schriftsatz fest. Ein derartiges gebührenfinanziertes öffentlich-rechtliches Textangebot sei verfassungswidrig und wettbewerbsrechtlich unzulässig. ... Der 'fast grenzenlose gebührenfinanzierte Eingriff in die digitale Mediensphäre' zerstöre funktionierende Märkte und gefährde die Medienvielfalt und die Pressefreiheit."
schreibt Helmut Hartung in der "FAZ". Das ist die bekannte, für meinen Geschmack teilweise absolut berechtigte Kritik, die aber strategisch ausblendet, dass die meisten digitalen Märkte immer noch stärker von nicht-europäischen Plattformkonzernen dominiert werden und eben gerade nicht funktionieren.
Dass das Ganze nun in Form einer offiziellen Beschwerde (statt wie bisher in der von Beschwerde-Ankündigungen) bei der EU-Kommission liegt, stellt eine weitere Etappe auf langwierigen Wegen dar. Die Verleger-Argumentation beruft sich auf aus ihrer Sicht nicht eingehaltenen Vorgaben und Abmachungen von u.a. anno 2007 und 2009. Inzwischen habe Kommission die Beschwerde zur Stellungnahme an die deutsche Bundesregierung übermittelt. Eigentlich müsste das Außenministerium reagieren, so Hartung – das ja aber mit Medienpolitik nix am Hut hat (bzw. zufrieden ist, solange die Außenministerin oft genug bei ARD und ZDF zugeschaltet wird). Weshalb der Dienstweg zu den Bundesländern führt, die üblichen Fristen verlängert werden und sich dann erst die nächste EU-Kommission, die mehr oder weniger aus den Europawahlen im Juni hervorgehen wird, wieder mit der Chose befassen dürfte, also wenn sie sich sortiert haben wird.
Jedenfalls dafür, dass die Kämpfe der Vergangenheit weitergehen werden, ist gesorgt.
Brenner-Stiftung vs. "klimaschädliche" Werbung
Medienpolitik gibt es in Deutschland formal gar nicht richtig. Sie besteht aus Zuständigkeiten in vielen unterschiedlichen Ressorts auf unterschiedlichen Ebenen. Das ist doof, weil Medien immer wichtiger werden und immer mehr Ansprüche an "die Medienpolitik" gestellt werden. Z.B. jetzt auch noch:
"Der fortschreitende Klimawandel und die drohende Klimakatastrophe erfordern eine Politik, die diese Regelverstöße erkennt, sanktioniert und unterbindet. Der Medienpolitik steht eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen zur Verfügung – bis hin zu Werbeverboten für bestimmte Produkte oder ganze Produktgruppen"
So annonciert die Otto-Brenner-Stiftung unter der Überschrift "Klimaschädliche Werbung verletzt Medienstaatsvertrag" ihre neueste Studie und erhält auch schon allerhand Medienecho (Deutschlandfunk natürlich). Ein Team der Uni Leipzig um den Kommunikationswissenschaftler Uwe Krüger hat genau 9.779 Werbespots von "knapp 52 Stunden" Gesamtlänge analysiert, die bei "fünf der reichweitenstärksten deutschen TV-Sender und in den 20 erfolgreichsten deutschen YouTube-Kanälen" liefen. Läuft inzwischen also im klassischen Werbefernsehen und bei Youtube oft die gleiche Werbung, wie womöglich auch auf den Nachrichtenportalen der Verlage, bei denen es ja auch überall flimmert? Das war nicht Thema der Studie "Reklame für Klimakiller". Ihr Ergebnis lautet, dass gut 30 Prozent der analysierten Spots ans Publikum appellieren, "klimaschädliche Waren und Dienstleistungen zu erwerben bzw. zu konsumieren". Wofür die Forscher freilich harsche Kriterien anlegten:
"So wurden 86 Prozent der Spots für Süßwaren klimaschädlichen Produkten zugeordnet, vor allem hat Schokolade einen recht großen CO₂-Fußabdruck. Aber auch Produkte rund um Autos (78%) und Drogerieartikel (72%) sind in großer Mehrzahl als klimaschädlich einzustufen."
Hmpf. Werbeverbote für Schokolade, Autos und Drogerieartikel?
Nüchtern betrachtet, hängt ja schon länger eine Initiative des Bundeslandwirtschaftsministers Özdemir in den Warteschleifen fest, Werbung für ungesunde, z.B. zu zuckerhaltige Produkte zu verbieten. Damit steigt das 72-seitige, gewohnt gründlich argumentierende Arbeitspapier (PDF-Download) dann auch gleich ein. Auch für diese Initiative wurden Gründe gefunden, so wie dagegen. Da z.B., dass es dem Minister offenbar einfacher erscheint, den sowieso kriselnden privatwirtschaftlichen Medien was zu verbieten, als sich mit Lebensmittel-Herstellern und dem äußerst einflussreichen Einzelhandel anzulegen, also Regelungen zu sinnvollerer Zusammensetzung von Lebensmittelprodukten zu beschließen (wie es anderswo etwa mit einer "Zuckersteuer" ja geschehen ist).
Wie auch immer, wenn Werbung für Produkte, die frei verkäuflich sind, beschränkt bis verboten werden soll, müsste das sehr, sehr gut begründet werden. (Und die komplexere Anschlussfrage, ob solche Regulierungen bis Verbote dann auch für die vor allem dank laufend höherer Werbeeinnahmen immer noch mächtigeren Plattformkonzerne gelten und wer sie denn bei denen durchsetzen könnte, müsste auch beantwortet werden. Die Bundesländer-Medienwächter? Die EU-Kommission, die dafür aber statt deutscher MStVs ein EU-Gesetz bräuchte??). Dinge gut zu begründen, zählt wiederum nachweislich nicht zu den Stärken sowohl der aktuellen Bundesregierung wie auch der föderalistischen Medienpolitik. Die kommt derzeit ja nicht mal mit dem Rundfunkbeitrag zurande, der seit Jahrzehnten ihr Hauptthema ist. Das PDF schließt mit vier Seiten "Handlungsempfehlungen" (ab S. 54 im PDF), die sich unter vielen anderen an die Landesmedienanstalten und "die Rundfunkräte bzw. Fernsehräte" ("sollten sich im Rahmen der Programmbeobachtung auch mit der Evaluation des Werbeprogramms beschäftigen und die Klimaschädlichkeit der beworbenen Güter kontrollieren").
Zumindest dürfte der Brenner-Stiftung gelungen sein, ein ganz neues, mit Anlässen mit zu jeder Menge voraussichtlich großenteils eher aufregend als sachlich verlaufender Diskussionen prallvoll gefülltes Fass aufgemacht zu haben.
Altpapierkorb (Streik bei RAI & WDR, medwatch.de, Al Dschasira, Vietnam, "Rote Rosen", "Fakt ist")
+++ Auch das wäre an anderen Tagen ein Altpapier-Topthema: Streik im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – einerseits in Italien, wo die Journalisten der öffentlich-rechtlichen RAI am Montag streikten, "um "gegen die 'erdrückende Kontrolle' zu protestieren, die die Regierung von Giorgia Meloni über ihre Arbeit ausübt" (europeanjournalists.org, deepl.com-übersetzt). +++ Diese "Debatte erlangte ihren bisherigen Höhepunkt, als ein Redebeitrag des Schriftstellers Antonio Scurati von der Rai kurzfristig abgesagt wurde", und zwar "zum 25. April, dem Tag der Befreiung von der Besetzung Nazideutschlands" ("epd medien"). +++ "Die RAI-Spitze erwiderte, dass der Streik aus Gründen ausgerufen worden sei, die nichts mit den Arbeitnehmerrechten zu tun haben. ... 'Optimierungsprozesse' seien notwendig, um das Beste aus der vorhandenen Belegschaft zu machen, hieß es" ("Standard"). +++
+++ Aus anderen Gründen läuft beim WDR nun ein 48-stündiger Warnstreik, meldet dwdl.de aus Köln.+++
+++ Was die Ampel-Regierung auch nicht hingekriegt hat und vor lauter Wahlkämpfen kaum mehr in Angriff nehmen wird: die Idee, Journalismus als so gemeinnützig einstufungsfähig zu machen wie Modellbau etc. Dabei wäre das realistisch gewesen, da sowohl Grüne als auch FDF grundsätzlich dafür gewesen waren. Nun stellt "eines der wenigen gemeinnützigen Medien in Deutschland seinen Betrieb ein", meldet medwatch.de in eigener Sache. Das Portal, "das viele Jahre investigative Recherchen zu unseriösen Gesundheitsversprechen und Pseudomedizin publizierte", war 2020 für den Grimme Online Award (den es derzeit ja auch nicht mehr gibt) nominiert. Wobei Gründerin Sigrid März dann einen positiven Spin ("Neugründung als innovatives Redaktionsbüro") anschließt. +++
+++ "An die Türe von Zimmer 319 in einem teuren Hotel im Viertel Scheich Dscharrah in Ost-Jerusalem ist ein einsamer Zettel geklebt: Die Aktivitäten von Al Jazeera seien als staatsgefährdend eingestuft, die Büros des TV-Senders auf israelischem Staatsgebiet ab sofort geschlossen": So szenisch leitet die "taz" ihren Bericht über Israels Verbot des katarischen Senders Al-Dschasira ein. +++
+++ Außerdem befasst die "taz" sich anlässlich der neuen Rangliste der Pressefreiheit (Altpapier vom Freitag) mit deren Lage in Vietnam, das auf Platz 174, also weiterhin ziemlich weit unten steht. Wobei der Weg nicht so weit ist, denn das oppositionelle Portal thoibao.de, gegen das die vietnamesische Regierung massiv vorgeht, sitzt in Berlin. +++
+++ Paradox? "Salomonisch"? Die ARD will die Produktionsaufträge ihrer täglichen Nachmittagsserien "Rote Rosen" und "Sturm der Liebe" einerseits "und diesmal sogar etwas langfristiger" verlängern, also um weitere Jahre. Andererseits wird gekürzt, nämlich die Dauer der Folgen, die ab 2025 eine "Netto-Sendezeit von rund 24 Minuten" statt wie derzeit 48 Minuten haben sollen. Dritterseits: "Wahrscheinlich dürfte sein, dass die durchschnittliche Sendeminute ... durch die Kürzung etwas teurer wird" (dwdl.de). +++
+++ Zur MDR-Talkshow "Fakt ist", für die ich gestern hier eine kleine Lanze brach, ließe sich nachtragen, dass die gestern gesendete Ausgabe sich gar nicht wie angekündigt der Wehrpflicht widmete, sondern aus auch nicht guten Gründen dem aktuelleren Thema "Gewalt im Wahlkampf" galt. +++
Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.