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Kolumne: Das Altpapier am 3. Juni 2024Man ahnt es!

03. Juni 2024, 09:59 Uhr

Matthias Fornoff wird beim ZDF wegen eines Fehlverhaltens degradiert. Worin besteht es? Viele Medien halten sich an das wenige, was bekannt ist. Einige versuchen, mehr herauszufinden. Andere ahnen reflexgesteuert in der Gegend herum. Außerdem: die NDR-Untersuchung zu "STRG_F". Und Nachrufe auf Ruth Maria Kubitschek. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Fehlverhalten und Folgereflexe

Es ist noch eine knappe Woche bis zur Europawahl. Und die Frage, wie darüber berichtet wird, wird allmählich relevant. Im Fokus stand am Wochenende zum Beispiel das ZDF, das seine Planungen kurzfristig ändern musste. Auszug aus einer aktualisierten Mitteilung des Senders:

"Das ZDF sendet am Wahlsonntag, 9. Juni 2024, ab 17.35 Uhr live aus der Berliner Fernsehwerft. Durch den Wahlabend führt ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten, an ihrer Seite Parteienforscher Karl-Rudolf Korte. Alle Zahlen und Hochrechnungen liefern Christian Sievers und die Forschungsgruppe Wahlen."

Der letzte Satz ist es, der aufhorchen lässt. Zahlen und Hochrechnungen waren bislang das Metier von Matthias Fornoff. Der bisherige Leiter der ZDF-Hauptredaktion Politik und Zeitgeschehen hat häufig das "Politbarometer" präsentiert, Sondersendungen oder vertretungsweise auch "Maybrit Illner"-Talks moderiert. Balken und Zahlen präsentiert er am kommenden Wahlwochenende wohl nicht.

Fornoff hat seine Führungsposition verloren, wie das ZDF mitteilte. "Bild" hatte zuerst darüber berichtet. Er übernehme eine neue Aufgabe in der ZDF-Chefredaktion ohne Führungsverantwortung, heißt es. Die Gründe dafür sind senderseitig vage gehalten, von einem "Fehlverhalten gegenüber Kolleginnen" ist die Rede. Dass Fornoff seinen Platz räumen muss und "Fehler eingestanden" hat, wie es heißt, ist freilich ein Anzeichen, dass es sich nicht um eine Lappalie handelt. Ohne eigene Recherche im ZDF kann man allerdings nicht genau wissen, worin das Fehlverhalten besteht. Die "FAZ" in einer Meldung, die "Süddeutsche" (Abo) etwas ausführlicher, epd, spiegel.de oder t-online.de, um nur einige zu nennen, beschränkten sich daher zunächst auf das, was offiziell bekannt war. In der "FAZ" klang das am Samstag zum Beispiel so:

"'Vorausgegangen' seien 'Beschwerden über Fehlverhalten gegenüber Kolleginnen. Das ZDF hat diese geprüft und stellt dabei stets hohe Ansprüche an seine Führungskräfte. Matthias Fornoff hat Fehler eingestanden und die getroffene Entscheidung des ZDF akzeptiert.’"

Beim "Tagesspiegel" entschied man sich, zumindest etwas mehr zu schreiben als viele andere; Joachim Huber zitiert ungenannte ZDF-Leute mit der Erwartung, dass Fornoff zeitnah "in den Ruhestand gehen wird", was der offiziellen Version widerspräche, er werde versetzt. Viel zu leicht macht es sich aber Stern.de, wo am Freitagnachmittag bild.de zitiert wurde, bevor die Autorin, Kerstin Herrnkind, die Namen Harvey Weinstein, Dieter Wedel, Julian Reichelt und Gebhard Henke in ihren Text packte und Fornoff unter dem Label "solche Typen" kurzerhand mit in den Sack steckte.

Dass sie mehr als das weiß, was "Bild" berichtete, ließ die Autorin jedoch nicht durchblicken. "Man ahnt, dass es vermutlich um dumme, unangemessene Anmache gehen könnte", schrieb sie über Fornoffs Fehlverhalten. Ah ja. Man ahnt nach der Lektüre, dass es sich bei der stern.de-Kolumne vermutlich um reflexgesteuerten Abschreibejournalismus handeln könnte. Ist aber wirklich nur eine Vermutung.

Wagenknechts Bündnis gegen mediale Missachtung

Das Bündnis Sahra Wagenknecht kann sich über mangelnde mediale Aufmerksamkeit wirklich nicht beklagen. Also wirklich gar nicht (Altpapier)."In den einschlägigen Talk-Formaten von Maischberger bis Lanz sind BSW-Vertreter in diesem Jahr insgesamt neunmal vertreten gewesen", so Christian Meier von der "Welt".

Dass ausgerechnet diese Partei, der schon Zeitungsseite um Zeitungsseite gewidmet wurde, bevor sie überhaupt gegründet worden war, wegen medialer Nichtbeachtung vor Gericht gegangen ist, mutet an wie ein Witz. Es ist aber keiner, weil die expliziten Wahlkampfformate von ARD und ZDF – auch jetzt zur Europawahl – besonderen Regeln folgen. Und darum ging es bei der juristischen Auseinandersetzung: Nichtbeachtung des BSW beim Wahlkampfrunden-Fernsehen in der ARD. (Unter anderem auch faz.net hat berichtet.)

Christian Meier schreibt:

"Die Regel, die der WDR geltend macht und gegen die das BSW gerichtlich vorgegangen ist, lautet so: Zur TV-Debatte eingeladen werden Kandidaten der Parteien, 'die bereits im aktuellen Europarlament mit einer nennenswerten Anzahl von Abgeordneten vertreten sind und die in Deutschland über eine gewisse Relevanz aufgrund ihrer bisherigen Erfolge verfügen'. So fasst das Kölner Gericht die Argumentation des WDR zusammen."

Nach dieser Regel konnte das Bündnis nicht vom WDR eingeladen werden. Regeln sind in solchen Fällen hilfreich, dann kann man als Sender Entscheidungen begründen, ohne in den Verdacht zu geraten, man agiere selbst politisch. Was fehle, wie Meier kritisiert, sei allerdings Konsistenz über alle ARD-Anstalten hinweg. Er erinnert daran (und fährt als Gewährsmann den ehemaligen ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender auf), dass beim SWR 2011 Grüne und Linke in einem Wahlformat dabei gewesen seien, obwohl sie nicht im Landtag saßen – 2016 dann die AfD aber nicht. So könnte es sich erklären, dass das Wagenknecht-Bündnis nun gegen den WDR vorging.

Ach so, was sagt das Gericht?

"Das Verwaltungsgericht sah nun allerdings die Rundfunkfreiheit des WDR über dem Recht auf Chancengleichheit. Und ließ sich zudem von der Argumentation des WDR überzeugen, dass die Partei ,in anderen wahlbezogenen Sendungen ausreichend Gelegenheit’ habe, Wähler zu erreichen."

Daran immerhin dürfte wohl wenig Zweifel bestehen. (Und das ZDF hat das Bündnis übrigens eh zum "Kandidatencheck" eingeladen – dort war am vergangenen Donnerstag Fabio de Masi dabei.)

"STRG_F"-Untersuchungsbericht: viele Köche, Wald vor Bäumen

Ende Mai wunderte sich der "Medieninsider" darüber, dass das junge NDR-funk-Format "STRG_F" noch in der selbstverordneten Winterpause sei (Altpapier). Die Macherinnen und Macher sahen sich Kritik an ihrer Arbeitsweise ausgesetzt – und zwar schon seit Dezember (in diesem Altpapier und in diesem Folge-Altpapier vom Januar steht, worum es geht). Voreingenommenheit, Lautstärke statt Genauigkeit, Nichteinhaltung journalistischer Standards – das waren im Kern die Vorwürfe. Der YouTuber (und Nannenpreisträger) Rezo hatte die Redaktion angezählt, der erste Anlass war ein "STRG_F"-Beitrag über Nahrungsergänzungmittel.

Nun gibt es nach fünf Monaten ein neues "STRG_F"-Video auf YouTube (das ich noch nicht gesehen habe, die Nachricht ist seine Existenz). Und vor allem hat der NDR einen 17 Seiten langen Untersuchungsbericht (pdf) veröffentlicht (dessen Existenz die größere Nachricht ist). Stefan Niggemeier ist auf "Übermedien" (Abo) allerdings eher verwundert über den Bericht:

"Dass sich der NDR so lange Zeit gelassen hat, könnte man als gutes Zeichen interpretieren, denn in dem Abschlussbericht ist Zeitdruck an mehreren Stellen eine Erklärung für Fehler, die passiert sind. Lieber gründlich und vernünftig als schnell, könnte man denken – doch die Verzögerung ist in diesem Fall Ausdruck davon, dass dem Sender selbst die Aufbereitung des umfassenden Misslingens misslungen ist. (…)  (W)er nach so langer Zeit der internen Aufarbeitung mehr erwartet hatte, nämlich Hinweise darauf, wie das alles so schiefgehen konnte, was für eine Kultur da herrscht in der Redaktion, aber auch im Sender, warum die Arbeitsweisen so problematisch waren, wieso es zunächst so schwer war, Fehler einzuräumen, und welchem Druck und welchen Zwängen ein Format des ARD/ZDF-Jugendnetzwerks Funk ausgesetzt ist – der wird enttäuscht."

Als Quell für das Misslingen der Misslingensaufarbeitung macht er die Komplexität des Untersuchungsverfahrens aus, das intransparent gewesen sei und nicht in den Händen Externer gelegen habe, sondern bei denen angesiedelt gewesen sei, "die die Redaktion leiten und damit auch verantwortlich sind" – plus diverse Abnahmeschleifen. Auch intern sei das Verfahren kritisiert worden.

Ein greifbares Ergebnis der Aufarbeitung ist die Verringerung des Outputs von "STRG_F": 30 statt 43 Videos soll es pro Jahr geben, heißt es bei funk.net. Jochen Zenthöfer schreibt in der "FAZ": "Wie es scheint, hat STRG_F vom NDR eine Gelbe Karte bekommen. Bei wei­teren Fehlern droht vermutlich STRG_ENTF." Die Fußballmetapher klingt allerdings, als wäre der NDR in der Angelegenheit ein neutraler Schiedsrichter.

Was in der Untersuchung bei aller Akribie im Detail verloren gegangen sei, sei ein Blick auf entscheidende Fragen, kritisiert Stefan Niggemeier:

"In welchem Maß muss ein journalistisches öffentlich-rechtliches Format die marktschreierischen Mechanismen anwenden, mit denen im Dauergetöse der sozialen Medien und auf Youtube Klicks generiert werden, um wahrgenommen zu werden und womöglich Reichweiten- und Zielgruppenvorgaben zu erfüllen? Ab wann kollidiert die Fixierung auf Aufmerksamkeit mit dem journalistischen Anspruch?"

Gute Fragen, die man "STRG_F" stellen kann. Aber eben auch denen, die von Formaten eine gewisse quantitative Performance verlangen.

Ruth Maria Kubitschek ist gestorben

Die Schauspielerin Ruth Maria Kubitschek ist 92-jährig gestorben. Sie wird dank ihrer Rollen in "Kir Royal", wo sie eine Zeitungsverlegerin spielte, die ihren Boulevardreporter nicht immer unter Kontrolle hat, und als "Spatzl" in "Monaco Franze" in Erinnerung bleiben – aber nicht nur deswegen. Nachrufe, etwa in der "SZ" (Abo), der "FAZ" (Abo) oder im "Tagesspiegel" (Abo), kommen alle nicht ohne die prominente Erwähnung dieser zwei Rollen aus, die sie spielt. (Und ich hier ja auch nicht.) Aber in allen Nachrufen steht auch, dass Kubitschek ein bemerkenswertes Berufsleben vorher und nachher hatte, das im Theater der DDR und in Defa-Filmen begonnen habe. Andreas Kilb geht in der "FAZ" besonders darauf ein –

"Nach ihrem Theaterstudium in Halle und Weimar trat sie in Schwerin und Berlin in Stücken von Schiller, Molière, Kusnezow und anderen auf, nebenbei spielte sie Filmrollen für die Defa (…), und als sie 1959 nach einem Gastspiel in Wiesbaden in Westdeutschland blieb, konnte sie ihre Laufbahn dort bruchlos fortsetzen"

und schlägt schließlich den Bogen zu "Kir Royal": "Der souveräne Zorn, mit dem sie in der Folge 'Königliche Hoheit' ihren Skandalreporter Baby Schimmerlos und den Fotografen Herbie Fried zusammenstaucht, kommt von weither, von der Klassikerbühne ebenso wie aus dem Genrekino."


Altpapierkorb (ARD-Doku, Julia Krittian, das Netz)

+++ Im Juni beginnt die Fußball-Europameisterschaft der Männer (und ich entschuldige mich bei allen, die sich durch diese Formulierung in ihren männlichen Gefühlen verletzt fühlen, vorbeugend für die Präzision). In der ARD-Mediathek und linear am Mittwoch gibt es nun eine Dokumentation, die wegen einer Umfrage "für Diskussionen" sorgt (wie es dwdl.de nennt). In der "SZ" (Abo) kommt die Doku "Einigkeit und Recht und Vielfalt" gut weg, die "FAZ" (Abo) jedoch kritisiert einen "Skandalpopanz" wegen einer vom WDR angestrengten Umfrage, die das Ergebnis erbracht hat, dass rund ein Fünftel der Befragten "sich mehr Nationalspieler mit weißer Hautfarbe" wünschen würden. Der Befund ist bestürzend, doch die Tatsache, dass die Umfrage überhaupt gemacht wurde, sorgte für Kritik, etwa des Nationalspielers Joshua Kimmich, der es als "absurd" bezeichnete, solch eine Frage zu stellen: "Wenn man überlegt, dass wir vor einer Heim-EM stehen, ist es schon absurd, so eine Frage zu stellen, wo es eigentlich darum geht, das ganze Land zu vereinen."

Nun, das mag zunächst die Logik eines Fußballteams sein, das mutmaßlich vor dem Turnier politische Debatten und die daraus folgende Ablenkung lieber vermiede. Andererseits, schreibt der ehemalige Altpapier-Autor Matthias Dell bei Zeit Online: "(S)chon das Stellen der Frage, wie weiß sich die Leute das eigene Team wünschen, wertet einen talking point medial auf, der allein für die Menschenverachtung von rechts relevant ist; dass ein Fußballspieler diesbezüglich mehr Medienkompetenz besitzt als eines der größten Medienhäuser Europas, spricht nicht für den WDR." Dass Kimmich allerdings die ARD-Umfrage "absolut rassistisch" genannt habe, wie etwa ntv.de behauptet, stimmt nicht. Gemeint war nach meiner Lesart wohl eher der Befund, den sie erbracht hat.

+++ MDR-Chefredakteurin Julia Krittian wechselt zum Hessischen Rundfunk und wird dort Programmdirektorin. Das meldete am Freitag etwa flurfunk-dresden.de und zitierte eine HR-Mitteilung.

+++ Das Social-Media-Blog beschreibt nach der re:publica treffend einen Wandel in Wahrnehmung und Bedeutung des Netzes: "2007, als die re:publica zum ersten Mal ausgerichtet wurde, hieß der US-Präsident George W. Bush, und StudiVZ war in Deutschland größer als Facebook. Mit Globalisierung und Digitalisierung verband sich die Hoffnung, dass die Welt zusammenwächst und zu einem friedlichen, globalen Dorf wird. Von diesem Optimismus ist heute wenig übrig geblieben. Der Brexit, Donald Trump und das Erstarken rechtsextremer Bewegungen haben viele vermeintliche Gewissheiten erschüttert. Russlands Überfall auf die Ukraine, die neue alte Spaltung zwischen Ost und West und der Erfolg der AfD waren der Sargnagel. Offenbar war es ein Irrglaube, dass technologischer und gesellschaftlicher Fortschritt Hand in Hand gehen."

Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.