Kolumne: Das Altpapier am 4. Juni 2024Wichtig oder sogar wesentlich
Kritische Infrastruktur zu schützen, ist auch kein Kinderspiel. Der Journalismus entfremdet sich selbst von wohlmeinenden Freunden. Und muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk werbefinanzierte FAST-Channels füllen, z.B. mit fast 100 Stunden einer älteren MDR-Serie? Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Medien und andere kritische Infrastruktur
Bundesinnenministerin Faeser hat alle Hände voll zu tun. Bei beiden aktuellen nachrichtlichen Topthemen ist sie, auch mit Wortbeiträgen, neben Kanzler Scholz im Bild. Da wäre einerseits die jüngste Flut als Folge des sich verschärfenden Klimawandels. Da ist andererseits der in vielen Medien als "Messerattacke" verbrämte, offenkundig islamistische Mordanschlag eines afghanischen Flüchtlings, dem ein Polizist zum Opfer fiel. Zu dem äußerte die Innenministerin zwar nicht alles, was mit ihrem Namen zirkulierte. Bei dem, was AfD-Chefin Weidel schnell kommentierte, handelte es sich um eine aus deren eigener Partei gepromptete KI-Fälschung (zdf.de). Aber natürlich nahm Faeser als Dienstherrin vieler Polizisten Stellung. "Mitglieder der Bundesregierung klingen jetzt so, als seien sie in der Opposition", kommentiert die "FAZ". Doch das soll hier nicht Thema sein.
Sondern: NIS2UmsuCG. Das ist das Kosewort für "NIS-2-Umsetzungs- und Cybersicherheitsstärkungsgesetz", worin das "NIS" "Netzwerk- und Informationssicherheit" abkürzt. Und die obliegt der Europäischen Union. Es muss also ein EU-Gesetz national umgesetzt werden. Sie merken, es wird arg kompliziert. Aber heise.de gab anlässlich der am gestrigen Montag gelaufenen Verbändeanhörung zum entsprechenden Gesetzesentwurf des Innenministeriums guten Überblick:
"Die Probleme fangen schon damit an, dass keiner genau sagen kann, wer unter das deutsche ... Normenwerk fallen wird. Die EU-Gesetzgeber ersetzten den Ansatz der traditionellen Kritis-Sektoren wie Energie- und Wasserversorgung, Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), Verkehr, Finanzwesen, Rettungsdienste und Medien durch einen neuen, bei dem die bisher als kritisch eingestuften Einrichtungen nun als 'wesentliche' erfasst werden. Ergänzend kommen 'wichtige' Institutionen dazu. Sie sind ebenfalls bedeutsam für das gesellschaftliche Zusammenleben, besitzen aber nicht den besonderen Charakter der wesentlichen Einrichtungen."
Ach so, die weitere Abkürzung: "Kritis" steht für "kritische Infrastrukturen". Für Rechtsunsicherheit sorgt nun, dass das deutsche Innenministerium doch wieder von "besonders wichtigen" statt wie die EU von "wesentlichen" Institutionen spricht bzw. schreibt. Neben anderen kritisiert der Informationsrechtler Dennis-Kenji Kipker ein "Begriffschaos" wegen des "handwerklich mangelhaft" formulierten Texts.
Sicher ist das nicht Nancy Faesers Schuld. Alle Ministerien beschäftigen eine hohe, meist steigende Zahl bestens bezahlter Beamte, die auch ohne persönlichen Einsatz der Ministerin zurande kommen könnten. Als Beispiel, wie die aktuelle Bundesregierung selbst ihr bescheidenes Nebenziel, wenigstens ein bisschen Bürokratie abzubauen, verstolpert, taugt das Beispiel jedoch. Vielleicht auch als ein weiterer Anlass, dass die nächste, spätestens Ende 2025 antretende Bundesregierung, die Ressorts bitte sinnvoller aufteilen sollte als es die aktuelle tat.
Die Republica und der Journalismus
"Lange Zeit wurde dort zwar mit Vorliebe geschimpft (auf die deutsche Digitalpolitik)", doch früher war's schon schön auf der Republica. Das stand sinngemäß im gestern im Altpapierkorb verlinkten socialmediawatchblog.de-Resümee zur Berliner Digitalkonferenz, die vorige Woche stattgefunden hatte. Noch ein Rückblick auf dieselbe Veranstaltung verdient Beachtung, weil es darin konkret um den Journalismus geht. Thomas Knüwer zeigt sich auf indiskretionehrensache.de erst mal ähnlich positiv-nostalgisch gestimmt. "Wir brauchen Orte wie die re:publica", beginnt ein Absatz. Doch weiter heißt dann:
"An solchen Orten lassen sich dann auch Stimmungen ablesen, durchaus auch als Frühindikator. Eine solche Stimmung hat mich diesmal kalt erwischt: die überall offen geäußerte Kritik an Journalismus und Medien. ... diesmal waren die Kritiker weitreichender, wütender und vor allem kam auch außerhalb der Bühnen schnell die Rede auf Fehlleistungen des Journalismus. Das heißt nicht, dass die re:publicaner sich plötzliche der Lügenpresse-Fraktion anschließen – im Gegenteil. Die Konferenz ist ja ein Hort der Wohlmeinung gegenüber dem Journalismus, etliche Medien und medienverwandte Institutionen gehören zu den Sponsoren der re:publica, darunter ARD, ZDF, Deutschlandfunk und das Medienboard Berlin-Brandenburg. Doch die Unzufriedenheit mit dem, was da zu lesen, hören oder sehen ist, wächst in ein emotionales Maß hinein ... sehr viele Menschen wenden sich vom Journalismus ab, weil sie das Gefühl haben, er liefere nicht mehr das, was sie benötigen."
Dafür nennt Knüwer allerhand Beispiele aus diversen Republica-Auftritten. Der Journalismus werde "getrieben vom Kult der Kurzfristigkeit und der Nachahmung der algorithmischen Modelle", zitiert er etwa den Tübinger Medienwissenschafts-Professor Bernhard Pörksen.
Muss der ÖRR werbefinanzierte FAST-Channels füllen?
Nun frisch hinein in die Medienpolitik im traditionellen Sinne. Was geht rund um den Rundfunkbeitrag? Na ja, noch'n Appell. "Mitglieder der Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder aufgefordert, die Beitragsempfehlung der ... KEF zügig umzusetzen", meldet "epd medien".
Gremienmitglieder (bei denen es sich wohl nicht um die offizielle Gremienvorsitzendenkonferenz handelt, sondern auch um nicht-vorsitzende) äußerten die Sorge, "dass das seit Jahrzehnten durch das Bundesverfassungsgericht vorgeprägte Verfahren zur Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Anstalten derzeit nicht eingehalten werde", undsoweiter. Schon bei der vorigen Erhöhungsrunde 2020 hätte solch ein Appell nur dann noch geholfen, wenn die Bundesländer-Ministerpräsidenten allein hätten entscheiden können. Damals waren sie sich ja noch einig, und bloß weil schon damals alle Landtage ab- und zustimmen mussten und Rainer Haseloff aus Sachsen-Anhalt recht sicher wusste, dass seiner nicht zustimmen würde, ließ er lieber nicht abstimmen. Deshalb nahm die Sache einen Umweg nach Karlsruhe, und das Verfassungsgericht prägte sie weiter. 2024 hat knapp die Hälfte der Ministerpräsidenten bekundet, selbst gegen eine niedrige Erhöhung zu sein.
Immerhin, an Thüringen würde es nicht scheitern, zumindest bis zur Landtagswahl im September, sagt dessen Medienminister Benjamin-Immanuel Hoff im großen, mit so manchem Karl-Marx-Zitat angereicherten KNA-Mediendienst-Interview (Abo):
"Es ist unrealistisch zu glauben, man könne ewig dieselbe Leistung für das immer gleiche Geld bekommen. Wir müssen vielmehr diskutieren: Was ist im Rundfunkbeitrag enthalten?"
Womit er auch meint, wie er später präzisiert, dass aus dem Beitrag einiges finanziert wird, "was nicht zwingend" im Rundfunkbeitrag enthalten sein müsste.
Was der Rundfunkbeitrag auch finanziert: einen großen und laufend weiter wachsenden Berg an vielen Unterhaltungssendungen, mit denen zahllose FAST-Channels rund um die Uhr gefüllt werden können. Englisch "fast" – also: schnell? Nee, das Akronym steht für "Free Ad Supported Streaming" und bezeichnet Kanäle wie diesen. Hier auf pluto.tv rotiert die Serie "Familie Dr. Kleist", von der laut Wikipedia der MDR von 2004 bis 2020 insgesamt 129 gut 45-minütige Folgen für die ARD produzierte. Also insgesamt nicht ganz 100 Stunden.
Mit solchen FAST-Kanälen, auf denen Folgen nur einer einzigen Serie bzw. Reihe oder sehr ähnlicher Formate rotieren, hat sich Volker Nünning wiederum für "epd Medien" beschäftigt. In Deutschland würden FAST-Kanäle bis 2027 auf "insgesamt rund 200 Millionen Dollar" Umsatz pro Jahr kommen, also über auf 180 Millionen Euro (sofern der Euro bis dahin nicht noch viel an Wert verliert). Natürlich geht es auch um die im deutschen Medienrecht überkommenen Bestimmungen. Dem Gerätehersteller Samsung zufolge, der "in Deutschland rund 110 Kanäle" betreibe, wie z.B. in Kooperation mit der ZDF-Tochter ZDF-Studios "ZDF kocht!" und "Bares für Rares", sei keine Lizenz erforderlich:
"Hier greife eine Regelung im Medienstaatsvertrag, die der Paragraf 54 enthalte. Demnach benötigen Rundfunkprogramme keine Zulassung, wenn sie 'nur geringe Bedeutung für die individuelle und öffentliche Meinungsbildung entfalten' oder sie 'im Durchschnitt von sechs Monaten weniger als 20.000 gleichzeitige Nutzer erreichen oder in ihrer prognostizierten Entwicklung erreichen werden'."
Pluto TV dagegen, das zum US-amerikanischen Paramount-Konzern gehört, hat sich doch eine Lizenz besorgt (und zwar, obwohl seine deutsche Niederlassung in Berlin sitzt, bei den nordrhein-westfälischen Medienwächtern. So geht deutscher Medien-Föderalismus). Jedenfalls steht das "AS" im Akronym FAST für "Ad Supported", also werbefinanziert, während unter dem Pluto-TV-Logo der Spruch "Jetzt streamen. Nie bezahlen" steht. Heißt: Die künftig 180 Mios laufen allein durch Werbeausgaben auf. Die Einnahmen teilen sich dann Konzerne wie Samsung aus Südkorea und Paramount aus New York irgendwie mit öffentlich-rechtlichen Tochter- und Enkelfirmen.
So gesehen, ergibt es einerseits betriebswirtschaftlich Sinn, wenn gleich beide deutschen öffentlich-rechtlichen Senderfamilien jeweils eigene Telenovelas, Kochshows und Krimis dermaßen anhäufen, dass all ihre Episoden dann Jahre später rund um die Uhr in Streamingkanälen rotieren können und Einnahmen einspielen. Anders gesehen: Falls wirklich jemand eine ernsthafte Reform anpeilt, um den wichtigen oder sogar wesentlichen Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die Zukunft zu sichern, schlummerte dort allerhand Potenzial an Sendungen, die in diesem gewaltigen Ausmaß wohl kaum durch Rundfunkbeitrags-Einnahmen ermöglicht werden müssten. Aber dennoch Jahr für Jahr, Staffel für Staffel genau dadurch finanziert werden.
(Ach so, falls sich – womöglich über Suchmaschinen, die auch noch tief unten in langen Texten crawlen – jemand hierhin verirrt haben sollte, der wirklich gerne "Familie Dr. Kleist" gucken möchte: Zumindest die Staffeln 6 und 8 gibt's gerade auch, werbefrei, in der ARD-Mediathek).
Altpapierkorb (Scholz über Medien, Interview-Autorisierung, Fragestellung, 2350 Seiten Rundfunkrecht, Programmbeschwerden, Küppersbusch & Klamroth)
+++ Gestern gegen Abend war Bundeskanzler Scholz dann auch noch, wohl ohne Nancy Faeser, bei der 75-Jahre-Feier der Deutschen Journalistenschule. Und forderte von den Medien unter anderem: "Mehr Information statt Haltung" ("Handelsblatt"). +++
+++ "Ein Interview, das nicht autorisiert werden muss, ist nicht zwangsläufig besser. Ich würde sogar sagen, es ist häufig schlechter. ... Live-Interviews können wahnsinnig langweilig, nichtssagend und unpointiert sein ..." sagt der (von Altpapier-Autorin Johanna Bernklau) interviewte Interviewer Veit Medick auf uebermedien.de (Abo). "Wieso darf ein Politiker ein Interview überarbeiten, bevor es gedruckt wird?", lautet die Frage. +++
+++ Zu einem Interview, das der Interviewte, der Europawahl-Spitzenkandidat der FPÖ, abbrach, veröffentlichte der ORF, der das Interview hatten führen wollen, dann das Drumrum als Video ("Standard"). +++
+++ "Die einen finden also schon die Fragestellung suggestiv und deswegen rassistisch - die anderen das Ergebnis noch mal viel schlimmer. Zulässig ist sicher auch die Position, die Frage handwerklich deutlich zu kritisieren und vom Ergebnis dennoch erschüttert zu sein. Und über vieles mehr ließe sich nun außerdem diskutieren": Da geht es Cornelius Pollmer auf der "SZ"-Medienseite (Abo) um die Frage nach deutschen Fußball-"Nationalspielern mit weißer Hautfarbe", mit der die ARD/WDR-Doku "Einigkeit und Recht und Vielfalt" gerade allerhand Aufmerksamkeit erregt (Altpapierkorb gestern). In der "FAZ" kritisiert Forsa-Instituts-Chef Manfred Güllner die Fragestellung und dass der WDR "die Meinung von Minderheiten überbetont, während die Meinung der Mehrheit erst nachrangig erwähnt wird". +++
+++ Außerdem kritisiert in der "FAZ" Jochen Zenthöfer an der neuen, 2350-seitigen Auflage des "Beck’schen Kommentars zum Rundfunkrecht", dass darin viele "ARD-Mitarbeiter einen Staatsvertrag auf eine Weise kommentieren" würden, "die ihnen in ihrer Arbeit im Justitiariat hilfreich ist". +++
+++ Sozusagen Programmbeschwerden-Datenjournalismus bietet Deutschlandfunks "medias@res". Zumindest ging Stefan Fries der Frage nach, was aus 708 bekannten, im Jahr 2023 an die Rundfunkräte gelangten Beschwerden so wurde. Spoiler: nicht seehr viel. +++
+++ "... Bei 'HaF' führte das nun zum zweiten Mal zu einem 'Faktencheck', der etwas zu korrigieren vorgab, was dummerweise vorher nicht behauptet worden war. Der klassische Plasberg-Claim 'Politik trifft auf Wirklichkeit' dreht sich ins Nirwana: Die Politiker waren wirklicher als das Konstrukt, in dem sie mitspielen sollten. Es geht nicht darum, bestimmte Leute und Positionen trickreich fertig zu machen, sondern: alle wahrhaftiger. Es gibt Gründe im Format, warum es nicht gelingt", sagte dann noch Friedrich Küppersbusch, gestern, in seiner "taz"-Interview-Kolumne zu "Hart aber fair", also der Show der Vorwoche. Woran interessant ist, dass Küppersbusch als Fernsehsendungs-Produzent mit dem derzeitigen "Hart aber fair"-Moderator Louis Klamroth lange zusammengearbeitet, wenn nicht ihn mehr oder weniger entdeckt hatte ... +++
Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.