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Kolumne: Das Altpapier am 18. Juni 2024Fragen der Perspektive

18. Juni 2024, 10:12 Uhr

Die Internet-Nutzung sinkt. Das Medienvertrauen stagniert auf eher niedrigem Niveau. Es wird weiter viel gefaxt. In der EU geht gerade nicht viel, aber die Chatkontrolle-Planung voran. Und beschließt die deutsche Medienpolitik, die "überflüssige Schwemme an Podcasts" zu begrenzen? Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Reuters/Bredow & mehr Daten

Es gibt frische Was-mit-Medien-Daten. Weniger prominent ging die Meldung herum (z.B. "FAZ"/Abo gestern), dass die Internetnutzung in Deutschland, ungefähr erstmals, sank. Also "die Zahl der Onlinestunden" durchschnittlicher Deutscher ist gesunken, von 71 im vorigen Jahr auf immer noch viele "69 Stunden je Woche". Die Zahl entstammt einer Studie im Auftrag der Postbank, die ja selber Probleme mit dem Internet hatte.

Nun liegen neue Zahlen der wohl renommiertesten regelmäßigen internationalen Nachrichtennutzungs-Studie vor: der "Reuters Institute Digital News Report" für 2024. Zum 69-seitigen deutschen PDF geht's hier, und hier zur (mit einer verschwommenen rothaarigen Apple-Gerät-Nutzerin illustrierten) Pressemitteilung des Reuter-Leibniz-Bredow-Institut/e/s.

[Falls Sie ein Absätzchen Zeit haben, sich drauf einzulassen: Das traditionsreiche Bredow-Institut wurde 2019 in die finanziell sehr gut ausgestattete Leibniz-Gemeinschaft aufgenommen und heißt seitdem außerdem "Leibniz-Institut für Medienforschung"; es verantwortet den insgesamt 47 Staaten zeitgleich betrachtenden "Digital News Report" des Oxforder Reuters Institute auf deutscher Seite.]

"Zwei Drittel (66 %) der erwachsenen Internetnutzer:innen in Deutschland erwarten von den Nachrichtenmedien, dass diese ihnen verschiedene Perspektiven zu aktuellen Themen bieten, doch weniger als die Hälfte (43 %) sieht diese Leistung als gut erfüllt an",

beginnt die PM mit Kritik an den Medien. Zu ihren "wichtigsten Ergebnissen" zählt die Studie (S. 5 des PDFs) dann noch, dass es mit dem Nachrichteninteresse wieder aufwärts geht. Der "Abwärtstrend" der vergangenen Jahre sei gestoppt; statt 52 Prozent wie 2023 interessierten sich nun "55 Prozent der erwachsenen Internetnutzer in Deutschland" wieder "überaus oder sehr" für Nachrichten. Weder aufwärts, noch (immerhin) abwärts geht es mit dem Vertrauen in die medial vermittelten Nachrichten. Das heißt, der 2023 erreichte "niedrigste Wert, seitdem die Frage 2015 erstmals ... aufgenommen wurde" gilt unverändert weiter:

"43 Prozent der erwachsenen Internetnutzer:innen in Deutschland sind der Ansicht, man könne dem Großteil der Nachrichten in der Regel vertrauen".

Eine Zusammenfassung zu hören gibt's beim Deutschlandfunk (illustriert mit einer besser erkennbaren, blonden Nutzerin eines wohl nicht von Apple hergestellten Geräts, bei der es sich aber nicht um die befragte Forscherin Julia Behre handelt). Der DLF fragt dann erst mal, welchen Medien denn vertraut wird. Das seien vor allem öffentlich-rechtliche, "Tagesschau" und "heute". "Medien, denen eher nicht vertraut wird", seien "'Bild', aber auch Online-only-Anbieter wie web.de und T-Online", sagt Behre. Erst später im Kurzinterview geht's um das in der Pressemitteilung einleitend erwähnte Perspektivenvielfalt-Problem. Die naheliegende Frage, ob Perspektivenvielfalt nicht in allererster Linie Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Medien wäre (zu deren Auftrag sie gehört und aus deren Finanzierung niemand aussteigen kann), wohingegen privatwirtschaftliche Medien das ja halten können, wie sie wollen, streift der Deutschlandfunk aus seiner sehr öffentlich-rechtlichen Perspektive allenfalls indirekt.

Eine andere Perspektive ("Leser wünschen sich Perspektiven") wählt die "FAZ". Und aus österreichischer ("Das Vertrauen in Nachrichtenmedien sinkt weiter auf einen Tiefststand. Im internationalen Vergleich liegt Österreich mit 35 Prozent Vertrauen auf Platz 27") berichtet der "Standard", der sich zugleich freut, mit dem ORF selber zu den "vertrauenswürdigsten Medienmarken" Österreichs zu gehören.

Weil ein bisschen Spaß ja auch sein muss: Einen aufschlussreichen Fun-Fact übermittelte ebenfalls gestern der Branchenverband Bitkom. "In drei Viertel (77 Prozent) der deutschen Unternehmen kommt das Fax noch immer zum Einsatz". Ja, "jedes vierte Unternehmen (25 Prozent)" faxt sogar noch "häufig oder sehr häufig". Zwar geht die Faxgeräte-Nutzung zurück, aber nicht so stark wie die des linearen Fernsehens als Hauptnachrichtenquelle (also nach Bredow/Leibniz/Reuters). Wobei es natürlich unwissenschaftlich wäre, beide Datensätze 1:1 nebeneinander zu legen. Außerdem besäßen "digitale Faxgeräte" ("übertragen die Daten mit speziellen Faxprotokollen über das Internet statt wie ursprünglich über Telefonleitungen") tatsächlich Vorzüge ... 030 27576-409 lautet übrigens die Faxnummer der Bitkom-Geschäftsstelle (die aber auch per E-Mail zu erreichen wäre).

EU-Digitalpolitik: Metas KI, Chatkontrolle

Was wird aus der EU, wenn der in Deutschland und Frankreich gern beschworene Motor, die Regierungen Frankreichs und Deutschlands, sich im kurzfristigst anberaumten Neuwahlen-Wahlkampf befinden bzw. alle Hände voll zu tun haben, ohne Neuwahlen bis zum Legislatur-Ende durchzuhalten?

Tatsächlich hat die EU-Digitalpolitik sozusagen einen Erfolg erzielt, und zwar indem der Facebook-Instagram-Konzern Meta die EU-Digital-Gesetze anerkennt. Also vorläufig darauf verzichtet, sämtliche europäischen Nutzerdaten als KI-Trainingsmaterial zu verwenden (Altpapier). Offenbar haben die NOYB-Beschwerden gefruchtet, meldet spiegel.de:

"Der Facebook-Mutterkonzern Meta schiebt nach Widerstand von Datenschützern und Aktivisten den Start seiner neuen KI-Software in Europa auf. Auslöser ist letztlich die Forderung der für Meta in der EU zuständigen irischen Datenschutzbehörde, die KI-Modelle vorerst nicht mit öffentlich verfügbaren Beiträgen von Facebook und Instagram zu trainieren."

Das gelte freilich "zunächst" und "vorläufig". Der Meta-Konzern argumentiert mit den üblichen Relevanz-Erlebnis-Phrasen ("Ohne das Anlernen mit lokalen Inhalten würde man den Menschen in Europa 'nur ein zweitklassiges Erlebnis' bieten können ...").

Womöglich erzielt die EU-Digitalpolitik am morgigen Mittwoch noch einen Erfolg, indem sie "auf den letzten Drücker" doch noch "eines der umstrittensten Überwachungsprojekte" beschließt, berichtet Svenja Bergt in der "taz". Wer den eben genannten Erfolg gegen Meta begrüßt, dürfte diesen anderen Beschluss also kritisieren. Es geht es um das, was Kritiker Chatkontrolle nennen, während die EU erst von "Client-Side-Scanning" sprach und nun von "Upload Moderation" sprechen. Dabei handelt es sich aber um genau dasselbe in einer neuen Mogelpackung, erläutern bei netzpolitik.org die (US-amerikanische, aber nichtkommerzielle) Signal Foundation und der Chaos Computer Club. Und ein frisches Warn- bzw. Protestschreiben von allerhand Politikern liegt vor (siehe z.B. n-tv.de).

Wobei zur Gemengelage gehört, dass dieser Plan, wenn der Rat (also die aktuell amtierenden Regierungschefs der Mitgliedsstaaten) sich geeinigt hat, in den Trilog geht, also in Verhandlungen mit der EU-Kommission und dem EU-Parlament. Und da haben sich die Besetzung bzw. die Mehrheiten sowieso geändert bzw. tun dies gerade – eher nicht im Sinne der Chatkontrollen-Kritiker.

Was geht in der deutschen Rundfunkpolitik?

In der deutschen Medienpolitik findet am Mittwoch auch 'ne Sitzung statt. Da tagt die Rundfunkkommission wieder, die alle – wenn überhaupt, dann spät – fallenden Entscheidungen der Bundesländer-Medienpolitik vorformuliert. Nah dran an der Kommission ist wie immer Helmut Hartung von der "FAZ". Es soll "ein erster Entwurf möglicher Reformmaßnahmen, die in drei Arbeitsgruppen über Monate erarbeitet worden sind, beschlossen werden". Die "FAZ"-Medienseite (Abo) zitiert Textbausteine aus unterschiedlichen Staatskanzleien, die wie immer klingen, listet aber auch allerhand Punkte auf, die kontrovers diskutiert werden dürften. Z.B.:

"Der Auftrag, 'alle zu erreichen', hat zu einer überflüssigen Schwemme an Podcasts sowie zu einer Überpräsenz auf allen nur denkbaren Plattformen geführt. Diesem Wildwuchs muss ein staatsvertraglicher Riegel vorgeschrieben werden."

Ein Beschluss, dass es nicht zur Entwicklungsgarantie der Öffentlich-Rechtlichen gehört, jegliche Datenkraken-Plattform mit beitragfinanzierten Originalinhalten aufzuwerten, wäre tatsächlich nicht schlecht. Außerdem könnte eine Obergrenze für Sportrechte-Kosten beschlossen werden, vielleicht doch noch "die Schaffung einer ständigen Geschäftsstelle" der ARD, "um die Verwaltung und technische Entwicklung effektiver zu machen", und auch, ob ein "Gremium mit Kontroll- und Entscheidungsbefugnissen" für das ARD-Hauptprogramm "Das Erste" und für die ARD-Mediathek kontrollieren soll. Zwar gibt es ja für alle Rundfunkanstalten Rundfunk- und Verwaltungsräte, dank der komplexen Arbeitsgemeinschafts-Strukturen für die eigentliche ARD aber keine.

Unter Zeitdruck steht auch die Rundfunkkommission – wegen des zähflüssigen Procederes, wenn die Ministerpräsidenten im Herbst was beschließen sollen, sowieso. Und erst recht, weil sich nach den Landtagswahlen im Herbst gemeinsame Nenner noch schwerer zu finden sein dürften ... Bei so einigen der eben genannten Themen spielt noch mal der Bericht des ehemaligen Zukunftsrats eine Rolle. Ein frischer anderer Bericht dürfte nun auch mit reinspielen.

Zwar ist der am Freitag nicht-öffentlich vorgestellte Abschlussbericht des Brandenburger Landtags-Untersuchungsausschusses zu den RBB-Affären noch geheim. Aber die Brandenburgs Ministerpräsident Woidke dürfte ihn seinen Kollegen zugeschickt haben. Und Springers "Business Insider" (Abo) sowie Madsacks

"Märkische Allgemeine" (Abo), die am Untersuchungsausschuss-Standort Potsdam erscheint, haben den "rund 1000 Seiten umfassenden" Text auch schon ausgewertet. Frei online zitiert Joachim Huber im "Tagesspiegel" draus.

Erwartungsgemäß klingt's "harsch" ("MAZ"). Der RBB habe Glück gehabt, dass Intendantin Schlesinger noch rechtzeitig stürzte:

"Nach der Kostenexplosion beim Bauprojekt eines Digitalen Medienhauses (DMH), das den RBB in den Ruin hätte treiben können, versteckten sich die Mitverantwortlichen offenbar hinter der angeblichen Allmacht der früheren Senderchefin",

heißt's im "BI". Dieser Vorwurf gilt sowohl den im RBB mit steigenden Gehältern, Boni und Ruhegeld-Ansprüchen blendend versorgten hauptberuflichen Verantwortlichen wie auch dem ehrenamtlichen Kontrollgremium. Der Bericht spricht von "Selbstmarginalisierung" des Verwaltungsrats. Woran freilich nicht der gesamte Verwaltungsrat schuld sei:

"Die für die Rechtsaufsicht über den RBB zuständige SPD-geführte Potsdamer Staatskanzlei kommt im Abschlussbericht alles in allem gut weg. Es habe bei der Rechtsaufsicht keine Anhaltspunkte für gravierende Rechtsverstöße vor Bekanntwerden der Missstände beim RBB gegeben",

zitiert die "MAZ". So scharf der von der Brandenburger Regierungs-Koalition bestimmte Landtags-Ausschuss auch Kritik übt, die Brandenburger Regierungs-Koalition ist nicht betroffen – auch das erwartungsgemäß. Der Prozess RBB vs. Schlesinger wird im November vielleicht mehr klären. Hoffentlich gelingt es der Medienpolitik wenigstens, aus dem RBB-Desaster sinnvolle Lehren für die Zukunft zu ziehen (und diese dann auch zu beschließen).


Altpapierkorb (Desinformation, Gershkovich, Sheinbaum, Neues Sommermärchen? "Sag nix, was nicht viral gehen kann.")

+++ Beruf mit Zukunft? Medienwächter (Altpapier). Nun hat auch "die von Bundesinnenministerin Nancy Faeser ... angekündigte Stelle zur Erkennung von aus dem Ausland gesteuerter Desinformation ... ihre Arbeit aufgenommen. ... Künftig sollen bis zu 20 Personen dort daran arbeiten, Manipulationsversuche zu erkennen und zu warnen", meldet "epd medien".+++

+++ Übler Termin am Mittwoch kommender Woche: Unter Ausschluss der Öffentlichkeit soll dann im russischen Jekaterinburg der Prozess gegen den eingekerkerten US-amerikanischen Reporter Evan Gershkovich beginnen ("FAZ").+++

+++ Einst Tageszeitung, und zwar solange sie (bis 2023) erschien, älteste noch bestehende der Welt, dann nicht seehr echtzeit-aktuelles Internetportal, künftig aber auch wieder Printausgabe, und zwar immerhin "mehrmals pro Jahr erscheinen"-d: Das ist das Schicksal der "Wiener Zeitung" ("Standard"). +++

+++ "'Berlin ist heiß, die Fanmeile ist heiß', sagen die Kommentatoren – man kann es schon am ersten Tag nicht mehr hören. Oder auch diesen Satz: 'Die Frage hat die Nation in den letzten Wochen bewegt: Gibt es ein neues Sommermärchen?'" Rüdiger Suchsland hat sich für "Telepolis" die erschöpfende Fußball-EM-Berichterstattung aber dennoch angesehen (und -gehört). +++

+++ Mit der ersten Präsidentin Mexikos, Claudia Sheinbaum, verbinden sich unter anderem Hoffnungen auf mehr Medienfreiheit und weniger Journalistenmorde. Allerdings hatte ihr Vorgänger Obrador, als er 2018 antrat, auch schon versprochen, dass es keine Journalistenmorde mehr geben werde ("taz"). +++

+++ Ebendort hatte dann noch Friedrich Küppersbusch die bislang ultimative Einschätzung zur Frage, ob die in Deutschland bislang, bei "Bild" künftig nicht mehr übliche nachträgliche Autorisierung von Interviews gut ist: Inzwischen "filmt die Bild eh jedes Interview und denkt nicht mehr zuerst an die Print-Verwertung. Die PolitikerInnen sind begierig auf Bewegtbild, am liebsten 7 Sekunden Clickzeug für TikTok. Die Autorisierung wird ins Sprachzentrum der Interviewgäste verlegt: Sag nix, was nicht viral gehen kann." +++

Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.